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Unfallfrei durch das letzte Schuljahr – Wie Eltern helfen können

Das letzte Schuljahr kann sowohl Eltern als auch Kinder sehr fordern. Die Pädagogin Stefanie Böhmann gibt Tipps, wie Eltern die Kinder unterstützen können.

Unsere älteste Tochter hat ihr Abi in der Tasche. Für unsere Zweite steht es im nächsten Jahr an – sie befindet sich aktuell im letzten Schuljahr. Beide sind sich einig, dass gute Verpflegung und leckere Snacks das Lernen erheblich unterstützen. „Und Mama, bitte gut ausgewogen, gesund, aber auch immer wieder lecker.“ Auch die moralische Unterstützung ist ihnen wichtig. Diese zu definieren, ist schon etwas schwieriger. „Du weißt doch, was uns guttut!“ Das heißt, Abfrageangebote in den Raum zu stellen, aber nicht zu penetrant nachzufragen. Sie wollen spüren, dass wir Eltern an sie glauben und ihnen den Abschluss zutrauen. Die Hilfe holen sie sich, wenn sie sie wirklich brauchen.

An Ausgleich und Fristen erinnern

Eine Tagesstruktur hilft beim Lernen. Diese Struktur im letzten Schuljahr liefern natürlich auch regelmäßige Essensangebote, wo wir wieder beim Ausgangspunkt wären, der von den beiden immer wieder betont wurde. Aber auch Sport- und Ausgleichsangebote unterstützen das Lernen, weil man so den Kopf für die nächste Lern- oder Schreibeinheit freibekommt und Entspannung ebenfalls möglich ist.

Beim Lernen verlieren die Jugendlichen das manchmal aus dem Blick und werden von uns Eltern gern daran erinnert, genauso wie an die Abgabefristen für die berufliche Zukunft nach dem Abi. Dann fragt man eben zum 25. Mal nach, ob die Bewerbung eingereicht ist, nervt, aber sorgt dafür, dass Dinge vorangehen und der Weg nach dem Abi geebnet ist. Das soll aber nicht heißen, dass man seinem fast volljährigen Kind die Bewerbung schreiben soll.

Das Rundum-Liebes-Paket von den Eltern

Unserer Großen haben aber tatsächlich To-do-Listen und Tagespläne geholfen, um eine Struktur zu bekommen und den Überblick zu wahren. Da ist aber jedes Kind unterschiedlich.

Genauso ist es hilfreich, als Korrekturleserin im Zweifel um kurz vor zwölf parat zu stehen, wenn eigentlich schon fünf Minuten vorher die Präsentation hätte abgegeben werden sollen. Und ist mal eine Note außer der Reihe, dann sollte man als Tröster und Hoffnungsgeberin moralisch aufbauen und nicht noch auf Tochter oder Sohn rumhacken, denn dafür sorgen sie in ihrem Inneren schon selbst.

Kurz gesagt: Einmal das Rundum-Liebes-Paket bitte, und unsere Kinder kommen gut durch das Prüfungsjahr!

Stefanie Böhmann ist Pädagogin und individual-psychologische Beraterin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Wochenbettdepression bis Psychose: Wenn die Tage nach der Geburt zur Zerreißprobe werden

Sarah, Beatrice und Anna hatten nach der Geburt ihres Kindes mit psychischen Krankheiten zu kämpfen. Lisa-Maria Mehrkens erzählt ihre Geschichte.

Sarah wurde nach langem Kinderwunsch endlich schwanger. Doch bereits im dritten Monat wurde Schwangerschaftsdiabetes bei ihr festgestellt. Sechs Monate lang musste sie sich mehrmals täglich Insulin spritzen. Für sie eine schwere Zeit voller Überwindung, Angst, Schmerzen, Tränen, die sie für ihr Kind erträgt. Innerlich plagen sie Zweifel: „Ohne Kind keine Nadeln, dieser Gedanke war permanent in meinem Kopf. Ich versuchte, das Kind dafür nicht zu hassen. Es konnte ja auch nichts dafür! Oder?“

Die Geburt ging schnell, aber ständige Hebammenwechsel, das schmerzhafte und langwierige Nähen eines Dammrisses, Beschimpfungen durch den Arzt und ihr neugeborener Sohn, der weit weg von ihren Armen schreiend unter der Wärmelampe lag, ließen Sarah nur Überforderung fühlen. Auch mehrere Monate nach der Geburt wartete sie vergeblich, dass sich Liebesgefühle für ihr Kind einstellten. Erst nach drei Jahren suchte Sarah sich Hilfe, um die Beziehung zu ihrem Sohn zu retten – viel zu spät, wie sie selbst bekennt.

Was ist eine nachgeburtliche posttraumatische Belastungsstörung?

So wie Sarah ergeht es etwa ein bis zwei Prozent aller Frauen in Deutschland, bei denen schwierige Schwangerschaftsverläufe und traumatische Geburten zu starken psychischen Beeinträchtigungen im Wochenbett führen. Die Dunkelziffer von Frauen, die nach der Geburt unter quälenden Gedanken und Alpträumen leiden, ist weitaus höher. Experten sprechen von einer „nachgeburtlichen posttraumatischen Belastungsstörung“. Dabei ist es unwichtig, ob Schwangerschaft und Geburt nur subjektiv als besonders belastend erlebt wurden oder auch objektiv schwierig waren, etwa durch einen Kaiserschnitt oder wenig einfühlsame Geburtshelfer. Wiederkehrende negative Erinnerungen an die Geburt, Schlafstörungen, Gereiztheit und das Vermeiden aller mit der Geburt verbundenen Aktivitäten, wie Sexualität mit dem Partner oder Körperkontakt mit dem Kind, können die Folgen sein. Häufig fällt es Betroffenen schwer, sich die mangelnden Liebesgefühle zu ihrem Kind einzugestehen.

Wann wird der Baby Blues zur Krankheit?

