„Ich glaube, mein Kind nimmt Drogen …“

Wenn Eltern den Verdacht haben, dass ihr Kind Drogen konsumiert, sind sie oft unsicher, was zu tun ist. Viele Eltern zögern, sich Unterstützung zu holen. Philip Nielsen ist Psychotherapeut FSP und Leiter des Zentrums „Phénix Mail“ in Genf, einem der fünf Zentren der Stiftung Phénix. Im Interview mit Sucht Schweiz hat er Antworten auf Fragen, die viele Eltern beschäftigen.

Was sagen Sie Eltern, die zögern, sich Unterstützung zu holen?

Folgen Sie Ihrem Bauchgefühl. Sie kennen Ihr Kind besser als sonst jemand. Wenn sich Ihr innerer Alarm einschaltet, wenn Sie das Gefühl haben, dass es Ihrem Kind nicht gut geht, hören Sie auf sich! Und verlieren Sie keine Zeit damit, Beweise zu suchen, dass Ihr Kind Cannabis oder etwas anderes konsumiert, bevor Sie sich an eine Fachstelle wenden.

Wie geht es den Eltern, die sich an Sie wenden?

Oft fühlen sie sich erschöpft. Viele haben das Gefühl, versagt zu haben. Manche schämen sich sogar. Wir versuchen, diese Eltern bestmöglich zu entlasten. Wir wertschätzen auch, was sie schon getan haben. Oft sind ihre Ideen gut, auch wenn es nicht funktioniert hat. Man muss also nicht alles neu erfinden, vielleicht kann man auf dem aufbauen, was schon begonnen wurde.

Wie reagieren Sie auf die Gefühle der Eltern, versagt zu haben, und auf deren Schuldgefühle?

Diese Gefühle sind sehr verbreitet und können sehr lähmend sein. Wir begleiten die Eltern aus diesen Gefühlen heraus. Wir unterstützen sie dabei, neue Energie und neue Wege zu finden. Niemand hat bessere Möglichkeiten als die Eltern, ein Kind positiv zu beeinflussen. Davon sind wir überzeugt. Wir arbeiten eng mit den Müttern und Vätern zusammen, damit diese wieder eine harmonische Beziehung zu ihrem jugendlichen Kind finden können.

Wie läuft ein erstes Treffen ab? Wer muss dabei sein?

Bei uns werden die Eltern von einem Familientherapeuten oder einer Familientherapeutin empfangen. Natürlich wäre es für eine erste Konsultation gut, wenn sowohl der oder die Jugendliche wie auch beide Eltern gemeinsam kämen – beide Eltern auch dann, wenn sie getrennt leben. Aber das ist nicht immer möglich. So erstaunlich das klingen mag: Das Wichtigste ist, dass die Eltern da sind. Für die Therapierenden ist es wichtig, zu den Eltern eine gute Verbindung zu haben. Die Eltern sind die wichtigsten Personen, wenn es darum geht, ein Kind zu unterstützen.

Man kann also zur Beratung kommen, auch wenn das Kind nicht mitkommen will?

Ja. Man darf mit diesem Schritt nicht warten, bis der oder die Jugendliche Lust hat, eine Therapie zu machen. Therapien, die mit Druck der Eltern stattfinden, sind genau so wirksam wie diejenigen, bei denen Jugendliche freiwillig mitmachen. Wenn die Eltern zuerst ohne ihr Kind kommen, beginnen wir die Arbeit mit ihnen. In 90% der Fälle wird auch ihr Kind früher oder später dazu stossen.

In manchen Situationen ist zwischen Eltern und Kind keine Kommunikation mehr möglich…

Richtig. Diese Kommunikation wieder herzustellen, ist eine wirklich große Aufgabe. Die Eltern versuchen es, fühlen sich aber in dieser Suche nach Dialog oft abgewertet, weil das Kind sich – manchmal arrogant – verweigert. Es braucht dann andere Zugänge. Die Eltern müssen manchmal sogar heftig intervenieren und sagen: Du hast keine Wahl, es gibt hier keine Diskussion.

Welche Rolle haben Eltern in der Therapie?

Im Gegensatz zu den Situationen des gelegentlichen Freizeitkonsums, gibt es in Situationen mit eigentlicher Abhängigkeit oft einen Gefühls- und Beziehungsaspekt. Der Konsum von Cannabis kann bei den Jugendlichen zum Beispiel ein Regulator für ihre Wut auf die Eltern sein. Sie konsumieren, bevor sie nach Hause kommen, weil sie wissen, dass die Eltern mit ihnen schimpfen werden, oder um zwischen sich und die Eltern einen Filter zu legen. Wir arbeiten an diesem Aspekt. Ich kann dann den Jugendlichen auch sagen, dass nicht nur sie eine Veränderung in Angriff nehmen müssen. Auch die Eltern werden an sich arbeiten müssen.

Was sollen Eltern oder Geschwister tun, wenn der/die Jugendliche gegen sie gewalttätig wird?

Ich empfehle ihnen, sich so schnell wie möglich an eine Beratungsstelle zu wenden, die auf familiäre Gewalt spezialisiert ist, damit man Schutzmaßnahmen ergreifen kann.
Das kann unter Umständen auch bedeuten, dass gegen das Kind Anzeige erstattet wird. Das Vorgehen ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Für Minderjährige wird die Justiz eher erzieherische als strafende Massnahmen anordnen, z. B. in Form einer Therapie.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Was Sie sich merken sollten:

  • Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl. Sie kennen Ihr Kind besser als sonst jemand.
  • Warten Sie nicht, bis Sie Beweise haben, dass Ihr Kind konsumiert, bevor Sie etwas unternehmen.
  • Warten Sie nicht darauf, dass Ihr Kind Lust hat, bei einer Therapie mitzumachen. Therapien unter „Zwang“ funktionieren bei Jugendlichen genauso gut wie freiwillige Therapien.
  • Auch wenn es nicht funktioniert hat: Was Sie bisher getan haben, war sicher nicht falsch.

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