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Stolperfalle Harmonie

Harmonie ist grundsätzlich etwas Gutes. Wenn Konflikte aber unter den Teppich gekehrt werden, kommen Menschen ins Stolpern. Von Sandra Geissler

Vor einiger Zeit telefonierte ich mit einer Mutter aus der Schule, um eine Verabredung abzusprechen. Zum Abschied rief sie fröhlich ins Telefon: „Aber immer doch, wir sehen diesen Schatz so gern bei uns! Das ist das einzige Kind, mit dem es wirklich nie Streit gibt. Man merkt gar nicht, dass Besuch da ist!“

Ich legte auf mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Unbehagen. Eigentlich ist so ein pflegeleichtes Kind ja wunderbar. Ein Kind, dass sich überall so problemlos einfügt, dass man es gern zu Gast hat. Andererseits wurde mir schlagartig mulmig im Bauch. Ich kenne mein Kind und weiß, dass es sehr wohl potenzielle Konflikt- und Streitsituationen an solchen Spielnachmittagen gibt. Sie fallen nur nicht weiter auf, denn das Kind gibt stets nach und scheut den Konflikt. Sein Bedürfnis nach Harmonie wiegt nahezu immer stärker als der Anlass eines Streites. Mir ist dieses Verhalten wohlvertraut, denn ich bin selbst ein äußerst harmoniebedürftiger Mensch und lasse kaum eine Gelegenheit aus, einen ordentlichen Streit zu vermeiden. Ich freue mich nur sehr bedingt, dass ich diese Eigenschaft offensichtlich mit meinem Kind teile.

EINE EINZIGE STOLPERFALLE

Das Bedürfnis nach Harmonie ist erst mal nur das Bedürfnis nach Einklang, Einvernehmen, nach Eintracht und friedlichem Miteinander. Genau das sind die Bedeutungen des griechischen Wortes „harmonia“. Warum also jubelt mein Mutterherz nicht umgehend, wenn das eigene Kind dieses Bedürfnis in ausgeprägtem Maße hat? Hauptsächlich liegt es wohl daran, dass das Harmoniebedürfnis dazu neigt, sich schlechten Umgang zu suchen. Dann spaziert es mit seinen Freunden Konfliktscheu, Drückeberger und Selbstverleugnung durch die Lande, und gemeinsam kehren sie emsig alles unter die Teppiche des Lebens, was ihnen an Auseinandersetzungen und Ärgernissen begegnet. Das kann lange gutgehen, und das Leben wirkt hübsch aufgeräumt.

Doch zum einen sind all die Ärgernisse und Auseinandersetzungen nicht einfach verschwunden. Sie schwären leise vor sich hin, nur eben unter dem Teppich. Zum anderen werden die Falten der Teppiche immer höher und steiler von all dem Kehricht, der darunter versteckt wurde. Dann ist das Leben irgendwann eine einzige Stolperfalle. Es sind diese Stolperfallen, die Beziehungen aller Art in ernsthafte Schwierigkeiten und im schlimmsten Fall tatsächlich zu Fall bringen können.

ZUM KLINGEN KOMMEN

Sollte man sich und allen anderen das Bedürfnis nach Harmonie also schnellstmöglich abgewöhnen? Die Bibel gibt mir in solchen Lebensfragen hilfreiche Orientierung. Sie ruft immer wieder zu Eintracht, Vergebung und Sanftmut auf – das finde ich in den Psalmen von David und in den Gleichnissen von Jesus. Auch Paulus schrieb sich in seinen Briefen die Finger wund, um die frühen Gemeinden zu einem harmonischen Zusammenleben zu ermutigen. Die wörtliche Übersetzung von „harmonia“ aus dem Altgriechischen bezeichnet die Vereinigung von Entgegengesetztem zu einem Ganzen. Der Zusammenklang der Verschiedenheiten ergibt im günstigen Fall ein harmonisches Ganzes, bei dem sich alle Beteiligten ernst genommen und wohl fühlen. In diesem Sinn bedeutet Harmonie gerade nicht, dass sich einer oder mehrere ganz zurücknehmen, ihre Bedürfnisse hintanstellen und Streit und Konfliktthemen ausgeblendet werden. Vielmehr geht es darum, einen guten gemeinsamen Weg zu finden, bei dem alle zum Klingen kommen dürfen. Das wäre ein echtes harmonisches Zusammenleben, und danach will ich mich gern sehnen. Diese Sehnsucht macht das gemeinsame Auseinandersetzen mit allen Verschiedenheiten sogar notwendig, damit dem Ganzen am Ende nicht ein wichtiges Teil fehlt. Wenn uns die Bibel zu einem harmonischen Umgang miteinander aufruft, dann macht sie das in dem Wissen, das aus all ihren Teilen spricht: das Wissen um menschliche Begrenztheit und Eitelkeiten, um Schwächen und Eigenheiten. Auf dem Weg zur Einheit muss man sich nicht an die Gurgel gehen, den rechten Glauben absprechen oder gleich die ganz harten Geschütze auffahren. Oder wie meine Mutter meinte, die immer gern den alten Goethe zitierte: „Kinder, liebet einander. Und wenn das nicht geht, dann lasset wenigstens einander gelten.“

DAS RECHTE GLEICHGEWICHT

Auseinandersetzung auf dem Weg zur Einheit braucht Respekt, Barmherzigkeit und jede Menge Gnade. Sie erkennt an, dass das Gegenüber anders denkt, anders tickt, anders fühlt. Es ist kein Kampf um Sieg oder Niederlage, sondern ein wechselseitiges Entgegenkommen, ein Abwägen und gemeinsames Suchen um das rechte Gleichgewicht. Das ein oder andere Mal kann ich nachgeben, weil es mir nicht wirklich viel bedeutet, bei anderen Fragen will ich gehört werden.

Die harmoniebedürftige Mutter eines harmoniebedürftigen Kindes braucht kein mulmiges Gefühl zu haben. Harmonie ist etwas Großartiges, sie gibt der Verschiedenheit Raum und sucht Wege, wie wir alle gut zusammenklingen können. Darum werde ich nicht müde, mein Kind und mich selbst immer wieder zu ermutigen, zu den eigenen Bedürfnissen und Herzensanliegen zu stehen und für sie einzutreten. Das Erlernen von Streitkultur ist nicht nur eine Aufgabe für die konfliktbereiten Krakeeler, sondern gerade auch für die harmoniebedürftigen Stillen. Weil das aber viel Überwindung kostet, üben wir in kleinen Schritten. Weiß ich von einem Konfliktthema oder andauernden Ärgernis, überlegen wir zusammen, wie das Anliegen in gute Worte gefasst und zu Gehör gebracht werden kann. Wir wachsen an kleinen Erfolgen, denn überraschenderweise ziehen sich die wenigsten Menschen beleidigt zurück oder kündigen gar die Freundschaft, bloß weil das Gegenüber eine eigene Meinung vertritt. Nur vom schlechten Umgang müssen wir uns immer wieder bewusst verabschieden. Die Kumpels Konfliktscheu, Drückeberger und Selbstverleugner sind keine Freunde echter Harmonie, denn sie kehren mit den Konflikten auch die Gegensätze unter den Teppich. Und die braucht es doch für das gemeinsame Ganze.

Sandra Geissler ist katholische Diplom-Theologin und zurzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com.