Doch auch ohne schwierige Schwangerschaft oder eine als traumatisch erlebte Geburt können psychische Erkrankungen im Wochenbett auftreten. Sie entstehen meist durch eine Kombination aus genetischen, hormonellen, psychischen und sozialen Einflüssen, zum Beispiel Vorerkrankungen, familiäre Häufungen, die Hormonumstellung im Wochenbett, eine zu geringe Unterstützung durch das Umfeld oder auch ein zu hoher Erwartungsdruck der Mutter an sich selbst.

Etwa 50 bis 70 Prozent aller Mütter kennen den „Baby Blues“ ein paar Tage nach der Geburt: Durch Hormonumstellungen kann es zu häufigem Weinen, Ängstlichkeit, Stimmungsschwankungen, Erschöpfung sowie Konzentrations-, Appetit- und Schlafstörungen kommen. Verschwinden diese Symptome nach spätestens zwei Wochen nicht von allein, könnte es sich um eine Erkrankung handeln, die einer Behandlung bedarf.

Depression nach der Geburt

So erging es Beatrice, die zweimal nach der Entbindung ihrer Söhne an einer mehrmonatigen Depression erkrankte. Sie musste häufig weinen, litt an Übelkeit und Erschöpfung, konnte kaum schlafen und essen. Das erschwerte auch den Aufbau von Nähe zu ihren Kindern: „Ich hatte Angst vor dem nächsten Tag. Ich hatte Angst, nie eine glückliche Mutter werden zu können.“ Ihre Familie und Freunde unterstützten sie durch Gebet und praktische Hilfe. Doch erst Medikamente, ein Klinikaufenthalt und eine Psychotherapie brachten nach einigen Monaten Besserung.

An einer nachgeburtlichen Depression wie bei Beatrice leiden ungefähr 10 bis 15 Prozent aller Mütter. Symptome treten bei manchen schon während der Schwangerschaft, bei anderen erst bis zu einem Jahr nach der Geburt auf. Antriebsschwäche, Lustlosigkeit, innere Leere und Traurigkeit, Appetit- und Schlafstörungen sowie Konzentrationsschwäche sind nur einige Anzeichen. Sehr belastend erleben viele Mütter das Gefühl, ihr Kind nicht richtig zu lieben, und das damit verbundene schlechte Gewissen. Manchmal geht die Krankheit mit starken Ängsten oder Zwängen einher.

Daraus können eigene Erkrankungen entstehen, die betroffene Frauen und ihr Umfeld stark belasten und einen normalen Alltag unmöglich machen. Dadurch denken manche Mütter sogar an Selbstmord. Die seltenste und schwerste Form der nachgeburtlichen Erkrankungen ist die Psychose, die etwa ein bis zwei von 1.000 Müttern betrifft. Symptome zeigen sich meist in den ersten vier Wochen nach der Entbindung. Dazu zählen unrealistische, extreme Ängste, Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die meist auf das Kind bezogen sind und eine große Gefahr für Mutter und Kind darstellen.

Eine Psychose lähmte Anna

Anna erkrankte nach der Geburt ihrer Tochter an einer solchen Psychose. Das Wochenbett verbrachte sie ohne Kind in der Psychiatrie. Es folgten mehrere Klinikaufenthalte mit und ohne Kind sowie eine ambulante Psychotherapie. Anna durfte ihre Tochter eine Zeit lang nicht allein sehen, wurde vorübergehend für nicht geschäftsfähig erklärt, ihr Mann zu ihrem Vormund bestimmt. Sie erhielt viel Unterstützung und Kraft von ihrem Umfeld durch Gebet, Gespräche und praktische Hilfe.

Doch die notwendigen Medikamente hatten Nebenwirkungen: „Die Tage waren lang und zäh und kosteten mich unglaublich viel Kraft. Ich hatte an nichts mehr Freude oder Spaß. Ich fühlte mich wie erschlagen, ständig müde und überfordert von allem und jedem. Ich dachte, meine Tochter nicht genug zu lieben. Sie ging mir auf die Nerven und ich musste aufpassen, sie nicht zu schlagen. Ich überlegte, ob meine Familie ohne mich besser dran wäre und ob ich mir etwas antun sollte“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand. Ein erster Versuch, die Medikamente abzusetzen, brachte die Psychose zurück. Bis heute muss Anna Medikamente nehmen und ist nur eingeschränkt arbeitsfähig.

Erkrankung rechtzeitig erkennen

Viele Betroffene schämen sich für ihre Erkrankung oder haben Schuldgefühle und sprechen nicht darüber. Doch bei etwa 20 bis 30 Prozent der Mütter mit einer nachgeburtlichen psychischen Erkrankung werden die Mutter-Kind-Bindung und damit auch die Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst. Deswegen ist es umso wichtiger, die Erkrankungen rechtzeitig zu erkennen und passend zu behandeln. Denn dann bestehen gute Heilungschancen.

Der Austausch mit Familie, Freunden, anderen Betroffenen oder professionellen Helfern und Helferinnen wie Hebammen, Psychotherapeuten oder Fachärzten kann hilfreich sein, um das Erlebte zu verarbeiten. Auch praktische Unterstützung im Alltag durch das Umfeld wirkt entlastend auf die Betroffenen. Ebenso können Selbsthilfevereine ein guter Anlaufpunkt sein (siehe Kasten). Bei schweren Verläufen von Depressionen und Psychosen sind schnelle medizinische und medikamentöse Behandlungen durch Ärzte und Psychotherapeuten wichtig, um die Gefahr für Mutter und Kind abzuwenden und eine langfristige Bindungsstörung zu verhindern. Dafür gibt es spezielle Fachkliniken. Diese Behandlungen können jedoch bis zu mehreren Jahren dauern.

