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Morbus Hirschsprung: Christines gerade geborener Sohn entgeht knapp dem Tod

Eigentlich wollen Christine und ihr Mann sich nur über das neue Familienglück freuen. Doch dann wird bei ihrem Sohn eine lebensgefährliche Darmkrankheit diagnostiziert.

Stuhlgang ist kein Thema, über das man gerne nachdenkt, spricht, schreibt oder liest. Es ist ein Thema, über das freche Kinder am Tisch Witze machen und Eltern sagen, es gehöre nicht dorthin. So natürlich Stuhlgang ist, so unnatürlich fühlt es sich an, darüber zu reden. Und doch beschäftigt uns seit der Geburt unseres Kindes kein Thema mehr als das. Denn unser Sohn hatte keinen Stuhlgang und wäre daran fast gestorben.

Was ist Morbus Hirschsprung?

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit Morbus Hirschsprung zur Welt kommt, liegt bei eins zu 5.000. Bei der Krankheit handelt es sich um eine Fehlbildung im Darm, die am Schließmuskel beginnt und sich von dort unterschiedlich weit den Dickdarm hochzieht. In dem betroffenen Teil fehlen die Nervenzellen, die verantwortlich sind, den Stuhl zu transportieren. Die Nahrung staut sich also vor dem kranken Teil des Darms und kann gar nicht oder nur zu kleinen Teilen ausgeschieden werden. In Deutschland werden jedes Jahr ungefähr 140 Kinder mit dieser Krankheit geboren, Jungen sind vier Mal so häufig betroffen wie Mädchen. Und eines davon war unser Erstgeborenes.

Anfangs scheint alles normal

Nach einer unkomplizierten Schwangerschaft und Geburt war ich überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass mit unserem Kleinen etwas nicht stimmen könnte. Als Frischlings-Mama konnte ich die Anzeichen nach der Geburt kaum deuten. Unser Sohn spuckte viel und wollte am zweiten Tag nicht mehr trinken. Das Personal in der Klinik beruhigte mich. Das sei völlig normal. Dass der erste Stuhlgang, das Kindspech, nicht kam, verwunderte sie mehr. Aber es klingelte immer noch keine Alarmglocke. Und als frischgebackene Familie sehnten wir uns danach, nach Hause zu kommen, den neuen Lebensabschnitt einzuläuten, die Ruhe zu genießen. Familie und Freunde an unserem Glück teilhaben zu lassen. Und so wurden wir entlassen.

„In der Nacht tat ich kein Auge zu“

Um zuhause den Stuhlgang anzuregen, nahmen wir das Thermometer als Hilfsmittel, drückten mit, massierten den Bauch – alles ohne Erfolg. Der Kleine spuckte immer mehr, die Farbe wechselte von weiß zu gelb. Ich legte ihn nachts ins Beistellbett neben mich und brachte ihn in die stabile Seitenlage. In der Nacht tat ich kein Auge zu. Viel zu viel Angst hatte ich, dass unser neugeborener Sohn ersticken könnte. Aus dem Spucken wurde Würgen. Das war doch nicht normal, oder?

Unsere Nachsorge-Hebamme schickte uns am nächsten Tag in die Kinderklinik. Wir gingen davon aus, dass der Kleine eine hartnäckige Verstopfung hat, die mit einer Spülung beseitigt werden könnte. Damit würden sich die anderen Probleme von selbst lösen. Eine vorwurfsvolle Kinderärztin in der Notfallambulanz wies unseren Sohn in die Klinik ein. Das war ein Schock für uns.

Quälende Ungewissheit

Auf Station bekam der Kleine erst eine Infusion, danach wurde sein Darm mehrmals gespült, bis das elende Kindspech endlich komplett draußen war. Es sei höchste Zeit gewesen, dass wir gekommen sind, gab uns der Arzt zu verstehen. Mein Mann und ich waren überfordert von den heftigen Gefühlswellen, die sich überschlugen: Der Schock, dass unser Kind hätte sterben können, wenn die Hebamme nicht gewesen wäre, die Sorge, wie es nun weitergehen würde, die Angst, der Verantwortung nicht gewachsen zu sein. Und dazwischen zerriss unser Herz, als wir das schrille Weinen unseres Sohnes während der Behandlung hörten.

