Nicht einfach, aber doch schön: Familienalltag mit Autismus
Autismus ist bekannt, aber mit vielen Klischees behaftet. Wie groß die Bandbreite der Krankheit ist, wissen nur Wenige. Am 2. April ist Welt-Autismus-Tag. Eine vierköpfige Familie erzählt, wie sie ihren Alltag mit zwei autistischen Teenagern erlebt.
Schon beim morgendlichen Anziehen gehen die Schwierigkeiten los: Wenn an einem Kleidungsstück ein Schildchen oder eine Naht drückt, fühlt sich der 13-jährige Daniel (Namen geändert) nicht wohl. Eine Zeit lang mussten Hosen und Schuhe bei ihm aber auch ganz eng geschnürt werden. „Damit er sich besser spürt“, erklärt Mutter Katja. Daniels Schwester Laura (15) mag es nicht, wenn man sie mit nassen Händen anfasst und auch sonst mag sie es kaum, berührt zu werden. Beide haben Autismus.
Autismus-Spektrum-Störung (ASS), so lautet die Diagnose von Daniel und Laura, die sie vor zwei Wochen von einer Psychotherapeutin bekommen haben. Eins von hundert geborenen Kindern ist heute von dieser komplexen neurologischen Entwicklungsstörung betroffen. Menschen mit Autismus nehmen Dinge anders wahr und haben Schwierigkeiten im sozialen Miteinander. Viele sind zum Beispiel besonders empfindlich gegenüber Licht, Geräuschen oder Berührungen. Oft können sie sich nicht gut in ihre Mitmenschen einfühlen und es fällt ihnen schwer, Beziehungen aufzubauen. In der Kommunikation verstehen sie das Gesagte häufig wörtlich, Zwischentöne oder sogar Ironie sind für sie schwer zu deuten.
Schnelle Überforderung
Dass Daniel und Laura Autismus haben, hatte die Familie schon seit Jahren geahnt. Jetzt endlich haben sie es auch schwarz auf weiß. Das macht es für sie einfacher, ihre Kinder zu erklären, zum Beispiel gegenüber der Schule oder Verwandten. Denn ihr Alltag ist auch so schon herausfordernd genug. Zum Beispiel beim gemeinsamen Essen: Die Teenager essen kein Fleisch, Gemüse nur roh. Laura bekommt bei der Konsistenz von Kartoffelbrei Würgereiz, Salzkartoffeln gehen wiederum. Vater Jark, der für die Familie kocht, ist bei der Essensauswahl sehr eingeschränkt. Und so wiederholt sich der Familienspeiseplan alle zwei Wochen.
Auch Ausflüge als Familie sind nicht spontan möglich, sondern müssen vorher gut geplant werden. Denn wenn die Kinder nicht wissen, was auf sie zukommt, macht sie das nervös. Ein Besuch im Freizeitbad oder bei Ikea geht eher nur selten – die vielen Menschen und die wenigen Ruhe-Oasen führen bei Laura und Daniel schnell zu Überforderung. Und der Besuch von neuen Städten kann auch herausfordernd sein. Letztens waren sie am Wochenende in Oldenburg. „Da hat Daniel mitten in der Stadt einen Zusammenbruch bekommen und losgeheult, weil ihm alles zu viel war – er ließ sich kaum beruhigen“, erzählt Jark. Woanders übernachten sei für Daniel schlimm. Das andere Bett, die fremden Gerüche – alles große Herausforderungen für ihn.
Das ist häufig so bei Menschen mit Autismus: Sie haben feste Rituale und brauchen geregelte Abläufe und Strukturen im Alltag. Die genauen Ursachen von Autismus sind bis heute nicht geklärt. „Klar ist: Autismus ist hochgenetisch, aber auch biologische Umweltfaktoren können einwirken und mit Genen interagieren“, sagt Sven Bölte, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit dem Jahr 2000 steigen die Autismus-Spektrum-Störungen weltweit. Sven Bölte vermutet, dass das unter anderem mit der besseren und schnelleren Diagnostik zusammenhängt, die es heute gibt. Und mit unserer Anforderung an Gesundheit: „Die Menschen haben heute unglaublich hohe Ansprüche daran, was es heißt, gesund zu sein.“ Auch in den Schulen würden die Ansprüche an die Kinder steigen. So würden Autismus-Spektrum-Störungen früher auffallen.
Wer passt sich wem an?
Dass sie anders war als die anderen, bemerkte Laura schon in der ersten Klasse: „In der Schule war ich oft abgelenkt und bin häufig allein über den Schulhof gegangen, weil ich eine Pause von den ganzen Reizen brauchte“, sagt sie. Der Lehrerin fiel auf, dass sie nicht mit anderen Kindern spielte. Laura war auch oft verträumt, sie brauchte zum Beispiel lange, um ihren Schulranzen einzuräumen. Bald darauf bekam sie eine ADHS-Diagnose. Die Medikamente, die sie verschrieben bekam, hätten ihr zwar geholfen, sich besser zu konzentrieren, erzählt Katja. Aber sie hätten auch dazu geführt, dass Laura immer trauriger wurde. Das ging den Eltern zu weit, sie setzten die Medikamente ab. „Für uns war klar: Wir versuchen nicht unser Kind um jeden Preis an sein Umfeld anzupassen,“ sagt Katja. Stattdessen wechselte Laura an eine andere Schule.
Wegen Autismus: Keine passende Schule für Daniel
Als Daniel auf das Gymnasium kam, versuchte er lange Zeit, sich anzupassen. Es kostete ihn unheimlich viel Kraft, die unzähligen Reize – Geräusche, Licht, Gerüche – auszuhalten. Ständig befand er sich nervlich in einer Ausnahmesituation. Nachmittags zog er sich in sein verdunkeltes Zimmer zurück. Morgens mussten Katja und Jark mit Engelszungen auf ihn einreden, um ihn wieder herauszulocken. Eines Tages fanden sie statt des selbstbewussten 12-Jährigen einen 5-Jährigen vor, erzählt Jark: „Er weinte, wimmerte und bat darum, dass wir ihn nicht wieder zur Schule schickten.“ Daniel war total erschöpft, hatte keinen Antrieb mehr und nur wenig Freude am Leben.
Eine Kinder- und Jugendpsychiaterin diagnostizierte ihm eine Anpassungsstörung, er wurde krankgeschrieben. Seit einem Jahr beschulen ihn die Eltern zuhause. Die Schule und die Behörden halten an der Präsenz-Schulpflicht fest. Deswegen sei neulich auch das Jugendamt unangekündigt vorbeigekommen. „Anfang März hat die Bezirksregierung einen Bußgeldbescheid über 1.500 Euro an uns verschickt“, erzählt Jark. Der Druck ist groß. Doch in der Heimatstadt gibt es keine geeignete Schule für Daniel. Nun reisen sie an den Wochenenden durch ganz Deutschland, um nach passenden Schulen für ihn zu schauen.
Dass autistische Kinder vorübergehend nicht zur Schule gehen, ist nicht selten. Verschiedene internationale Studien geben an, dass zwischen 23 und 72% der autistischen Kinder und Jugendliche ab und zu oder langfristig nicht in die Schule gehen. Für Deutschland gibt es keine repräsentativen Daten. Die Gründe für die Nicht-Beschulung sind unterschiedlich: Mal schaffen es die Kinder und Jugendlichen nicht mehr in die Schule, mal sollen sie zu Hause bleiben, weil Fachpersonal fehlt. „Unser Schulsystem ist auf neurotypische Schülerinnen und Schüler ausgerichtet und nicht autismus-sensibel“, sagt Stephanie Meer-Walter, Pädagogin und Autismus-Beraterin. Sie wünscht sich, dass die Lehrkräfte durch Weiterbildungen besser auf autistische Kinder vorbereitet werden und Schulen dafür besser ausgestattet werden. Zum Beispiel durch Ruheräume als Rückzugsmöglichkeit bei Überreizung oder durch feste Strukturen und klare Kommunikation im Unterricht.
Gemeinsam Kompromisse finden
Für viele Schwierigkeiten hat die Familie inzwischen Lösungen gefunden. Zum Mittagessen gibt es wenige, ausgewählte Mahlzeiten, wie Pellkartoffeln oder Chili sin Carne. Sehr gut funktioniert auch das Salatbuffet oder Raclette, bei dem die Teenager selbst auswählen, was sie essen. Laura besucht jetzt ein Gymnasium, von der Klassenlehrerin fühlt sie sich unterstützt. „Heute komme ich ganz gut mit meinem Autismus klar“, sagt sie. Wenn sie Anschluss zu Freundinnen suche, nerve sie ihr Autismus schon. Es falle ihr schwer, zu entschlüsseln, was sie von ihr erwarten. „Im Endeffekt gibt es aber für alles eine Lösung.“
Daniel schaffe es im Alltag immer besser, sich selbst zu helfen, sagt Katja. Früher hätte er Wutanfälle bekommen, wenn sich die Klamotten falsch anfühlten. „Mittlerweile schneidet er die Schilder selbst heraus oder sagt uns klar, wie wir ihm helfen können.“ Und auch wenn die Beschulung zu Hause für Daniel nur eine Notlösung ist, geht es Daniel damit besser als noch zu Schulzeiten. „Er kommt jetzt wieder mehr aus sich heraus und nimmt sich auch mal das Skateboard, um auf den Skateplatz zu gehen“, sagt Jark. Er brauchte die Pause, sagt Katja. „Jetzt kann er sich wieder auf eine neue Schule einlassen“. Beide Kinder wirken auf die Eltern im Alltag inzwischen ausgeglichen.
Katja und Jark wünschen sich, dass andere Menschen in ihrem Umfeld mehr Offenheit und Verständnis für ihre Kinder zeigen und ihre Bedürfnisse nicht klein reden. Und sie wünschen sich mehr Aufklärung: Wenn sie anderen erzähle, dass ihre Kinder Autismus haben, seien diese oft erschrocken, sagt Katja. Die würden dann wahrscheinlich gleich an Filme wie „Rain Man“ denken. „Aber Autismus ist ein riesiges Spektrum. Ich wünsche mir, dass sich die Menschen mehr darüber informieren, wie vielfältig Autismus ist.“
Manche Menschen mit Autismus lernen in ihrem Leben nie zu sprechen und sind auch als Erwachsene auf eine Rundumbetreuung angewiesen. Andere haben studiert und führen ein selbständiges Leben. „Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten“, fasst Jark zusammen. „Jeder Mensch bringt seine individuelle Persönlichkeit mit und niemand will in eine Schublade gesteckt werden.“ Auch Kitas, Schulen und Arbeitgeber müssten aus der Sicht der Familie besser auf den Umgang mit autistischen Menschen vorbereitet werden.
Janna Degener-Storr und Sarah Kröger