Drei Mütter – drei Zukunftsvisionen

Sarah, Beatrice und Anna haben unterschiedliche Krankheitsverläufe erlebt. Sie wollen anderen betroffenen Frauen Hoffnung geben, dass sie nicht allein sind und es besser wird. Sarahs Sohn ist mittlerweile fast sieben Jahre alt. Noch heute kämpft sie um die emotionale Nähe zu ihm. Eine Mutter-Kind-Kur soll nun Besserung bringen. Beatrice erlebte zweimal, dass nachgeburtliche Depressionen geheilt werden können, und hat heute eine sehr gute Beziehung zu ihren beiden Söhnen. Dennoch entschied sie sich unter anderem aus Sorge, die Erkrankung erneut durchstehen zu müssen, gegen ein weiteres Kind. Obwohl Anna bis heute mit den Folgen ihrer Erkrankung zu kämpfen hat, hat sie eine gute Bindung zu ihrer zweieinhalbjährigen Tochter aufgebaut und wünscht sich ein zweites Kind. All diese Mütter verbindet die Liebe zu ihren Kindern und der Wunsch nach der besonderen Nähe zwischen Mutter und Kind. Und dafür werden sie weiterkämpfen.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

Hier finden Betroffene Hilfe:

Selbsthilfevereine:
schatten-und-licht.de
postpartale-depression.ch
selbsthilfe.at
Spezialisierte Beratungsstelle:
nachdergeburt.com
Wochenbettdepressionshotline (D):
0 15 77/47 42 654
Elternnotruf (CH):
08 48/35 45 55

„Ich kämpfe um die Nähe zu meinem Baby“

Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist ab der Schwangerschaft durch eine besondere Nähe geprägt. Manchmal wird der Aufbau dieser Nähe durch belastende äußere Umstände oder Erkrankungen erschwert. Drei Frauen haben Lisa-Maria Mehrkens ihre Erlebnisse geschildert.

Sarah wurde nach langem Kinderwunsch endlich schwanger. Doch bereits im dritten Monat wurde Schwangerschaftsdiabetes bei ihr festgestellt. Sechs Monate lang musste sie sich mehrmals täglich Insulin spritzen. Für sie eine schwere Zeit voller Überwindung, Angst, Schmerzen, Tränen, die sie für ihr Kind erträgt. Innerlich plagen sie Zweifel: „Ohne Kind keine Nadeln, dieser Gedanke war permanent in meinem Kopf. Ich versuchte, das Kind dafür nicht zu hassen. Es konnte ja auch nichts dafür! Oder?“ Die Geburt ging schnell, aber ständige Hebammenwechsel, das schmerzhafte und langwierige Nähen eines Dammrisses, Beschimpfungen durch den Arzt und ihr neugeborener Sohn, der weit weg von ihren Armen schreiend unter der Wärmelampe lag, ließen Sarah nur Überforderung fühlen. Auch mehrere Monate nach der Geburt wartete sie vergeblich, dass sich Liebesgefühle für ihr Kind einstellten. Erst nach drei Jahren suchte Sarah sich Hilfe, um die Beziehung zu ihrem Sohn zu retten – viel zu spät, wie sie selbst bekennt.

KRANK IM WOCHENBETT

So wie Sarah ergeht es etwa ein bis zwei Prozent aller Frauen in Deutschland, bei denen schwierige Schwangerschaftsverläufe und traumatische Geburten zu starken psychischen Beeinträchtigungen im Wochenbett führen. Die Dunkelziffer von Frauen, die nach der Geburt unter quälenden Gedanken und Alpträumen leiden, ist weitaus höher. Experten sprechen von einer „nachgeburtlichen posttraumatischen Belastungsstörung“. Dabei ist es unwichtig, ob Schwangerschaft und Geburt nur subjektiv als besonders belastend erlebt wurden oder auch objektiv schwierig waren, etwa durch einen Kaiserschnitt oder wenig einfühlsame Geburtshelfer. Wiederkehrende negative Erinnerungen an die Geburt, Schlafstörungen, Gereiztheit und das Vermeiden aller mit der Geburt verbundenen Aktivitäten, wie Sexualität mit dem Partner oder Körperkontakt mit dem Kind, können die Folgen sein. Häufig fällt es Betroffenen schwer, sich die mangelnden Liebesgefühle zu ihrem Kind einzugestehen.

Doch auch ohne schwierige Schwangerschaft oder eine als traumatisch erlebte Geburt können psychische Erkrankungen im Wochenbett auftreten. Sie entstehen meist durch eine Kombination aus genetischen, hormonellen, psychischen und sozialen Einflüssen, zum Beispiel Vorerkrankungen, familiäre Häufungen, die Hormonumstellung im Wochenbett, eine zu geringe Unterstützung durch das Umfeld oder auch ein zu hoher Erwartungsdruck der Mutter an sich selbst.

Etwa 50 bis 70 Prozent aller Mütter kennen den „Baby Blues“ ein paar Tage nach der Geburt: Durch Hormonumstellungen kann es zu häufigem Weinen, Ängstlichkeit, Stimmungsschwankungen, Erschöpfung sowie Konzentrations-, Appetit- und Schlafstörungen kommen. Verschwinden diese Symptome nach spätestens zwei Wochen nicht von allein, könnte es sich um eine Erkrankung handeln, die einer Behandlung bedarf.

DAS KIND NICHT RICHTIG LIEBEN

So erging es Beatrice, die zweimal nach der Entbindung ihrer Söhne an einer mehrmonatigen Depression erkrankte. Sie musste häufig weinen, litt an Übelkeit und Erschöpfung, konnte kaum schlafen und essen. Das erschwerte auch den Aufbau von Nähe zu ihren Kindern: „Ich hatte Angst vor dem nächsten Tag. Ich hatte Angst, nie eine glückliche Mutter werden zu können.“ Ihre Familie und Freunde unterstützten sie durch Gebet und praktische Hilfe. Doch erst Medikamente, ein Klinikaufenthalt und eine Psychotherapie brachten nach einigen Monaten Besserung.

