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Paartherapeut: Schon zehn Minuten pro Tag helfen der Beziehung

Im Alltagsstress bleibt oft keine Zeit für viel Zweisamkeit. Aber Paartherapeut Jörg Berger ist überzeugt: Es reichen auch die kleinen Gewohnheiten.

Drei Megatrends lenken uns von dem ab, was unsere Liebe aufbaut. Wir haben uns an sie gewöhnt und doch beeinflussen sie unser Leben:

Gestiegene Anforderungen. Manchmal führe ich mir vor Augen, was meine Eltern leisten mussten, um gegenüber der Schule und dem Sportverein als „gute Eltern“ dazustehen. Ich würde sagen, meine Frau und ich müssten heute das Dreifache leisten, um die Erwartungen in gleicher Weise zu erfüllen. Ich werde neidisch, wenn ich höre, wie ältere Kollegen vor 30 Jahren gearbeitet haben, und höre ähnliche Geschichten von Menschen in anderen Berufen. Natürlich ist heute auch vieles besser. Gleichzeitig führen wir unser Leben in einem Tempo, für das wir nicht geschaffen sind.

Höhere Ansprüche. Produkte und Erlebnisse treffen heute jeden Geschmack. Noch mehr als die Produktpalette hat sich aber unsere Möglichkeit verbessert, uns zu informieren und genau das zu finden, was zu uns passt. Der Urlaub wird perfekt, wenn wir nicht ins Reisebüro gehen, sondern ihn nach einer tagelangen Internetrecherche zusammenstellen. Gleichzeitig nimmt unsere Fähigkeit ab, mit einem durchschnittlichen Erlebnis glücklich zu sein. Wir sind beinahe gezwungen, den Aufwand zu betreiben, der zu dem Produkt oder Erlebnis führt, das wirklich zu uns passt.

Google und Facebook fressen Stunden unseres Lebens

Die Macht der Aufmerksamkeitsindustrie. Warum noch mal sind Unternehmen wie Google und Facebook Milliarden wert? Ja, sie wollen unsere Daten. Doch letztlich bezahlen wir mit unserer Aufmerksamkeit, nämlich jener, die wir der Werbung widmen. Je länger uns digitale Unternehmen an ihre Anwendungen binden, desto besser funktioniert ihr Geschäftsmodell. Die Nutzungsstatistiken von Facebook, WhatsApp oder YouTube zeigen, wie gut das gelingt: Stunden unserer Aufmerksamkeit schenken wir digitalen Medien. So nützlich viele Anwendungen sind, verlieren wir durch sie doch Zeit für unser übriges Leben.

Zwar gibt es längst Gegentrends der Vereinfachung und digitaler Enthaltsamkeit. Doch die meisten von uns finden sich in einem Leben vor, das mehr Zeit und Aufmerksamkeit bindet, als wir eigentlich haben. Hier setzen die sogenannten Mini Habits an: Sie beginnen so bescheiden, dass ein guter Vorsatz auch in einem Alltag voller Ablenkungen bestehen kann.

Ein Beispiel: Zehn Minuten können reichen

Markus hat Lisa versprochen, den Eheabend wieder aufleben zu lassen, der nach ihrer Hochzeit so gut funktioniert hat. In manchen Wochen hat er schlicht nicht daran gedacht, weil so unglaublich viel los war. In anderen Wochen hat er ihn sich fest vorgenommen. Doch als er abends das Wichtigste erledigt hatte, war es für beide schon zu spät.
„Dann nehmen wir uns einen ganzen Nachmittag am Wochenende“, will Markus schon vertrösten, aber Lisa rollt nur mit den Augen. „Ok“, gesteht Markus ein, „ist vielleicht unrealistisch an diesem Wochenende.“ Markus hat von den Mini Habits in einem Gespräch mit einem Freund gehört. Was könnte das für einen Eheabend heißen? Eine ganz kleine Gewohnheit? Vielleicht Lisa jeden Tag zehn Minuten mit voller Aufmerksamkeit zuhören und ihr dann in ein paar Sätzen Anteil geben, was ihn beschäftigt?

