Tourette. Symbolbild: Getty Images / ImagineGolf / Getty Images E+

Sohn mit Tourette: „Mein Kind war mir peinlich“

Er rief unvermittelt „Heil Hitler“: Mit ihrem Tourette-kranken Sohn Florian ging Sabine Eisenmann regelrecht durch die Hölle. Ein Bericht.

Sabine Eisenmann (62) ist eine lebenslustige, attraktive Frau aus Aspach bei Stuttgart. Aber die Friseurmeisterin und ihr Mann Volker waren oft verzweifelt über Florian, ihren Erstgeborenen. Als Säugling litt er massiv unter Neurodermitis. Was danach kam, forderte die Eltern aber noch mehr heraus: Tourette. Mit acht, neun Jahren wurde Florian immer verhaltensauffälliger. Der Junge warf zunehmend mit obszönen Worten um sich, spuckte über den Tisch, beschimpfte Passanten aufs Übelste oder rief unvermittelt mit ausgestrecktem rechtem Arm „Heil Hitler!“ in der Fußgängerzone. „Mir war mein eigenes Kind peinlich und ich hatte massive Selbstzweifel,“ sagt die Mutter heute. Als der Kinderarzt ihr riet, sich bei der Erziehungsberatungsstelle Hilfe zu holen, war ein erster von vielen Tiefpunkten und Erschöpfungszuständen erreicht.

Hinzu kamen Querelen in der Ehe. Denn die Eltern waren unterschiedlicher Auffassung, wie mit Florian zu verfahren sei. Neben der Bibel las Mutter Sabine Erziehungsratgeber, um sich Hilfe zu holen. Denn die Aussetzer des Sohnes, der bald mit Max einen jüngeren Bruder hatte, bot auch in Kindergarten, Grundschule oder Sportverein immer wieder Angriffsflächen, erforderte Erklärungen, Rechtfertigungen und Entschuldigungen. Parallel kamen im Abstand von vier Wochen immer neue Tics hinzu, wie der Fachbegriff für diese Auffälligkeiten bei Tourette lautet – zum Beispiel das Ablecken von Schuhen oder Fassaden.

Horrortrip

„Solange wir nicht wussten, was Florian fehlt, war das wie ein Horrortrip,“ erinnert sich die Mutter, die tagsüber mit den Söhnen allein war, weil der Vater im Außendienst arbeitete. Das Schlimmste sei gewesen, dass sich Mutter und Sohn wechselseitig heimlich beobachteten. Denn intuitiv spürte der Zehnjährige, dass sein Verhalten die Mama stresste. Deshalb versuchte er, seine Tics unbemerkt von ihr auszuagieren. Sie wiederum observierte ihn umso lückenloser, um nichts zu verpassen.

Hilfreich in diesen schweren Jahren war, dass die erweiterte Familie, Freunde, Nachbarn und Gemeindemitglieder Florian nahmen, wie er sich gab, sodass hier keine zusätzlichen Konflikte wie Ausgrenzung, Rückzug oder Scham drohten. Der Terminkalender war mit Arztterminen, Untersuchungen und Besprechungen gefüllt, bei denen immer die Botschaft mitschwang, Florian sei nicht okay.

Dagegen wiederum half, dass Florians Lehrerin am Ende seiner Grundschulzeit den Eltern nahelegte, ihren Sohn trotz seiner Auffälligkeiten auf eine weiterführende Schule gehen zu lassen. Dadurch war für den Jungen der Weg frei, mit seinen Klassenkameraden zusammenzubleiben, die seine Marotten bereits kannten und ihn notfalls auch „beschützten“.

Stets „normal“ behandelt

Sabine Eisenmann hat über ihre Erfahrungen ein Buch verfasst mit dem eindrücklichen Titel: „Ficken, Fotze, Feuerfrei.“ Darin beschreibt sie, wie sie eines Tages mit Sohn und Ehemann in eine psychiatrische Einrichtung fuhr, in der Florian untersucht werden sollte. Schon auf der Hinfahrt sahen die Eltern auf dem Gelände Kinder mit Helmen, die sich selbst auf den Kopf schlugen oder die in Vorrichtungen fixiert waren. „Ich sagte zu Volker: ‚Egal, was die hier diagnostizieren und machen, hier lassen wir unseren Florian nicht.‘“ Als aber bereits zehn Minuten nach Beginn der Untersuchung und Befragung der Psychiater dem Zwölfjährigen „einen reinrassigen Tourette“ diagnostizierte und ihn mit Tabletten sedierte, war das für die Eltern wie ein Befreiungsschlag. „Endlich war klar, dass wir nichts falsch gemacht hatten.“ Und die Mutter war dankbar, dass die Nervenkrankheit nicht von weiteren Störungen überlagert war, die etwa die Motorik oder den Verstand einschränken.

Gern ließ der Arzt den Jungen wieder mit den Eltern nach Hause in dessen gewohnte Umgebung gehen, wo er seinen Platz hatte, anerkannt war und sich geliebt wusste. „Diese Normalität und Selbstverständlichkeit, die wir mit Florian in der Familie, der Nachbarschaft und in unserem Dorf lebten, hat immer alle überrascht und beeindruckt.“ Dies sei vermutlich vor allem das Verdienst von ihr und ihrem Mann gewesen, die Florian stets „normal“ behandelten und dasselbe auch von anderen erwarteten.

Regelmäßige Krisen mit Tourette

„Ich habe Florian in der Erziehung nichts durchgelassen, nur weil er vermeintlich krank gewesen ist oder es so schlimm hatte“, erklärt Sabine Eisenmann. Notfalls stellte sich der jüngere Bruder Max in der Clique schützend vor seinen Bruder und machte damit unmissverständlich klar, dass Florian dazugehört, egal, was er sagt und tut. Diese Haltung war mit ein Grund, weshalb sich die Mutter auch keiner Selbsthilfegruppe anschloss. „Ich wollte nicht ständig von Tourette sprechen müssen, wenn ich schon dauernd Florians Tics um mich hatte.“ Auch hätte ihr dieses Umfeld wohl die Hoffnung auf ein konventionelles Leben genommen, weil sie hier „von vielen schlimmen Entwicklungen hörte und las“.

In Florians Pubertät erlebte die Familie regelmäßig Krisen. So drohte den Eltern nach fünf, sechs Jahren Dauerstress die Kraft auszugehen. Doch in ihrem Glauben schöpfte Sabine Eisenmann immer neue Kraft. Und da sie ohnehin Notizen über den Krankheitsverlauf gemacht hatte, reifte in ihr der Impuls, über das Erlebte ein Buch zu schreiben. „Das Buch hat uns geholfen, das Erlebte aufzuarbeiten.“ Die Lektüre berührt durch die intimen Einblicke, die die Autorin gewährt. Wenn etwa der Ehemann phasenweise damit haderte, lieber keinen Sohn gehabt zu haben als diesen oder das Liebesleben der Eltern über Jahre auf der Strecke blieb. Das Buch macht aber auch Mut, eigene Krisen anzunehmen – weil wir sie meistern können. Es ist auch ein Plädoyer gegen Segmentierung und für Verschiedenheit im Leben. Florian arbeitet übrigens seit Jahren in Zürich. Er hat eine Top-Position in der IT-Security bei einer Bank.

Leonhard Fromm ist Wirtschaftsjournalist und Diplom-Theologe. Der zweifache Vater lebt in Schorndorf bei Stuttgart.