An einer nachgeburtlichen Depression wie bei Beatrice leiden ungefähr 10 bis 15 Prozent aller Mütter. Symptome treten bei manchen schon während der Schwangerschaft, bei anderen erst bis zu einem Jahr nach der Geburt auf. Antriebsschwäche, Lustlosigkeit, innere Leere und Traurigkeit, Appetit- und Schlafstörungen sowie Konzentrationsschwäche sind nur einige Anzeichen. Sehr belastend erleben viele Mütter das Gefühl, ihr Kind nicht richtig zu lieben, und das damit verbundene schlechte Gewissen. Manchmal geht die Krankheit mit starken Ängsten oder Zwängen einher. Daraus können eigene Erkrankungen entstehen, die betroffene Frauen und ihr Umfeld stark belasten und einen normalen Alltag unmöglich machen. Dadurch denken manche Mütter sogar an Selbstmord. Die seltenste und schwerste Form der nachgeburtlichen Erkrankungen ist die Psychose, die etwa ein bis zwei von 1.000 Müttern betrifft. Symptome zeigen sich meist in den ersten vier Wochen nach der Entbindung. Dazu zählen unrealistische, extreme Ängste, Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die meist auf das Kind bezogen sind und eine große Gefahr für Mutter und Kind darstellen.

VON ALLEM ÜBERFORDERT

Anna erkrankte nach der Geburt ihrer Tochter an einer solchen Psychose. Das Wochenbett verbrachte sie ohne Kind in der Psychiatrie. Es folgten mehrere Klinikaufenthalte mit und ohne Kind sowie eine ambulante Psychotherapie. Anna durfte ihre Tochter eine Zeit lang nicht allein sehen, wurde vorübergehend für nicht geschäftsfähig erklärt, ihr Mann zu ihrem Vormund bestimmt. Sie erhielt viel Unterstützung und Kraft von ihrem Umfeld durch Gebet, Gespräche und praktische Hilfe. Doch die notwendigen Medikamente hatten Nebenwirkungen: „Die Tage waren lang und zäh und kosteten mich unglaublich viel Kraft. Ich hatte an nichts mehr Freude oder Spaß. Ich fühlte mich wie erschlagen, ständig müde und überfordert von allem und jedem. Ich dachte, meine Tochter nicht genug zu lieben. Sie ging mir auf die Nerven und ich musste aufpassen, sie nicht zu schlagen. Ich überlegte, ob meine Familie ohne mich besser dran wäre und ob ich mir etwas antun sollte“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand. Ein erster Versuch, die Medikamente abzusetzen, brachte die Psychose zurück. Bis heute muss Anna Medikamente nehmen und ist nur eingeschränkt arbeitsfähig.

Viele Betroffene schämen sich für ihre Erkrankung oder haben Schuldgefühle und sprechen nicht darüber. Doch bei etwa 20 bis 30 Prozent der Mütter mit einer nachgeburtlichen psychischen Erkrankung werden die Mutter-Kind-Bindung und damit auch die Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst. Deswegen ist es umso wichtiger, die Erkrankungen rechtzeitig zu erkennen und passend zu behandeln. Denn dann bestehen gute Heilungschancen.

Der Austausch mit Familie, Freunden, anderen Betroffenen oder professionellen Helfern und Helferinnen wie Hebammen, Psychotherapeuten oder Fachärzten kann hilfreich sein, um das Erlebte zu verarbeiten. Auch praktische Unterstützung im Alltag durch das Umfeld wirkt entlastend auf die Betroffenen. Ebenso können Selbsthilfevereine ein guter Anlaufpunkt sein (siehe Kasten). Bei schweren Verläufen von Depressionen und Psychosen sind schnelle medizinische und medikamentöse Behandlungen durch Ärzte und Psychotherapeuten wichtig, um die Gefahr für Mutter und Kind abzuwenden und eine langfristige Bindungsstörung zu verhindern. Dafür gibt es spezielle Fachkliniken. Diese Behandlungen können jedoch bis zu mehreren Jahren dauern.

NÄHE UND LIEBE KÖNNEN WACHSEN

Sarah, Beatrice und Anna haben unterschiedliche Krankheitsverläufe erlebt. Sie wollen anderen betroffenen Frauen Hoffnung geben, dass sie nicht allein sind und es besser wird. Sarahs Sohn ist mittlerweile fast sieben Jahre alt. Noch heute kämpft sie um die emotionale Nähe zu ihm. Eine Mutter-Kind-Kur soll nun Besserung bringen. Beatrice erlebte zweimal, dass nachgeburtliche Depressionen geheilt werden können, und hat heute eine sehr gute Beziehung zu ihren beiden Söhnen. Dennoch entschied sie sich unter anderem aus Sorge, die Erkrankung erneut durchstehen zu müssen, gegen ein weiteres Kind. Obwohl Anna bis heute mit den Folgen ihrer Erkrankung zu kämpfen hat, hat sie eine gute Bindung zu ihrer zweieinhalbjährigen Tochter aufgebaut und wünscht sich ein zweites Kind. All diese Mütter verbindet die Liebe zu ihren Kindern und der Wunsch nach der besonderen Nähe zwischen Mutter und Kind. Und dafür werden sie weiterkämpfen.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

Raus aus dem Teufelskreis: So beenden Sie die Machtkämpfe mit Ihrem Kind

Schwierige Phasen kennen wohl alle Mütter und Väter. Aber manche Kinder fordern ihre Eltern dauerhaft heraus. Pädagogin Sonja Brocksieper kennt diese Situation.

In deinem Buch „Mit Liebe bewaffnet“ geht es um herausfordernde Kinder – so heißt es im Untertitel. Was verstehst du darunter?
Das ist eine Umschreibung für das klassische „schwierige Kind“. Wir reden ja im Alltag schnell davon, dass unsere Kinder schwierig sind. Dann bekommen Kinder einen Stempel, dass sie nicht okay oder falsch sind. Mit dem Begriff„herausfordernde Kinder“ versuche ich, diesen Umstand etwas anders zu beschreiben. Es geht um Kinder, die nicht der Norm entsprechen, die ein bisschen anders ticken als andere und dabei aber nicht schlechter oder besser, sondern einfach anders sind. Sie bringen ihre Eltern an ihre Grenzen und fordern sie heraus, weil sie nicht in ein Schema passen.