Das hat geklappt. Markus hat eine leere Seite in seinem Kalender als Habit Tracker gestaltet und freut sich, wenn er seinen Mini-Erfolg abhaken kann. Natürlich sind aus den zehn Minuten auch schon fünfzehn oder zwanzig geworden, einmal sogar ein langes Gespräch, das durchaus als Eheabend hätte durchgehen können. Trotzdem ist es ein gutes Gefühl, wenn zehn Minuten reichen. Weil er Lisa nicht schon wieder zu viel versprechen wollte, hat Markus nichts von den Mini Habits erzählt. Vielleicht merkt sie gar nichts von seinem Einsatz? „Wie unaufmerksam“, hat Markus erst gedacht. Aber Lisa ist gerade zufriedener und zärtlicher. Sie hat sich seither nicht beklagt, dass sie gemeinsame Zeit vermisst.

Für mehr ist oft nicht die Zeit

Manchem wird dieser Ansatz wie eine Vertröstung vorkommen: Mit zehn Minuten kann sich ein Partner von seinem schlechten Gewissen freikaufen und von seiner Verantwortung, wirklich in die Beziehung zu investieren. Das beabsichtige ich natürlich nicht. Ich biete auch Ehewochenenden an mit viel, viel Zeit füreinander. Doch freitags in der Vorstellungsrunde höre ich oft Sätze wie diesen: „Wir haben schon tolle Ehewochenenden besucht. Das letzte ist allerdings 15 Jahre her – wir haben es einfach nicht mehr geschafft.“ Wo Sie trotz Ablenkungen Zeit füreinander finden: Bitte keine Mini Habits daraus machen! Aber wo Sie die Erfahrung lähmt, es einfach nicht zu schaffen, da beginnen Sie doch klein.

Eine Berührung am Tag schenken

Manches lässt sich leicht in Mini Habits verwandeln: Umarmungen und andere Alltagszärtlichkeiten; wertschätzende Worte; kleine Zeichen von Ermutigung, wenn der andere im Stress ist, zum Beispiel ein paar liebe Zeilen, mal aufs Kopfkissen, mal auf den Schreibtisch, mal auf den Frühstückstisch; treu eine ungeliebte Aufgabe erledigen, etwa den Müll rausbringen; bei einem Kind beharrlich an einem Erziehungsziel dranbleiben (ihr Kind ist froh, wenn das Gespräch darüber nicht länger als fünf Minuten dauert); eine persönliche Macke abstellen (fünf Minuten Selbstbetrachtung – „Habe ich sie heute ausreden lassen?“ – und ein Stoßgebet).

Sophia zum Beispiel stellt Nähe eher über Gespräch und gemeinsame Unternehmungen, weniger über Zärtlichkeit. Aber Lars braucht einfach Berührungen. Eine Umarmung oder ein kurzes Schmusen würde einen großen Unterschied machen, aber weil es nicht ihre Liebessprache ist, vergisst Sophia es oft. Sie kann sich vornehmen, Lars einmal am Tag eine Berührung zu schenken. Ihre Liste zum Abhaken, ihren Habit Tracker, legt sie in die Gute-Nacht-Lektüre am Bett. Dann kann sie die kleine neue Gewohnheit entweder abhaken oder noch nachholen.

Sex in fünf Minuten?

