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Paartherapeut: Eine Fähigkeit verbessert den Sex. Aber sie ist schwer zu erlernen

Um die Erotik auch bei langjährigen Beziehungen aufrechtzuerhalten, braucht es laut Jörg Berger nicht viel. Aber Paare müssen dafür etwas wagen.

„Hat seine Wirkung nicht verfehlt“, schreibt Heinz-Dieter in der Bewertung in der Shop Apotheke. Früher waren es Tollkirsche, Muskat oder auch die Tomate als „Liebesapfel“, heute heißen sie Libido Lady oder libiLoges (Heinz-Dieters Wahl). Mittel, die unser Begehren steigern oder uns sogar begehrenswerter machen – das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Gleichzeitig gibt es kaum ein Paar, das sich nicht einmal Gedanken um die Erotik in seiner Beziehung macht. Ist die Anziehung zwischen uns noch so, wie wir es uns wünschen? Ist es normal, wenn die Intensität unserer sexuellen Begegnungen nachlässt?

Tatsächlich gibt es das: Ein Liebesmittel, das unser Begehren weckt und uns begehrenswerter macht. Es wirkt biochemisch. Trotzdem können wir es in keiner Apotheke kaufen. Es ist teuer. Doch wir bezahlen nicht mit Geld, sondern mit Mut. Das Liebesmittel ist die seelische Nähe, die ein Paar wagt, ein Lebendigsein in der Gegenwart des anderen. Sie entsteht durch Offenheit. Denn allein die räumliche Nähe schafft noch keine seelische Nähe. Zwei Gefangene können sich die Zelle teilen, ohne sich nahezukommen, zwei Kranke das Zwei-Bett-Zimmer oder auch ein pensioniertes Paar den ganzen Alltag. Seelische Nähe erfordert den Mut zur Offenheit und den Mut, den Partner so willkommen zu heißen, wie er wirklich denkt, fühlt und handelt. Aber tun wir das nicht ganz selbstverständlich? Und falls nicht, warum nicht?

Was ist psychische Nähe?

Wie lange können Sie Ihrem Partner in die Augen schauen, ohne dass es peinlich wird? Wie lange können Sie den Körper des anderen einfach betrachten oder aufmerksam berühren? Und wann wird das irgendwie unangenehm? Wie offen teilen Sie Ihre Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse und Gelüste mit? Wie lange fühlen sich beide sicher, wenn Tränen fließen?

Jedes Paar reguliert seelische Nähe. Es wagt Nähe und löst sie wieder auf: ansehen und wegsehen, die Intimität eines Schweigens zulassen und durch Humor wieder vertreiben, tiefe Gefühle offenbaren und dann sagen, dass sie kein Drama sind, einem Herzensleid Raum geben und dann nach einer Lösung suchen.

Das Mittelmaß ist wichtig

Offenbar haben wir ein Gefühl dafür, wie viel Nähe gut ist. Wir sorgen dafür, dass sie nicht zu viel und nicht zu wenig wird. Wir wollen uns dem anderen nicht auf eine Weise zumuten, die vielleicht unangenehm oder bedrohlich wird. Jeder hat als Kind auch die Erfahrung gemacht, einem Elternteil mit den eigenen Bedürfnissen und Verhaltensweisen zu viel zu sein. Das hat uns geprägt. Außerdem kann Nähe bei einem selbst zwiespältige Gefühle auslösen, zum Beispiel Unsicherheit oder Verpflichtung. Wenn wir eine entspannte Zeit haben wollen, regulieren wir seelische Nähe am besten auf ein gutes Mittelmaß. Aber wir können auch mehr seelische Nähe zulassen. Das setzt stärkere Gefühle frei. Wir werden lebendiger und drücken uns tiefer aus. Das kommt auch dem Sex zugute.

Mehr seelische Nähe zulassen bedeutet allerdings auch: mehr Scham, mehr Unsicherheit und mehr Schuldgefühle erleben. Billiger bekommen wir seelische Nähe nicht. Wir können diese Gefühle aber zulassen und annehmen. Sie sind menschlich. Mit der Zeit werden wir uns immer sicherer dabei fühlen. Außerdem können wir den anderen liebevoll unterstützen, wenn sie/er sich schämt, unsicher oder schuldig fühlt. Wie das aussieht und was das ermöglicht, kann ich an einem Beispiel aus der Sexualtherapie zeigen. Ich habe es verfremdet und andere Namen gewählt.

Ein Beispiel: Von wenig Lust auf Sex zu mehr Sex

Marit lernt für Prüfungen. Sie ist gestresst und das wird noch ein paar Monate dauern. Auf Sex lässt sie sich nur ein, wenn sie sich entspannt fühlt, und das kommt gerade selten vor. Gleichzeitig fühlt sie sich schuldig, weil sie so wenig auf Svens Bedürfnisse eingeht und diejenige ist, die bestimmt, was geht und was nicht. Sven ist ausgehungert und fast immer offen für Sex. Er versucht aber, kein Begehren aufkommen zu lassen. Denn er will den sexuellen Frust nicht spüren. Außerdem will er Marit nicht bedrängen. Was würden Sie den beiden raten?

Marit und Sven haben ihre Toleranz für seelische Nähe gesteigert. Denn Marit lässt sich nun auch auf Zärtlichkeiten ein, wenn sie gestresst ist. Das entspannt sie und sie öffnet sich für Svens Nähe, wenn sie unausgeglichen ist. Der Preis ist: Marit mutet sich Seiten zu, die sie selbst an sich nicht mag, ihre schlechte Laune und Gereiztheit zum Beispiel. Sie muss außerdem manchmal dazu stehen, dass Zärtlichkeiten nicht zum Sex führen. Mehr geht dann einfach nicht. Nun schämt sie sich und fühlt sich auch schuldig: Sie hat Sven Lust gemacht und muss sich zurückziehen.