Welche Art von Herausforderungen würdest du darunter fassen?
Das kann ganz vielschichtig sein. Es fängt an bei kleineren Dingen, zum Beispiel, dass die Persönlichkeit des Kindes anders ist als meine. Das ist ja herausfordernd, wenn mein Kind zum Beispiel sehr extravertiert ist, und ich selbst eher introvertiert bin. Die Kommunikation fällt schwerer, ich kann mich nicht so gut in mein Kind hineinversetzen und verstehe nicht so gut, wie es die Welt wahrnimmt. Es geht aber auch um Kinder, die eine Diagnose, Beeinträchtigung oder Behinderung haben oder die vielleicht eine Vorgeschichte mitbringen, weil sie Pflegekinder sind.

„Wenn der Liebestank der Kinder leer ist, rebellieren sie“

Man hört immer wieder Stimmen, die Kinder heute seien so schwierig, weil die Eltern sie zu sehr verwöhnen und keine Grenzen setzen. Siehst du das auch so?
Das trifft vielleicht auf manche Eltern zu. Wenn Eltern ihre Kinder zu sehr in Watte packen, ihnen alle Herausforderungen aus dem Weg räumen und Kinder völlig grenzenlos aufwachsen, kann das zu unreifen Verhaltensweisen der Kinder führen. Diese Eltern meinen es gut, wenn sie den Kindern alles ermöglichen. Aber das Bedürfnis des Kindes ist ja auch, selbstwirksam zu sein und herausgefordert zu werden. Einen verwöhnenden Erziehungsstil halte ich durchaus für problematisch, wenn sich das Kind in der Folge als das Zentrum der Welt empfindet. Aber ich würde es nicht darauf reduzieren, dass Kinder nur aus diesem Grund auffällige Reaktionen zeigen.

Ich glaube vielmehr, dass ein großer Teil der Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung darin liegt, dass die Liebe der Eltern nicht ankommt. Die meisten Eltern würden sagen: Ich liebe mein Kind. Aber aus unterschiedlichen Gründen fühlt ein Kind diese Liebe nicht. Und wenn der Liebestank der Kinder leer ist, rebellieren sie. In der Folge gibt es immer mehr Machtkämpfe und Reglementierungen der Eltern. Und dann sind nicht fehlende, sondern zu viele Grenzen das Problem. Es gibt also beide Seiten.

Viele Eltern kennen ja Zeiten, in denen sie ihr Kind als sehr anstrengend und herausfordernd erleben. Aber wie lang kann so eine Phase sein? Und wie merke ich, dass es ein eher grundsätzliches Problem ist?
Es ist völlig normal, dass es mal hakt oder man hier und da keinen Zugang zum Kind bekommt. Problematisch wird es, wenn das über mehrere Wochen geht und sich überhaupt nichts verändert. Wenn die Familienatmosphäre nur noch von Kampf und Streit belastet ist und man keine schönen Momente mehr haben kann. Wenn der Alltag davon dominiert wird, dass man von einem Machtkampf in den nächsten rutscht und nicht in der Lage ist, eine schöne Kuschelzeit zu haben oder einen schönen Tagesausflug zu genießen, weil es immer in Konflikte ausartet – dann gibt es einen dringenden Handlungsbedarf.

Machtkämpfe sind ein Teufelskreis

Du schreibst im Buch von einem Teufelskreis. Was meinst du damit?
Das ist eine Spirale, die sich immer mehr abwärts dreht. Da ist das Kind, das ein bisschen anders reagiert, als man sich das wünscht. Darauf reagiert man als Eltern und setzt eine Grenze. Meistens sind damit auch unangenehme Gefühle verbunden, die wir als Eltern haben. Dann reagiert das Kind darauf und protestiert, denn kein Kind bekommt gern Grenzen gesetzt. Auf diese Reaktion des Kindes reagiere ich wieder als Mutter oder Vater und bin genervt. Daraus entwickelt sich ein Machtkampf. Wenn das immer weiter läuft und wir keinen Ausstieg finden, werden die Emotionen auf beiden Seiten immer stärker. Und das Kind hat das Gefühl: Ich kann es meinen Eltern nie recht machen.

So habe ich das mit meinem Sohn auch erlebt. Wenn ich schwierige Momente mit ihm hatte, dachte ich: Wenn ich jetzt eine klare Grenze setze und ihm sage, wo es langgeht, dann wird er das schon verstehen. Aber es hat dazu geführt, dass er sich noch unverstandener gefühlt hat. Denn wenn die Grenzen zu eng werden, bekommt man keine Luft mehr. Und dann signalisieren die Kinder: Ich bin unzufrieden, ich fühle mich nicht gesehen, ich fühle mich nicht angenommen, ich darf nicht so sein, wie ich bin. Und dann reagieren sie mit Rückzug oder Rebellion.

Konflikte und Liebe schließen sich nicht aus

Welche Schritte sind nötig, um aus dieser Spirale rauszukommen?
Der entscheidende Punkt ist, dass Eltern die Verantwortung übernehmen und ihr Kind so annehmen, wie es ist. Mein Kind darf so sein mit seinen Besonderheiten und Charaktereigenschaften, die herausfordern. Ich selbst konnte diese Spirale durchbrechen, indem ich die bewusste Entscheidung getroffen habe, dass meine Liebe nicht von dem Verhalten meines Sohnes abhängig sein sollte. Wenn es Konflikte gegeben hat, habe ich trotzdem auch Grenzen gesetzt, wenn es nötig war, aber weniger in diesem Machtkampf-Modus.

Und es gab einige Momente, wo ich nach Konflikten zu ihm gesagt habe: „Auch wenn wir jetzt verschiedene Meinungen hatten, bist du trotzdem mein Kind. Ich hab dich trotzdem lieb und stehe zu dir. Und wir finden einen Weg.“ Mir war wichtig, dass er sicher sein kann, dass ich ihn lieb habe, auch wenn wir gerade Ärger haben. Das hat langfristig etwas verändert. Wir haben es dadurch geschafft, wieder auf eine warmherzige Beziehungsebene zu kommen.

