Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Ist es eine Sekte?

„Meine Tochter und ihr Mann gehen in eine Gemeinde, in der ganz wilde Theorien verbreitet werden, wie etwa, dass Krankheit allein durch Unglauben entsteht. Die Leitung tritt auch sehr autoritär auf. Mein Mann und ich sehen das alles kritisch und haben Sorge, dass sie da in was Schlimmes hineingeraten sind. Was können wir tun?“

Manchmal ist es ja eine Geschmackssache, wenn einem etwas an anderen Gemeinden missfällt. Unsere religiös vielfältige Gesellschaft präsentiert uns eine breite Angebotspalette unterschiedlicher Möglichkeiten, Glauben zu leben. Neben den beiden großen Konfessionen und neben den Freikirchen treffen wir auf zahlreiche unabhängige Gemeindeneugründungen.

Wer sich in unserem Pluralismus eher unsicher fühlt, bevorzugt eine strenge Gemeinschaft mit klaren Vorgaben und dezidierter Leitung, die genau festlegt, wie man als Christ zu leben hat, meist kombiniert mit einer sehr strengen Ethik und Gemeindezucht. Wer dagegen geistliche Erlebnisse und Erfahrungen sucht, findet dies im pfingstlich-charismatischen Spektrum mit modernen Gottesdiensten und Lobpreiskultur.

SCHATTENSEITEN

Aber diese Vielfalt und ihre Wahlmöglichkeiten haben auch ihre Schattenseiten. Statt klarer Orientierung trifft man auf Härte und Gesetzlichkeit. Oder geistliche Erlebnisse werden manipuliert und inszeniert. Statt Freiheit zu erleben, gerät man unter Druck und in Abhängigkeit.

Möglicherweise ist das in dieser Gemeinde auch der Fall. Dann ist es ja nicht nur eine Geschmackssache. Dass dunkle Erfahrungen von Leid und Krankheiten sehr schnell und viel zu einfach auf mangelnden Glauben zurückgeführt werden, hat mit Jesu befreiender Botschaft nicht viel zu tun. Oder dass Leitungspersonen nicht mehr kritisiert werden dürfen, sich in apostolischer Vollmacht sehen, blendet unsere menschliche Begrenztheit aus und setzt Menschen an Gottes Stelle.

IN KONTAKT BLEIBEN

Was kann man tun, außer darauf hinzuweisen und vor solchen problematischen Lehren und Praktiken zu warnen? Schließlich bedeutet Religionsfreiheit auch die Freiheit, sich unglücklich zu machen. Wir sind zum Glück nicht ganz hilflos. Das Wichtigste ist: Lassen Sie den persönlichen Kontakt nicht abreißen! Aber kritisieren Sie die neue Gemeinde möglichst wenig, sondern ermuntern Sie die beiden, zu erzählen. Und dann stellen Sie Ihre eigenen Erfahrungen und Deutungen daneben – nicht dagegen! Und lassen Sie Gefühle zu! Oft wird in den wirklich problematischen Gemeinschaften nicht nur ein bestimmter Glaube, sondern auch ein normiertes Erleben gefordert. Gefühle zuzulassen und sich darüber auszutauschen, stärkt nicht nur Ihre Beziehung, sondern lässt auch die neue Gemeinde nochmal in einem anderen Licht erscheinen. Und vielleicht entsteht auch eine gesunde kritische Haltung. Beten Sie, wenn Sie mögen, auch miteinander. Und vertrauen Sie auf Gottes bewahrendes Handeln.

Andreas Hahn ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und Sekten- und Weltanschauungsbeauftragter der westfälischen Landeskirche. Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com