Aber was ist mit größeren Dingen? Sex oder ein Spaziergang in fünf Minuten? Auch das geht, aber es geht kaum, ohne mit dem Partner darüber zu reden. Für manche Paare funktioniert zum Beispiel eine Verabredung zu fünf Minuten erotischem Kuscheln am Abend, das mehr werden kann, aber nicht muss. Für andere wäre es schwer erträglich, Lust zu bekommen oder zu machen, ihr dann aber nicht immer Raum zu geben. Wenn das nicht geht, wo liegt dann ein noch kleineres erotisches Ritual, das nicht mehr weckt, als nach fünf Minuten wieder wegzuatmen wäre? Da findet sich etwas, man muss nur offen und geduldig darüber reden. (Das Beispiel geht von einer Situation aus, in der sich einer mehr sexuelle Nähe wünscht und der andere sie schon fast wie eine Pflicht empfindet.)

Ein Spaziergang könnte verkleinert werden auf fünf gemeinsame Minuten auf dem Balkon oder der Terrasse oder die kleinstmögliche Runde durchs Viertel, die dann vielleicht zehn Minuten dauert. Gespräch ist nötig, weil nicht jede Verkleinerung für jeden passt. Vielleicht muss man die kleine Gewohnheit auch als Notlösung, Übergangslösung oder behutsamen Neubeginn verstehen, damit sie Freude weckt und nicht die Sorge, abgespeist zu werden.

Liebevolle Kreativität

Leider gibt es mehr innere Widerstände und praktische Komplikationen, als wir erwarten: Eine Frau schätzt vielleicht nur bestimmte Blumen, während ihr andere entschieden nicht gefallen. Außerdem wünscht sie sich nicht in erster Linie die Blumen, sondern vor allem den romantischen Moment, mit Blumen überrascht zu werden. Für ihren Mann wird aus der einfachen Aufgabe ein komplizierter Auftrag: „Was kaufe ich, wenn es keine Tulpen gibt? Was mache ich, wenn mir die romantischen Gefühle fehlen? Und was geschieht, wenn sie nicht zu Hause ist und ich mit den Blumen komme?“

Die kleine Gewohnheit könnte dann darin bestehen, jeden Tag fünf Minuten Kreativität aufzuwenden, um die Liebesmission einen Schritt voranzubringen. Tag 1: Brainstorming – wer könnte wissen, welche Blumen Karen noch gefallen?; Tag 2: WhatsApps an zwei Freundinnen von Karen schreiben; Tag 3: Überlegen: Wann wäre die nächsten Tage ein guter romantischer Moment? Plan A, B und C aufschreiben; Tag 4: Blumen kaufen und überreichen im Kalender fixieren: übermorgen; Tag 5: romantische Gefühle wecken: Hochzeitsalbum ansehen, die Top 3 zärtlicher Momente des letzten Jahres in Erinnerung rufen; Tag 6: Blumen kaufen und überreichen; Tag 7: ausführlich stolz auf sich sein und den schönen Moment in der Erinnerung nachklingen lassen. Fünf Minuten liebevolle Kreativität machen auch da kleine neue Gewohnheiten möglich, wo wir zunächst auf Hindernisse stoßen.

Große Ziele sind oft nicht zu schaffen

Wenn mir Paare ihre gemeinsamen Ziele nennen, muss ich oft sagen: „Es tut mir leid. Das schaffen Sie in dieser Lebensphase nicht.“ Viele Paare kommen nämlich in einer Zeit zu mir, in der sie beruflich und familiär sehr beansprucht sind. Nach dem ersten Schreck ist das Paar aber auch erleichtert, wir einigen uns auf bescheidenere Ziele. Der Erfolg einer Paartherapie steht und fällt mit den Anfangserfolgen. Stellen sie sich ein, steigt die Motivation und auch der Mut, Dinge auszuprobieren. Bleiben die Erfolge aus, weckt das Zweifel und Entmutigung. So geht es uns auch in unserem Liebesalltag – wir setzen uns gerne ein, aber nur, wenn wir dabei auch Erfolg haben. Das gelingt besser, wenn wir ernst nehmen, wie beansprucht und abgelenkt wir in unserem Alltag sind. Es bleibt oft nur Raum für Kleines, das aber einen großen Unterschied macht.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.

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