Liebe ist eine Entscheidung

Aber wenn es mir schwerfällt, mein Kind zu lieben, weil es mich nervt oder wütend macht – was kann ich dann tun? Gefühle kann ich ja nicht „machen“.
Es ist richtig, dass man Gefühle nicht „machen“ kann, aber Liebe ist zunächst eine Entscheidung. Und wenn das am Anfang schwerfällt, würde ich empfehlen, dass man mit jemandem darüber redet, der einen unterstützt und vielleicht auch seelsorgerlich begleitet. Ich bin überzeugt, die Gefühle werden hinterherkommen. Das ist ein Prozess. Und wenn sich dann etwas verändert, kommen auch die Momente, in denen man wieder Liebe empfinden kann. Wenn das nicht funktioniert, muss man ein bisschen tiefer hingucken. Ich habe in meinem Buch ein paar Blockaden oder Hindernisse beschrieben.

Wenn man gar keinen Zugang zu seinen Gefühlen bekommt, kann das vielleicht an Erfahrungen aus der eigenen Kindheit liegen. Wenn man selbst als Kind eine unsichere Bindung hatte, dann wird es schwer, eine sichere Bindung zum eigenen Kind aufzubauen. Genauso können negative Glaubenssätze eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung verhindern. Wenn man trotz der Entscheidung, sein Kind anzunehmen, überhaupt nicht weiterkommt, ist es wichtig, mithilfe von Seelsorge oder Beratung den Ursachen auf die Spur zu kommen.

Du hast gerade beschrieben, dass du deinem Sohn einerseits Grenzen gesetzt, ihm aber auch vermittelt hast, dass du ihn liebst. Ich glaube, das ist für viele Eltern ein schwieriger Spagat zwischen schimpfen und kuscheln.
Ich finde, man kann auch mal schimpfen. Man kann auch mal sauer sein. Die Kinder können durchaus mitkriegen, dass man sich ärgert. Aber es muss aufgelöst werden, man darf in diesem Ärger nicht drinbleiben. Das hat etwas mit Vertrauen zu tun und dass ich dem Kind vermittele: Ich meine es gut mit dir, vertrau mir. Du wirst nicht immer alles verstehen, was ich mache, aber du bist mir wichtig.

Was hat dir geholfen?

Gab es in der Beziehung zu deinem Sohn eine Sache, die dir so richtig geholfen hat?
Ja, es gab einen Schlüsselmoment bei einem Seminar der Beratungsorganisation Team.F, wo ich vor vielen Jahren als Teilnehmerin war. Da erzählte eine Mitarbeiterin von ihrer angespannten Mutter-Tochter-Beziehung. Diese Mitarbeiterin hat beschrieben, wie sie in eine gute Beziehung kommen konnte. Das hat mein Herz tief berührt und ich habe die wichtige Entscheidung getroffen: Ich nehme mein Kind so an, wie es ist. Als Christin hat mir in den Jahren danach außerdem ein Bild immer wieder geholfen: Nämlich, dass mich Gott bedingungslos liebt, obwohl ich Fehler mache und manchmal Wege wähle, die ihm vielleicht nicht gefallen. Ich glaube, dass Gottes Herz trotzdem für mich immer offensteht und auch seine Arme weit offen sind. Dieses Bild hat mich immer wieder motiviert. So wie Gott uns Menschen liebt, möchte ich auch als Mama meinem Kind begegnen. Das ist für mich das perfekte Vorbild für Elternschaft.

Das Interview führte Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid, bietet Vorträge und Seminare zu Erziehung und Familie an und ist Mitarbeiterin bei Team.F sowie Dozentin an der TEAM.F-Akademie. Gerade ist ihr Buch erschienen: „Mit Liebe bewaffnet. Wie wir unsere herausfordernden Kinder annehmen“ (SCM Hänssler). sonja-brocksieper.de

 

An meine Heldeneltern

ich bin irgendwo zwischen Anfang und Mitte 20, ausgewachsen, gesund und wohlgenährt, angemessen planlos – oder sagen wir: flexibel  – verheiratet, habe ein Studium absolviert und bin ganz offiziell angestellt. Meine Augen sind nicht viereckig und meine Hände weisen keine Herdplatten-förmigen Brandnarben auf. Ich kann Wäsche waschen, räume quasi eigenständig die Spülmaschine aus und weiß theoretisch, wie man einen Siphon säubert. Dass ich googeln musste, wie man das schreibt, kann ich euch nicht ankreiden. Es ist amtlich: Ihr habt einiges richtig gemacht.

Dass ich so gut gerate, war nicht immer zu erwarten. Sieben Jahre gab es nur Mama und mich. Wir waren ein Dream-Team. Und obwohl du alles warst, was ich brauchte, hast du mich immer mit Vorbildern und Vertrauensmenschen versorgt. Erst heute kann ich mir ansatzweise vorstellen, was du geleistet, geopfert und durchgemacht hast, damit ich nicht nur hatte, was ich brauchte, sondern nicht mal merkte, was mir fehlen könnte. Irgendwer hat mal gesagt: Wer Kinder hat, dessen Herz lebt außerhalb seines Körpers. Ich wünschte, du hättest dich weniger um mich gesorgt. Aber wenn ich nur beinahe so etwas wie dein Herz mit mir herumtrage, bin ich ein Licht in dieser Welt – stark, lebendig und liebevoll. Dafür kann ich mit deiner Schwäche manchmal nicht umgehen. Aber du lässt dir von mir den Spiegel vorhalten. Dafür respektiere ich dich. Und das gibt mir Hoffnung, dass Erwachsensein nicht heißen muss, so zu tun, als hätte ich das Leben verstanden.
Als der große Handwerker mit der tiefen Stimme und drei potenziellen Thronfolgern unsere kleine Welt betrat, war ich unentschlossen. Der soll mein Stiefvater sein? Wir haben lange nach einem alternativen Begriff gesucht. Fest steht: Mit „Stief“ werde ich mich nicht anfreunden. Das klingt nur cool, wenn man an der 50 kratzt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass du niemanden ersetzen willst, selbst dann nicht, als es etwas zu ersetzen gab. Du hast für mich gekämpft, versucht, mich zu verstehen, gemerkt, dass das nichts wird und mich einfach bedingungslos geliebt. Dein Stolz lässt mich aufrechter gehen. Deine Unterstützung lässt mich Berge versetzen. Dein Herz zeigt mir, was Jesus mit Barmherzigkeit gemeint hat.
Ihr habt mich ausgestattet mit einem tatsächlichen und einem ideellen Werkzeugkasten voller Selbstvertrauen, Macken und Werten, von denen ich einige bis aufs Blut verteidigen würde. Danke fürs Erziehen und danke für den Versuch, mich loszulassen. Beim nächsten Anlauf klappt’s bestimmt. Und irgendwie könnt ihr euch damit auch Zeit lassen.

