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„Ich habe mein Kind verkorkst!“

Dass Eltern Fehler machen, ist ganz normal. Aber manchmal rutschen Eltern und Kinder in einen unguten Kreislauf, der sich über die Jahre verstärkt. Da herauszukommen, kann mühsam sein. Stefanie Diekmann berichtet von einer Beratungserfahrung.

Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Als Claudia diesen Satz ausgesprochen hat, schaut sie mich erschrocken an. Schnell schiebt sie hinterher: „Eigentlich ist mein Mann schuld. Puh, das klingt auch so hart. Er hatte bei unseren Kindern viel Angst und ich habe unter seinem Druck dafür gesorgt, dass kein Weg zum Volleyballtraining oder Musikunterricht ohne meine Begleitung passiert. Und dass sie nur mit ausgewählten Kindern spielen. Die ständigen Diskussionen mit ihm über die möglichen Gefahren haben mich mürbe gemacht. Das sehe ich jetzt. Und jetzt ist es zu spät. Rahel ist nun 17 Jahre alt – und irgendwie verkorkst.“ Claudia ringt um Worte. Sie tastet sich an dieses fast unaussprechliche Gefühl heran.

Rahel wirkt auf Außenstehende sanft und klug. Zu Hause nehmen ihre Eltern sie aber als unausgeglichen und missgelaunt wahr. Schon immer haben ihre Hände besonders besitzergreifend nach Claudia gegriffen und sie gefordert. Ganz anders als die Kleinkinder ihrer Bekannten hatte sie viele Probleme: Schlafen nur auf dem Bauch der Eltern, Essensverweigerung, wenig Sprachentwicklung. Wenn Claudia von einer schweren Nacht mit ihr berichtete, kommentierten die anderen im Spielkreis nicht selten: „Na, was hat Rahel denn diesmal?“ Eigentlich nichts, und doch ließ Claudia sie immer wieder vom Kinderarzt durchchecken: Sie war und ist kerngesund. Vielleicht gibt es so etwas wie „alltagskompliziert“?

Immer unsicherer

Als Grundschülerin war Rahel in vielen alltäglichen Dingen hilflos. Kleinigkeiten wie das Einlegen der CD in den Kinder-CD-Spieler wurden zu einem Problem. Ihre jüngere Schwester hatte diese Hürde bereits genommen, aber Rahel stand immer noch jammernd neben der Mutter und brauchte Hilfe. Auch die Hausaufgaben waren während der kompletten Schulzeit ein Bereich voller Emotionen und Kämpfe. Claudia hat unzählige Stunden mit ihr am Esstisch verbracht. „Keine Idee meiner Freundinnen half, um sie zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren. Sie jammerte und brauchte ständig meine Hilfe.“

Aber immer, wenn Claudia eine Idee für eine Loslösung hatte und umsetzen wollte, kam ihr Mann mit seinen Sorgen und Bedenken dazwischen. Rahel allein auf die Klassenfahrt schicken? Niemals! Also fuhr sie als Betreuerin mit. Rahel allein in den Schwimmverein lassen? Niemals. Also schwamm sie neben dem Trainingsbecken im Kinderbecken herum. Je älter Rahel wurde, desto unsicherer und unselbstständiger wurde die Jugendliche. Sie begann, leise und undeutlich zu sprechen und ihre Schultern nach vorn zu ziehen. Mit dieser angespannten Grundhaltung gelang es ihr nicht, Freundinnen zu finden.

Immer genervter

Natürlich hat Claudia sich Gedanken gemacht über ihr Verhalten. Sie hatte wohltuende Gespräche mit dem Kirchenseelsorger. Sie spürte aber, dass eine wirkliche Veränderung Kraft kosten würde. Claudia erinnert sich, dass sie sich von ihrem Alltag zwischen Kindern, Minijob und Kirchenmitarbeit so eingespannt fühlte, dass sie für das Thema „Rahel“ ganz kraftlos war. Sie zog sich immer mehr zurück. Sie half Senioren und anderen Familien mit praktischer Unterstützung, aber Rahel und den möglichen Lösungsideen für ihre Situation ging sie aus dem Weg.

Stattdessen wurde sie immer sensibler und genervter in Bezug auf ihre Tochter. Sie konnte schon an Rahels Seufzen erkennen, dass diese keinen einzigen Waffelteig im ganzen Internet finden konnte. „Um diese Alltagshürden nicht miterleben zu müssen, habe ich fix den Waffelteig selbst gemacht. Das Drama darum hat mich so genervt.“ Die Aggressionen in Claudia wachsen, je älter Rahel wird. Eine Jugendliche, deren Alltag scheinbar nur aus Hürden besteht und die ständig jammert, kostet Kraft. Dieser Kreislauf der Kraftlosigkeit hat Rahel in einen Kokon aus Überregulierung eingesponnen. Beide Eltern haben ihr immer weniger zugetraut und zugemutet.

Wendepunkt

Mit etwas Abstand und zunehmender Kraftlosigkeit wuchs bei Claudia das Gefühl, „falsch“ zu sein: als Mutter, als Familie, als Lebensraum für Rahel. „Ich spüre mein Versagen. Dass ich mich der Verantwortung entziehe. Wir brauchen einen Wendepunkt.“ Im Nachdenken erinnert sie sich an die Gespräche mit dem Seelsorger: Der Wert eines Menschen bleibt in Gottes Augen hoch – unabhängig von seinem Verhalten. Was sich für die Eltern als „verkorkst“ anfühlt, kann zu einem Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung werden. Das will Claudia angehen. Ab heute. Für jeden aus der Familie.

Während Rahel zu einem Personal Trainer geht, um ihre Körperpräsenz zu verbessern und an ihrem Stimmvolumen zu arbeiten, stehen auch Claudia und ihr Mann vor Entwicklungsaufgaben. Seinen Ängsten will Claudias Mann mit der Hilfe eines Facharztes die Stirn bieten. Warum er erst jetzt den Mut dazu hat, ist Claudia nicht klar. Vielleicht, weil sie sich bewusster positioniert und ihrem Mann zumutet, die Last seiner Ängste allein zu tragen. Sie will nicht mehr Sprachrohr seiner Sorgen sein. Claudia sucht ihren eigenen Standpunkt und wird in diesen ersten Schritten durch eine Kleingruppe der Kirche bestärkt. Täglich formuliert sie ein Gebet, um die Verantwortung für ihre Familie an Gott zurückzugeben. „Ich bin dadurch eher bereit, hinzusehen und mich nicht wegzuducken“, erklärt sie. Freundinnen haben Claudia immer wieder ermutigt, Rahel mehr zuzutrauen. Wahrzunehmen, was Rahel gelingt. Claudia beginnt zu strahlen, als sie von Rahels erstem kleinen Job erzählt. Ein Mutlächeln erleuchtet ihr Gesicht. Sie wird ihre Tochter begleiten und ihr ins Leben helfen. Auch wenn das gesamte Internet wieder mal leer ist, wenn Rahel Waffeln backen will.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

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