Sven kann seinen Frust und seine Ungeduld dann nicht immer verbergen. Aber für all das gibt es nun eine Erlaubnis. Es darf so sein. Sven hilft Marit sogar, sich nicht schuldig zu fühlen, Marit bejaht Svens Frust und nimmt ihn nicht persönlich. Die beiden haben nun häufiger Sex als vorher. Denn Marit nutzt auch die Vielleicht-kommt-die-Lust-ja-Situationen, nicht nur die sicheren, entspannten Abende. Doch noch wertvoller ist die gewachsene seelische Intimität. Beide bringen tiefere Gefühle in die sexuelle Begegnung ein. Sie sind spontaner und zeigen mehr von sich. Sie folgen zwar immer noch einem vertrauten Ablauf, aber durch das, was sie von sich zeigen, erleben sie es immer anders.

Zu Lust und Unlust stehen

Hier sehen wir, wie seelische Nähe – wenn wir sie wagen – den Sex belebt. Je mehr wir in der sexuellen Begegnung von uns zu zeigen wagen, desto spannender wird sie. Auch wenn es manchmal Mut kostet, zur eigenen Lust und Unlust zu stehen, spontane Gedanken und Gefühle zu zeigen oder einer Neugier zu folgen, ohne vorher zu wissen, wie das für den anderen ist. Mut kostet es, weil wir beim anderen auch einmal einen Schreck auslösen, eine Abwehr oder ein Unbehagen. Aber genau das macht seelische Nähe aus, dass beide mit allem sein dürfen, was sie denken, empfinden und brauchen, und so reagieren dürfen, wie sie eben reagieren. Dabei setze ich voraus, dass dies einigermaßen taktvoll geschieht und keiner mit harter Kritik oder langem Rückzug belastet wird. Man könnte zwar auch bei Kritik oder Rückzug behaupten: „Ich bin authentisch und drücke so meine Gefühle aus.“ Aber das stimmt ja nicht, denn die wahren Gefühle bleiben hinter der Kritik oder dem Rückzug verborgen.

Wer seelische Nähe wagt, fördert auch die erotische Polarität. Idealerweise baut sich im Alltag eine erotische Spannung auf, die sich im Sex entlädt. Spannung entsteht zwischen Polen. Romane und Filme spielen mit der Polarität: die Karrierefrau und der Chaot, der Snob und die Frau aus einfachen Verhältnissen, der Vernunftmensch und die verhängnisvoll leidenschaftliche Femme fatale. Auch unsere Liebesbeziehungen spielen sich zwischen solchen Polen ab.

Gegensätze ziehen sich an

Bei größeren Projekten – einem großen Ausmisten oder einem Umzug zum Beispiel – packt mich Furor, eine aggressive Entschlossenheit. Sie erleichtert Entscheidungen. Sie hilft, unsere Pläne auch gegen Widerstände zu behaupten. Meine Frau kann mit meiner Aggression besser umgehen, seit ich sie mit Worten ankündige oder zu ihr stehe, wenn sie sich nicht verbergen lässt. Denn dann ist klar, dass meine Frau ihren Pol ruhig auch ausleben darf. Sie hält meiner Geradlinigkeit dann Feingefühl entgegen, das auch mal wartet oder einen Umweg geht. Auch wenn das Konfliktpotenzial birgt, ergänzen wir uns. Gleichzeitig beleben solche Situationen unsere Beziehung auch in erotischer Hinsicht. Es wird eine Polarität spürbar, die vielleicht schon zu Beginn unserer Liebe Anziehungskräfte ausgeübt hat.

Andere Pole sind: stille Tiefgründigkeit und spritzige Geselligkeit, Sparsamkeit und Großzügigkeit, Gewohnheit und Veränderung, Berührbarkeit und Robustheit, Disziplin und Freiheit, Selbsthingabe und Durchsetzung. Die seelische Nähe nimmt zu, je mehr sich die Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse beider Pole zeigen dürfen und in der Beziehung Raum finden. Auch wenn wir Spannungen nicht unbedingt in unserer Beziehung brauchen, hält uns die Spannung lebendig. Manchmal würden wir den anderen lieber auf unseren Pol ziehen. Das Miteinander wäre dann einfacher. Aber statt echter Nähe hätten wir dann nur ein Arrangement, bei dem sich beide beschneiden und vieles für sich behalten. Warum sollten wir jemanden begehren, der uns immer ähnlicher wird? Warum verschmelzen mit einem Menschen, der sein Geheimnis verloren (nein! – nur vor uns verborgen) hat und uns kaum mehr schenken kann als das, was wir von uns selbst kennen?

Sex auf Platz zwei

Die Psychologie der seelischen Nähe ist mir in einer Hinsicht sympathisch. Sie verweist den Sex auf den zweiten Platz. Dort gehört er hin. Manchmal ist er ein Zeichen, wie es um die Liebe steht. Unsere Sehnsucht nach erfüllendem Sex verweist uns auf etwas Wichtigeres. Michael Lukas Moeller, Professor für Medizinische Psychologie und Paartherapeut, beschrieb das so: „Seit Menschengedenken sind alle Kulturen erpicht auf Liebesmittel, Aphrodisiaka. Mit den Beziehungen der Paare – kann man daraus schließen – stand es schon immer nicht zum Besten. Denn was ist das wirksamste Aphrodisiakum? Jeder weiß es, keiner wagt es, die Einsicht auszusprechen: das lebendige Paar.” (aus: Die Wahrheit beginnt zu zweit, S. 113)

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. Neben Ratgebern veröffentlicht er Online-Kurse, die Paaren helfen (epaartherapie.de; derherzenskompass.de/schwereliebe).