In Liebe,

eure Tochter

 

Ann-Sophie Bartolomäus (23) ist Volontärin bei Family und FamilyNEXT. Sie lebt mit ihrem Mann in Witten und ist offen für Vorschläge, was das Stiefvater-Namens-Dilemma angeht.

Jetzt erst recht!

Gerade wenn wir von unseren Kindern enttäuscht sind, sollten wir sie lieben und unterstützen. Von Christine Gehrig

Irgendwie kamen eine Bekannte und ich auf das Thema „Liebe und Unterstützung für unsere großen Kinder“ zu sprechen. „Was auch immer das eigene Kind für einen Mist verzapft – und wenn es im Gefängnis sitzt – es hat ja nur die eine Familie. Wenn die sich abwendet, was soll dann werden? Durch Ablehnung hat sich ja noch nie jemand positiv verändert. Ich finde, gerade in Krisen brauchen unsere Kinder uns erst recht“, vertrat ich meine Ansicht. „Woher weißt du, dass mein Kind im Gefängnis war?“, fragte meine Bekannte. Ich sah sie überrascht an. Nein, davon hatte ich keine Ahnung gehabt. Trotz ihrer Enttäuschung hatte sie sich zu ihrem Kind gestellt. Dessen Leben verläuft heute in ruhigeren Bahnen. Vielleicht gerade wegen der Unterstützung durch die Mutter?

Unlogisch lieben

In der Regel wissen unsere Kinder, was sie falsch gemacht haben. Sie können einen vorwurfsvollen, harten Blick aus einem sorgenzerfurchten Gesicht nur schwer ertragen. Trotz ihrer Fehler oder ihres Versagens wollen sie sich in ihrer Person nicht abgewertet wissen. Ob es der Abbruch der Schule, des Studiums, der Ausbildung ist, das Driften ins Drogenmilieu, das Verharren in zerstörerischen Beziehungen, selbstverletzendes Verhalten, der leichtfertige Umgang mit Suchtmitteln, das Abrutschen in Kriminalität, die Schwangerschaft mit 14 …

Bei aller höchst verständlichen Schockiertheit, Verzweiflung und Wut – bleiben Sie nüchtern und besonnen! Niemals hat Ihr Kind Ihre Unterstützung dringender gebraucht. „Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen“, dieser Satz der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach geht unter die Haut. Machen Sie es wie Gott: Seien Sie völlig unlogisch, lieben Sie trotzdem und jetzt erst recht.

Welten aufeinandergeprallt

Ein Rückblick auf die eigene Jugend kann helfen, die Dinge klarer zu sehen. Tief unter der katastophenträchtigen Kratzbürsthülle hauste ein unsicheres, nach Anerkennung und Bestätigung hungerndes Teenagerwesen. Hinzu kam bei uns eine zeitgeschichtliche Besonderheit: In den 60er, 70er und auch noch in den 80er Jahren sind Welten aufeinander geprallt. Vertreter konservativer Wertvorstellungen und die 68er Bewegung standen einander als völlig unvereinbare, unversöhnliche Fronten gegenüber. Das schlug sich auf die Generationenbeziehungen in den Familien nieder.

Heute haben wir eine Art Baukastensystem – wir können aus allem das Positive herauspicken. Und vor allem: Das abweichlerische Kind gehört nicht mehr automatisch ins Feindeslager. Dennoch kann sein Verhalten als Bedrohung für die eigene, vielleicht mühsam zusammengezimmerte Welt empfunden werden. Alles Fremde macht zunächst Angst.

Herzförmige Brillengläser

Aber: Wenn wir unsere Herzen weit aufmachen, kommt nichts Schlimmes hinein, sondern Gottes Liebe hinaus zu unseren Kindern. „Liebe deckt alle Vergehen zu“ (Sprüche 10, 12). Wenn ich solche und ähnliche Sätze in der Bibel lese, bin ich wieder versöhnt mit Aussagen, die uns Menschen scheinbar klein machen. Diese Aussagen lesen sich wie durch eine richterliche Brille: Der Mensch ist ein zum Destruktiven neigendes Geschöpf und kriegt es einfach nicht richtig auf die Reihe, Eltern und Kinder inklusive.

Diese nüchterne Feststellung darf mal kurz sein – jetzt aber bitte die Brille mit den herzförmigen Gläsern aufsetzen, denn: Alles Strafende, Ablehnende, Verurteilende schafft Brüche, Distanzen und Abgründe in den Beziehungen zu unseren Kindern. Jahre später werden wir uns selbst dankbar sein, wenn wir unser Ding mit der Liebe durchgezogen haben.

Ich weiß von Eltern, deren Kind kaum einen Schlammassel ausließ. Zum Teil rieten Fachleute, das Kind auf Grundeis laufen zu lassen, es völlig abzuschneiden und den Folgen seines Handelns zu überantworten. Ja, Eltern sollen die Verantwortung für sein Handeln beim Kind lassen. Aber genauso ist es ihr Job, die Beziehung zu ihrem Kind niemals abreißen zu lassen. Eine Mutter hörte auf ihren Instinkt. Sie durchlebte Jahre des Hoffens und Bangens, ohne jemals den Kontakt und die offene Tür zu ihrem Kind aufzugeben. Nachdem dieses wieder Land gewonnen hatte, sagte es: „Danke Mama, dass du mich nie aufgegeben hast. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.“

Geduldig, geduldig, geduldig …

Setzen Sie immer wieder neu Ihre Brille mit den herzförmigen Gläsern auf: Welche altersangemessene Zuwendung braucht mein Kind jetzt? Freut es sich besonders über ein nettes Überraschungsgeschenk? Fühlt es sich durch eine bestimmte Unterstützung wertgeschätzt? Wirken anerkennende Worte, Anteilnahme und Verständnis wie Balsam auf seine Seele? Loben Sie im Zweifelsfall auch scheinbar Kleines und Selbstverständliches!
Bloß weil das Kind groß ist, bedeutet das nicht, dass es das alles nicht mehr braucht. Wir selber brauchen es ja auch. Und wenn das (spät)pubertierende Kind gerade sämtliche roten Knöpfe drückt? Was, wenn es mit uns so sehr auf Kriegsfuß steht, dass wir uns für unsere Existenz schon fast schuldig fühlen?