Wir verabschiedeten uns abends unter Tränen von unserem Neugeborenen, fuhren aus der Klinik nach Hause, heulten dort weiter und kamen am nächsten Tag zurück. Und am Tag darauf. Und am Tag darauf. Nie wissend, was uns in der Klinik erwarten würde. Wie geht es dem Kleinen? Wissen die Ärzte mittlerweile, was ihm fehlt? Wann können wir endlich mit ihm nach Hause? Mein Mann und ich machten uns gegenseitig Mut daran festzuhalten, dass es sich um keine Krankheit handeln muss. Vielleicht war es einfach eine fiese Verstopfung.

Plötzlich spricht der Arzt von Lebenserwartung

Die Ärzte machten Tests, um herauszufinden, warum unser Sohn das Kindspech nicht ausscheiden konnte. Ihr erster Verdacht war die Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose. Die Krankheit lässt sich über den Salzgehalt im Schweiß feststellen. Das Testergebnis unseres Sohnes lag im Graubereich, die Ärzte wollten die Krankheit weder ausschließen noch sich darauf festlegen. Unser Kleiner musste noch einmal zum Test. Und dann noch einmal. Und immer lag das Ergebnis im Graubereich.

Wir kannten die Krankheit bis zu diesem Zeitpunkt nur vom Namen her, aber als der Oberarzt uns zu sich bat und mutmachend sagte, die Lebenserwartung sei Dank neuster Medizin nicht so kurz wie früher, mussten mein Mann und ich schlucken. Wir wollten es nicht glauben und nicht hören. Wir sprachen über die Lebenserwartung unseres Sohnes, dessen Leben gerade erst so richtig begonnen hatte?

Zurück in die Krankenstation

Währenddessen kämpfte unser Kleiner weiter und nach einer Weile schaffte er es endlich, selbstständig zu trinken. Als der Stuhlgang nach dem Spülen regelmäßig kam, wurden wir entlassen – mit einem Termin für einen weiteren Test. Zuhause ging der Horror wieder von vorne los und nach vier Tagen waren wir zurück auf der Krankenstation. Trotz Spülung hat sich dieses Mal der Zustand unseres Sohnes kaum verbessert. Er wurde schwächer und schwächer. Sein Puls war viel zu hoch, die Entzündungswerte gingen fast durch die Decke.

Ein anderer Arzt kam und mit ihm eine neue Verdachtsdiagnose: Morbus Hirschsprung. Die Kinderchirurgie wurde einbezogen, wir darüber informiert, dass unser Sohn operiert werden müsse. Der Chirurg erklärte uns, was gemacht werden muss, aber er wolle eine zweite Meinung hören und bis zum nächsten Tag warten.

„Hatte das Gefühl, ihn beim schleichenden Tod zuzusehen“

Diese Nacht war die schlimmste meines Lebens. Dem Kleinen ging es immer schlechter. Er stöhnte im Schlaf und bekam mehr und mehr Schmerzmittel. Ich hatte das Gefühl, ihn beim schleichenden Tod zusehen zu müssen. Am nächsten Tag bat der Oberarzt meinen Mann und mich in das Besprechungszimmer. Unser Sohn würde jetzt operiert werden. Der Darm sei gerissen. Ein künstlicher Darmausgang müsse gelegt werden. Der Kinderchirurg kam. Die OP finde sofort statt. Es herrsche Lebensgefahr. Ich hielt die Hand meines Mannes. Tränen liefen mir ununterbrochen über das Gesicht.

Abschied an der OP-Schleuse

Seit der Geburt unseres Sohnes fühlte sich alles an wie ein Albtraum. Die Vorstellung, wie der Start ins Familienleben sein würde und was wir tatsächlich erlebten, klaffte unendlich weit auseinander. Wir brachten unseren Sohn mit dem Arzt und zwei Schwestern zur OP-Schleuse. „Verabschieden Sie sich jetzt von Ihrem Sohn“, sagte jemand. „Bis später“, flüsterte ich ihm unter Tränen zu und streichelte seinen Kopf. Hand in Hand und unter Schluchzen gingen mein Mann und ich zurück zur Station und warteten.

Eine Stunde. Ich packte meine Sachen zusammen und pumpte Milch ab. Zwei Stunden. Ich schrieb Nachrichten an Familie und Freude: „Bitte betet für uns.“ Drei Stunden. Da kam der Kinderchirurg und sagte, die OP sei gut verlaufen. Der Darm sei nicht gerissen, auch wenn es auf dem Röntgenbild so aussah. Aber die Darmwand sei so beschädigt, dass Bakterien aus dem Darm in den Bauchraum gekommen seien und eine Infektion ausgelöst hätten. Der künstliche Darmausgang funktioniere gut, jetzt müsse sich der Kleine nur noch erholen.

Ein kleiner Schatten seiner selbst

Als wir endlich zu unserem Sohn konnten, flossen die Tränen – wieder oder immer noch, ich weiß es nicht mehr. Dankbar dafür, dass er noch lebte, ängstlich und in Sorge, ob er die kommende Nacht überstehen würde. Ganz blass lag er im Brutkasten, stöhnte im Schlaf, zuckte unkontrolliert, überall waren Schläuche und Kabel. Er war ein noch kleinerer Schatten seiner selbst.

Am nächsten Tag zeigte man uns zum ersten Mal den künstlichen Darmausgang. Ich hatte noch nie einen gesehen und keine Vorstellung davon, was uns erwarten würde. Als ich das aufgeschnittene und aufgeklappte Stück Dickdarm am Bauch unseres zarten Jungen sah, wurden meine Augen weit. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich ekelte mich. Was für eine Mutter war ich, die sich vor ihrem eigenen Sohn ekeln konnte?

Der künstliche Darmausgang ist eine Herausforderung

Unser Sohn konnte eine Woche später entlassen werden, ein Termin zur Biopsie stand einen Monat später an. Aus der Klinik rauszukommen, fühlte sich gut an. Eine Brise Normalität. Doch sich zuhause um den künstlichen Darmausgang zu kümmern, überforderte uns in der ersten Zeit. Ständig löste sich die Platte, die um den Ausgang herum am Bauch klebte und an der ein Beutel befestigt war. Ständig war unser Sohn komplett mit seinen Exkrementen beschmiert. Ständig musste er unter lautem Protest auf den Wickeltisch. Sein Schreien sorgte dafür, dass der Darm arbeitete wie verrückt. Stuhl floss regelrecht aus dem Darm und mein Mann und ich versuchten verzweifelt den Bauch sauber zu machen, damit die nächste Platte besser kleben würde. Schweißgebadet waren wir die ersten Male nach etwa 20 Minuten fertig.

Eine neue OP steht an

Doch der „Luxus“, dass wir uns gemeinsam um die Pflege kümmern konnten, würde bald aufhören. Die Elternzeit meines Mannes neigte sich dem Ende zu. Unsere Kinderärztin fragte mich: „Wie wollen Sie das denn in Zukunft handhaben?“ „Ich werde die Beutel alleine wechseln“, antwortete ich. „Das können Sie nicht schaffen. Alleine geht das nicht“, sagte die Ärztin bestimmt. Falls ich eine helfende Hand bräuchte, könnte ich jederzeit in die Praxis kommen. Als wir auf dem Parkplatz standen, fing ich an zu weinen. Wie sollte ich den Alltag mit unserem Sohn bloß bewältigen?

Wir arbeiteten uns immer mehr in das Thema ein, nicht nur, was den künstlichen Darmausgang betraf. Wir wechselten in eine Spezialklinik. Die Biopsie bestätigte den Verdacht: Unser Sohn hatte die Hirschsprung-Krankheit. Ein Termin zur Operation wurde vereinbart. Der kranke Teil des Darms sollte entfernt werden, eventuell der künstliche Darmausgang schon rückverlegt. In den Wochen vor dem Klinikaufenthalt graute mir vor dem, was auf uns zukommen würde. Es hafteten noch die schlimmen Erlebnisse aus den vergangenen Wochen an mir. Unkontrolliert brach ich manchmal unter der Dusche zusammen, ließ das Wasser mein Schluchzen wegspülen.

An Schlaf ist nicht zu denken

Der Tag der Operation kam. Wieder zur OP-Schleuse, wieder den Kleinen in die Hände der Ärzte geben. Der Warteraum vor dem OP-Saal wurde zu dem Vorhof meiner persönlichen Hölle. Irgendwie hatten mein Mann und ich es geschafft, die fast sechs Stunden rumzukriegen, die unser Sohn im OP lag. Der Anruf kam: Es lief alles gut. Wir kamen aufs Zimmer. Da der Darm so kurz nach dem Eingriff noch nicht arbeiten kann, durfte der Kleine keine Milch trinken. Infusion, Wasser, Tee – all das reichte ihm nicht. „Irgendwann geben alle nach und trinken Wasser“, wollte die Krankenschwester uns beruhigen. Unser Sohn nicht. Er schrie und schrie, mal vor Hunger, mal vor Schmerzen. Nachts war an Schlaf nicht zu denken.

Eine dritte Operation steht an

Die Visite am nächsten Tag zeigte, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein Tag sollte abgewartet werden. Wieder eine Nacht des Grauens. Und am nächsten Morgen machte der Chirurg ein ernstes Gesicht. „Ihr Sohn muss noch einmal operiert werden. Von außen können wir nicht sehen, was nicht stimmt. Im Notfall muss ihm erneut ein künstlicher Darmausgang gelegt werden“, informierte er mich. Ich schrieb meinem Mann eine Nachricht, er soll sofort kommen. Und wieder mussten wir zur OP-Schleuse. Der Eingriff zeigte, dass eine Naht sich gelöst hatte. Es wurde noch einmal genäht, der Heilungsprozess musste wieder von vorn beginnen.

40 Mal Stuhlgang am Tag

Nach zwei Wochen konnten wir die Klinik endlich verlassen. Glücklich darüber, wieder vereint zuhause sein zu können. Dass unser Sohn in den ersten Wochen täglich bis zu 30 oder 40 Mal Stuhlgang haben könnte, vermieste unsere Laune nicht. Nach all dem, was wir schon erlebt hatten, kam uns dieses Problem nicht so groß vor. Doch es wurde groß und immer größer. Nicht nur sammelten sich riesige Windelberge vor unserer Wohnung, sondern der Stuhlgang wurde nicht weniger. Nicht nach einem, nach zwei, drei, vier oder fünf Monaten. Es blieb.

Unser Sohn begann erst Brei, dann vom Tisch zu essen. Und damit begannen starke Schmerzen. Nicht nur ein dauerhaft wund-blutiger Po, sondern heftige Schmerzen beim Stuhlgang selbst. Ganz plötzlich beginnt er zu schreien, ballt seine kleinen Hände zu Fäusten und zittert am ganzen Körper. Und füllt die Windel. Wieder und immer wieder, bis zu 30 Mal am Tag.

Warum schweigt Gott?

In der Nachsorge sagte der Chirurg, dass die Phase mit dem häufigen Stuhlgang bei einem guten Verlauf schon abgeschlossen wäre. Das war keine Überraschung für uns – die „beschissene“ Phase war längst schmerzlicher Alltag geworden. Fragen brennen uns aus auf der Seele, die kein Mensch beantworten kann und zu denen Gott bisher geschwiegen hat. Wann wird es unserem Sohn endlich besser gehen? Wann fängt ein neuer Lebensabschnitt für uns drei an? Schaffen wir es, bis dahin durchzuhalten?

Zwischen den Fragen machen sich bei mir manchmal Zukunftsängste und Horrorszenarien breit. Wie steht es um die Gesundheit unseres Sohnes, wenn er in den Kindergarten kommt? Wird er sich noch in die Hose machen, wenn er zur Schule geht? Gehört er zu den wenigen Betroffenen, bei denen Morbus Hirschsprung zur Inkontinenz führt? Die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber es gibt sie. Genauso wie die Wahrscheinlichkeit, dass wenn mein Mann und ich uns für ein zweites Kind entscheiden würden, es dieselbe Krankheit hätte.

Narben, die bleiben

Ein Jahr nach der Geburt unseres Sohnes leiden wir immer noch. Wir leiden darunter, dass unser schutzbedürftiger Junge jeden Tag körperliche Qualen erleiden muss, die wir ihm nicht abnehmen können. Wir leiden darunter, dass unser Start ins Familienleben mit kräfteraubenden Klinikaufenthalten und Operationen verbunden war. Wir leiden darunter, dass unser Sohn nie die unbeschwerte Kindheit haben wird, die andere Kinder haben können.

Aber in all dem Leid sehen wir einen Jungen, der seine Schmerzen mit dem Moment vergisst, in dem sie aufhören. Der fröhlich ist, viel lacht und erzählt, schnell krabbeln gelernt hat und mittlerweile seine ersten Schritte geht. Der Alltag für uns ist und bleibt in der kommenden Zeit ein Kampf zwischen Leid und der Hoffnung, dass es eines Tages besser wird. Ich bin sicher, dass der Kampf sich lohnt – auch wenn Narben zurückbleiben werden. Und das werden sie – wie die zwei großen Narben am Bauch unseres Sohnes, hinter denen diese ganze Geschichte steckt.

Betroffene von Morbus Hirschsprung oder ähnlichen Krankheiten finden bei SoMA e. V. Hilfe: soma-ev.de.