Dann arbeiten Sie als „verdeckter Ermittler“. Zum Beispiel, indem Sie für Ihr Kind und Ihre Beziehung zu ihm beten. Vielleicht fehlt Ihnen angesichts des schweren Wellengangs die Vorstellungskraft, dass es jemals wieder anders werden könnte. Seien Sie geduldig, geduldig, geduldig. Gott hat Vertrauen noch nie unbelohnt gelassen. Es kommen wieder ruhigere Fahrwasser. Kinder mit Besonderheiten in der Biografie sind die besten Lebenslehrmeister. Und: Behalten Sie die Zuversicht, dass Ihre guten, vorgelebten Werte wie Erbgut fest verankert in Ihrem Kind sitzen. Es wird nicht ausbleiben, dass Sie früher oder später etwas davon in irgendeiner Form erleben werden.

Christine Gehrig lebt mit ihrem Mann in Bamberg. Sie hat vier erwachsene Kinder und arbeitet als Nordic-Walking- und Gymnastik-Trainerin und als Lebe-leichter-Coach.

Wie bedeutend ist der Marshmallow-Test?

Ist Selbstkontrolle für die Entwicklung von Kindern wirklich so wichtig? Ein Gastkommentar von Peter Schulze:

Der Psychologe Walter Mischel und sein Team boten in den 60er Jahren Kindern im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments Süßigkeiten an und stellten sie dabei vor die Wahl, diese entweder sofort zu essen oder darauf zu verzichten und später eine zweite Süßigkeit zusätzlich als Belohnung zu erhalten. Im Ergebnis warteten einige Kinder mit der Aussicht auf die Belohnung, während andere die Süßigkeit sofort aßen. Interpretiert und veröffentlicht wurden die Ergebnisse mit Blick auf die Fähigkeit, etwas aufschieben zu können und Selbstkontrolle zu üben und dadurch eher langfristige als kurzfristige Ziele zu erreichen. Später wurden diese Kinder nochmals eingeladen, und es stellte sich heraus, dass diejenigen, denen im Experiment die Selbstkontrolle gelungen war, zielstrebiger und erfolgreicher in Schule und Ausbildung waren.

Diese scheinbaren kausalen Zusammenhänge hatten nach der Veröffentlichung Einfluss auf weitere wissenschaftliche Untersuchungen sowie auf pädagogisches Denken und Handeln. Die Bedeutung der Selbstkontrolle hat inzwischen längst in Erziehungsratgebern Einzug gehalten, wird von dem Neurowissenschaftler Joachim Bauer sogar als „eines der bedeutendsten Ziele, zu denen Kinder und Jugendliche hingeführt werden sollten“ bezeichnet. Walter Mischel selbst veröffentlichte 2014 das Buch „The Marshmallow Test: Why Self-Control Is the Engine of Success“, das 2015 unter dem Titel „Der Marshmallow-Test: Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit“ auf Deutsch erschien.

Im Mai dieses Jahres veröffentlichte der amerikanische Psychologe Tyler Watts mit seinem Team einen Artikel, in dem die Ergebnisse des Marshmallow-Tests in Frage gestellt werden. Anhand einer Studie mit über 600 Teilnehmern zeigen sie auf, dass der Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle im Kindesalter und späterem Erfolg maßgeblich von den sozialen Hintergründen der Eltern und weniger als vermutet von der Fähigkeit zur Selbstkontrolle bestimmt ist. Mischel und sein Team hatten in ihren Untersuchungen verhältnismäßig kleine Stichproben gewählt, die diese Zusammenhänge nicht repräsentativ erfassen konnten.

Von den nun neuen Ergebnissen berichten zahlreiche Nachrichtenmedien schnell mit Überschriften wie „Ist der Marshmallow-Test sinnlos?“ (Süddeutsche Zeitung) oder „Warum der bekannte Marshmallow-Test einem großen Fehler unterliegt. Selbstkontrolle entscheidet bei Kindern nicht über Erfolg“ (news.at) und verunsichern sofort wieder Eltern und Pädagogen.

Als Christ kann man solchen Erkenntnissen und neuen Fragestellungen mit all ihren Unsicherheiten vielleicht entspannter begegnen. So steht doch schon im 1. Brief an die Korinther im 13. Kapitel: „Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. […] Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. […] Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Die Liebe ist es also, die maßgeblichen Einfluss auf unser Denken und Handeln hat. Wenn wir aus dieser Liebe unsere Kinder erziehen, stehen die Chancen gut, dass sich Begabungen und Fähigkeiten entfalten und dass sie ihren eigenen Weg im Leben finden und gehen werden. Natürlich dürfen und sollen wir in unserem Handeln auf dieses Stückwerk unseres Wissens zurückgreifen und somit auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse, aber wir müssen uns stets bewusst sein, dass dieses Stückwerk wahrscheinlich immer wieder revidiert oder aktualisiert werden muss. Wenngleich auch Bibelübersetzungen immer wieder revidiert werden, so haben die Kernaussagen jedoch Bestand und überdauern die Zeit. Ihnen dürfen wir als Christen vertrauen, und so bleiben Glaube, Liebe und Hoffnung ein viel festeres Fundament als alle Erziehungsratgeber, auf das wir uns auch in Zukunft verlassen dürfen.

Peter Schulze ist Berufsschullehrer (Sozialpädagogik/ev. Religion) und arbeitet als abgeordnete Lehrkraft an der Fakultät Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden.