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Zwischen Mauerfall und Brexit

Viola Ramsden ist in der DDR aufgewachsen, hat als Jugendliche die Wendezeit erlebt und viele Jahre an verschiedenen Orten gewohnt – unter anderem in London. Nun ist sie wieder in ihre „Heimat“ zurückgekehrt und denkt darüber nach, wo sie eigentlich hingehört.

Ich bin ein Wendekind. Ein Zonenmädchen. Eine Vertreterin der „Dritten Generation Ost“. Damit gehöre ich zu den rund 2,4 Millionen Menschen, die ihre Kindheit zunächst in der DDR erlebten und anschließend im vereinigten Deutschland erwachsen wurden. Vor einiger Zeit las ich in der WELT, dass wir Zonenkinder mit unserer unablässigen Identitätssuche etwas verzweifelt wirkten. Auch ich habe mich auf die Suche nach Wurzeln und Identität begeben. Ich schreibe sogar regelmäßig darüber in meinem Blog. Doch verzweifelt fühle ich mich dabei kaum. Im Gegenteil: Das Nachforschen hat mich inspiriert, befreit und selbstbewusster gemacht.

Heimat im Erzgebirge

Meine (gefühlte) „Heimat“ ist das Erzgebirge. Hier habe ich meine relativ behütete Kindheit zu DDR-Zeiten verbracht und bin danach während der Pubertät im stressig-verwirrenden, kompliziert-ostdeutschen Chaos der Wendejahre groß geworden. Mein erzgebirgisches Elternhaus ist der Ort, an den ich seither immer wieder zurückkehre, auch wenn sich mein derzeitiger Wohnsitz mal wieder geändert hat.

Von Norddeutschland nach Jerusalem

Nach dem Abitur verschlug es mich als Praktikantin zuerst nach Norddeutschland und dann in den Ruhrpott, bevor ich als Studentin in Marburg und Cambridge lebte. Später verbrachte ich einige Zeit als Volontärin in Jerusalem und Berlin, ehe ich vor 13 Jahren nach London ging. Dort habe ich bis vor kurzem gelebt, geliebt und gearbeitet. Nun sind wir als Familie – mein britischer Mann, mein Kind und ich – nach Deutschland gezogen. Ein unstetes Erwachsenenleben, mit vielen Stationen, Zwischenstopps und noch mehr Adressen. Woran liegt das?

Unterwegs aus Abenteuerlust

Ich vermute, dass eine Mischung verschiedener Faktoren dazu beigetragen hat: die komplexen Erlebnisse und oft schwierigen Zusammenhänge der Wendezeit, mit denen wir ostdeutschen Jugendlichen konfrontiert waren, gepaart mit individueller Neugier, dem Globalisierungsprozess und sich daraus ergebenden Möglichkeiten sowie Abenteuerlust, Weltoffenheit und einer gewissen inneren Unruhe. Trotz aller Weltenbummelei empfinde ich meine ostdeutsche Herkunft auch heute noch als prägend. In meinem Blog denke ich immer wieder ausführlich darüber nach, wie und weshalb das so ist.

Unaufhörlicher Kulturschock

Der abrupte Wechsel von einer vertrauten Gesellschaftsordnung zu einem völlig neuen System fühlte sich in den 90er Jahren wie ein unaufhörlicher Kulturschock und Stresstest an. Allerdings hätte ich das zu dem Zeitpunkt so nicht artikulieren können. Damals musste man da einfach irgendwie durch. Überleben. Alles Neue so schnell wie möglich verstehen und sich zu eigen machen. Verletzungen wurden ignoriert und Hilfestellungen gar nicht erst erwartet.

Als „Ossi“ abgestempelt

Dieser intensive Umbruch hat bei allen Ostdeutschen tiefe Spuren hinterlassen. Ich selbst gehörte zu den Heerscharen junger Menschen, die den Osten verließen, weil sich anderswo bessere Chancen boten. Wie so viele bemühte ich mich um schnelle, bedingungslose Anpassung, um ja nicht als „Ossi“ abgestempelt zu werden. Ich wollte stattdessen als eigenständige Persönlichkeit mit individuellem Charakter, Fähigkeiten und Eigenarten gemocht und anerkannt werden. Meistens gelang das auch, aber doch war da immer das Gefühl, nicht ganz ich selbst zu sein und mit meinen spezifisch ostdeutschen Erfahrungen nicht wirklich verstanden zu werden.

Die Außenseiterin

Es gab Momente, in denen ich meinen Background bewusst verschwieg. Und so manches Mal fühlte ich mich inmitten von gleichaltrigen Westdeutschen als Außenseiterin. Denn natürlich galt das Westdeutsche immer als die (unausgesprochene) Norm, während ostdeutsche Befindlichkeiten als weniger gut, richtig, wertvoll, cool, bedeutsam oder lebenswert wahrgenommen wurden. Eine anstrengende Zeit, die aber auch mit vielen schönen, interessanten und unbeschwerten Jugenderfahrungen, neuen Freundschaften, Spaß und Gelegenheiten gefüllt war.

Neue Heimat: London

So richtig zu mir selbst gefunden habe ich erst während meiner Zeit in London. Denn hier war das Westdeutsche nicht mehr der Normalfall. Inmitten einer kosmopolitischen Metropole wurde ich als eine von vielen verschiedenen Ausländerinnen wahrgenommen. Mein Kollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis rekrutierte sich aus einer Mischung von Menschen aller Kontinente mit den verschiedensten kulturellen und ethnischen Hintergründen, Hautfarben, Religionen und Eigenschaften. Uns alle verband dabei die Erfahrung, sich als Migranten in einem anderen Land zurechtfinden zu müssen. So fühlte ich mich in London schon bald wie zu Hause, und dieses Gefühl hielt über viele Jahre an.

Nicht mehr willkommen

Doch dann erlebte ich eine weitere politische Wende: den Brexit. Nach dem Referendum vor über drei Jahren fühlte ich mich in meiner englischen Wahlheimat nicht mehr willkommen. Die Grundlage, auf der ich mir als EU-Bürgerin dort ein Leben aufgebaut hatte, war plötzlich verschwunden. Hinzu kam die Familiengründung. Bereits seit Jahren hatte ich meine Ursprungsfamilie immer mehr vermisst. Dieses Gefühl verstärkte sich nach der Geburt unseres Kindes zusehends. Die Familie meines Mannes lebt noch weiter weg, in Südafrika. So entschieden wir uns, gemeinsam nach Deutschland zu gehen.

Ungläubiges Staunen

Da wir vorerst einmal zurück in meinen erzgebirgischen Heimatort gezogen sind, bin ich gerade recht intensiv damit beschäftigt, mein Verhältnis zur „Heimat“ neu auszuloten. Es ist eine merkwürdig vertraute Erfahrung, nach einem halben Leben in der Ferne mit einem Mal wieder da zu sein. Momentan herrschen dabei zwei Empfindungen vor. Zuerst eine Art ungläubiges Staunen und Glücksgefühl, dass wir als Familie jetzt hier sein können. Eine riesige Freude darüber, dass mein Sohn sich inmitten der größeren Familie so unglaublich wohl fühlt. Es ist wunderschön zu erleben, wie viele Leute sich über unsere Rückkehr freuen. Ich genieße es, so viel Zeit wie möglich mit Menschen zu verbringen, die ich so lange vermisst habe. Das Gefühl, gewollt zu sein, tut gut! Die andere Komponente ist der Umzug von einer Großstadt aufs Land. Da sind die Gefühle gemischter. Zwar ist es schön, den Stress und die Isolation hinter sich zu lassen, und ich schätze die idyllische Umgebung. Aber ich vermisse die Vielfalt von Menschen und Möglichkeiten.

Wurzeln sind wichtig

Meine ostdeutsch-erzgebirgischen Wurzeln sind für mich mit der Zeit immer wichtiger geworden. Da finden sich viele wesentliche Erfahrungen und Werte, die mich durchs Leben begleiten und leiten: eine Grundeinstellung von Bodenständigkeit und Echtheit, die mich dazu ermutigt, mir selbst treu zu bleiben und mich nicht vom Schein unwichtiger Dinge blenden zu lassen. Dazu kommt jene rigorose Flexibilität, aus den Umständen das Beste zu machen. Eine Eigenschaft, die vor allem während der vielen Jahre im Ausland unentbehrlich schien. Wertvoll sind mir zudem Familien- und Gemeinschaftssinn sowie das stetige Suchen nach tiefen und authentischen Beziehungen. Zu DDR-Zeiten erlebte ich in unserem Dorf ein Umfeld, in dem die meisten Menschen mit ähnlichen finanziellen und sozialen Umständen zurechtkamen. Wohl auch deshalb ist für mich heute eine unstrittige Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung meiner Mitmenschen von zunehmender Bedeutung – inklusive diverser ethnischer, kultureller und religiöser Hintergründe, sowie unabhängig von Geschlecht, sozialem Status, finanziellen Mitteln und sexueller Orientierung.

Zu spät Mutter

Natürlich gibt es in meiner Prägung auch Aspekte, die mein heutiges Leben weniger positiv beeinflussen. Da ist zum Beispiel jener Begriff des ostdeutschen „Gebärstreiks“, weil junge Frauen nach der Wende eine Zeit lang kaum noch Kinder zur Welt brachten. Auch ich war damals komplett damit beschäftigt, mich in meinem neuen Umfeld zurechtzufinden. Später investierte ich meine Energie vor allem darin, mir im Ausland ein Leben aufzubauen. Hinzu kamen einige komplizierte Beziehungserfahrungen. So verging viel Zeit, bevor ich damit anfing, bewusst in ein gemeinsames (Familien-)Leben zu investieren. Nun genieße ich das Mamasein und das Zusammenleben in unserer liebevollen Kleinfamilie sehr. Manchmal wünschte ich mir jedoch, dass ich damit schon etwas eher hätte beginnen können.

Zukunftsangst

Auch das in der Pubertät durchlebte Chaos der Wendejahre hat seine schwierigen Spuren hinterlassen. So kommt es immer wieder vor, dass ich mit Zukunftsangst kämpfe. Ganz besonders habe ich das durch den Brexit gespürt. Die dadurch ausgelöste politische Unsicherheit mit nicht absehbaren Folgen für mein eigenes Leben hat mich unendlich gestresst. Zum Schluss bleibt die Frage: „Wo gehöre ich hin?“ Die Antwort darauf verweist jedoch auf keinen Ort, sondern auf Beziehungen, die mich über die Jahre hinweg begleiten. Das ist vor allem meine Familie, aber auch die Beziehung zu Gott, die mich durch meinen christlichen Glauben weiter trägt. Denn wo immer ich auch gerade bin, kommt mein Glaube mit, ist mein Gott schon da.

Viola Ramsden ist Marketing-Managerin im Erziehungsurlaub sowie Gesprächstherapeutin und Bloggerin unter Myostblog. Sie lebte in den letzten 13 Jahren in London und wohnt momentan mit ihrer Familie im Erzgebirge

Das letzte Jahr mit meinem Vater

Ein Elternteil in die Wohnung aufzunehmen, nachdem man viele Jahre als Familie allein gelebt hat, kann eine Herausforderung sein.

W enn meine Schwester und ich als junge Mädchen über unsere Eltern nachdachten, waren wir uns einig, dass wir zu unserer Mutter die vertrautere, bessere Beziehung hatten. Wenn wir die Wahl hätten, würden wir in ferner Zukunft lieber mit unserer Mutter zusammenleben und sie versorgen als mit unserem Vater. Aber es sollte anders kommen. Meine Mutter starb schon mit 65 Jahren, mein Vater lebte noch 26 Jahre länger. Nach ihrem Tod war er körperlich und geistig so fit, dass er noch gut in seinem Haus leben konnte. Bereits nach einem Jahr hatte er eine neue Lebensgefährtin gefunden. Wir wussten, dass er unsere Mutter geliebt hatte, und empfanden seine neue Freundin als Bereicherung für ihn. Wir waren dankbar, dass er eine Frau gefunden hatte, die sich um ihn kümmerte und sein Bedürfnis nach Nähe und Beschäftigung erfüllte. Wie vorher auch mit meiner Mutter besuchten sie uns regelmäßig, spielten mit unseren Kindern und mein Vater half uns, wo er nur konnte. Besonders beim Bau unseres Hauses setzte er sich stark ein. Es kam uns zugute, dass er handwerklich sehr geschickt war, gerne arbeitete und gerne half. Allerdings hatte er auch seine eigenen Vorstellungen, wie Arbeiten auszuführen seien, was nötig sei und was nicht. Seine großzügige Einstellung: „Das geht schon so!“ und seine Tendenz, das, was er für nötig hielt, auch durchzusetzen, kam gelegentlich in Konflikt mit unseren Wünschen und Vorstellungen. Trotzdem war klar, dass in unserem Haus immer ein Platz für ihn sein würde, wenn seine Versorgung oder Pflege zu bewältigen wäre.

BARRIEREFREI
Zwanzig Jahre später war es dann so weit: Seine Gesundheit wurde deutlich schlechter. Es war vorhersehbar, dass seine Lebensgefährtin, die mittlerweile 87 Jahre alt war, ihn nicht dauerhaft würde versorgen können. Mein Vater entwickelte eine Blutkrankheit. Er brauchte alle sechs Wochen eine Blutübertragung und wurde immer schwächer. Als er für ein Wochenende bei uns war, merkten wir, dass er sich nicht mehr orientieren konnte und die Treppen nur sehr schlecht bewältigte. Daher beschlossen wir ganz spontan, das Arbeitszimmer meines Mannes in die für meinen Vater vorgesehene Kellerwohnung zu verlegen. Damit war ein Zimmer in unserer Wohnung im Erdgeschoss frei, das wir ihm einrichten konnten. Da mein Mann gerade etwas Zeit hatte und auch unsere erwachsenen Kinder helfen konnten, hatten wir das neu möblierte Zimmer innerhalb von sechs Wochen fertig. Es war zuerst als Gästezimmer gedacht, doch es erwies sich, dass Gottes Timing genau richtig war. Eine Woche, nachdem das Zimmer fertig war, kam mein Vater ins Krankenhaus. Sein Zustand verschlechterte sich so, dass er anschließend per Krankentransport zu uns gebracht wurde. Es war alles für ihn vorbereitet. Eine behindertengerechte Dusche hatten wir ein Jahr vorher im Erdgeschoss einbauen lassen. Er bekam sofort Pflegestufe eins. Im Rückblick ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, rechtzeitig auch bauliche Vorkehrungen zu treffen, damit barrierefreies Wohnen möglich ist.

ALTE EMPFINDLICHKEITEN
Während mein Vater anfangs noch stark desorientiert war, besserte sich sein Zustand zusehends. Er konnte allein zum Tisch und zur Toilette gehen und eine Zeitlang noch mit uns zum Gottesdienst kommen. Für ihn war es selbstverständlich, dass er den ganzen Tag bei uns im Wohnzimmer auf dem Sofa saß oder lag und alles interessiert mitverfolgte, was bei uns passierte. Nur wenn wir Hauskreis in unserer Wohnung hatten, blieb er in seinem Zimmer. Wie gut, dass morgens die Mitarbeiterin der häuslichen Krankenpflege kam. Sie cremte ihn ein und half ihm beim Waschen und Anziehen. Das schützte meine und seine Intimsphäre. Ihre Gespräche brachten auch neue Impulse in seinen Alltag. Mein Vater klagte nicht. Er war lieb und freundlich und versuchte, uns keine Last zu sein. Obwohl ich ihn gern versorgte, merkte ich mehr und mehr, dass ich seine ständige Anwesenheit als Bedrohung meiner Privatsphäre empfand. Ich interpretierte sein Interesse an allem, was unser Leben betraf, als unangebrachte Neugier. Fragen wie: „Hat deine Nachbarin wieder einen Freund?“ und „Wie geht es in der Gemeinde?“ mochte ich nicht beantworten. Obwohl ich sein Bedürfnis nach Nähe und Teilhabe verstand, entdeckte ich in mir die Gefühle und Verhaltensweisen eines Teenagers, der nicht will, dass sein Vater alles weiß und sich einmischt. Ich hatte das Bedürfnis, meine innere Selbständigkeit und die Ablösung von meinem Vater zu behalten. Selbst harmlose Bemerkungen wie „Mach die Tür zu!“ und „Mach das Licht aus!“ weckten meinen Widerstand. Ich wollte Herr in meinem eigenen Haus bleiben, bestimmen, welche Musik gehört wurde und telefonieren, ohne dass mein Vater zuhörte. Ich wollte weder seine Mutter sein, die seine Bedürfnisse nach Nähe und Beschäftigung stillte, noch seine Lebenspartnerin, deren Leben sich vor allem um seine Wünsche gedreht hatte. Ich habe mich aber nie getraut, diese Gefühle meinem Vater gegenüber anzusprechen und ihn zu bitten, öfter in seinem Zimmer zu bleiben. Er würde das nicht verstehen, dachte ich.

GUT UNTERSTÜTZT
Wie gut, dass ich mit der Versorgung meines Vaters nicht alleine dastand. Mein Mann und meine Kinder unterstützten mich. Besonders die Kinder liebten ihren Opa und konnten ihm das auch zeigen. Mein Mann half in allen praktischen Dingen des Alltags. Auch meine Schwester war uns eine große Hilfe. Ich konnte alle Dinge, die meinen Vater betrafen, mit ihr besprechen – auch meine negativen Gefühle. Ich hörte keine Kritik, sondern bekam Ermutigung und Unterstützung. Als wir in den Urlaub fahren wollten, zog sie für eine Woche bei uns ein, um unseren Vater zu versorgen. Und auch manches Wochenende vertrat sie uns. Mein Vater wurde zusehends schwächer und empfand sein Leben als beschwerlich. Er hatte aber keine Schmerzen und auch keine Angst vor dem Tod.

TRAURIG UND BEFREIT
Es kam der Tag, an dem ich mir bei einem Sturz den Knöchel brach. Nur Stunden später erlitt mein Vater einen Schlaganfall. Wir lagen für eine Woche im selben Krankenhaus. Mit dem gebrochenen Knöchel wäre es mir unmöglich gewesen, ihn weiter zu Hause zu versorgen. Doch er verstarb friedlich, ehe ich ihm das sagen musste. Das empfand ich im Nachhinein als gutes Timing Gottes. Meine Schwester hatte Zeit, um ihn in den letzten Tagen zu begleiten. Wir verstanden seinen Tod mit 91 Jahren als das Ende eines guten, zuletzt aber auch beschwerlichen Lebens. Ich war traurig, fühlte mich aber auch befreit. Im Nachhinein habe ich bemerkt, dass ich mich besonders an den Eigenarten meines Vaters gerieben habe, die ich auch bei mir selbst feststelle. Daher will ich schon jetzt versuchen, meine Neugier gegenüber unseren Kindern zu zügeln oder zumindest nicht zu zeigen. Und ich will nicht immer erwarten, dass alles so läuft, wie ich es mir vorstelle. Auch ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, die Privatsphäre meiner Kinder zu respektieren und ihnen ihren Freiraum zu lassen.

SCHULDGEFÜHLE
Wenn ich heute über die letzte Zeit mit meinem Vater nachdenke, bekomme ich manchmal Schuldgefühle. Das passiert besonders, wenn ich davon lese oder höre, dass andere die letzte Zeit mit einem zu pflegenden Elternteil als Beginn einer neuen innigen Beziehung empfunden haben. Aber ich wollte nicht zu viel Nähe haben. Heute denke ich, dass ich ihm die letzte Zeit ein wenig schöner hätte machen können, etwa durch mehr herzliche Berührungen und intensivere Gespräche. Wenn ich mit meinem Mann oder meiner Schwester darüber rede, entgegnen sie mir, dass mein Vater sich bei uns wohlgefühlt hat und ich es gut gemacht habe. Aber die Schuldgefühle blieben noch lange. Irgendwann ist mir klargeworden, dass es weder sinnvoll ist, über meine Versäumnisse nachzugrübeln noch mir immer wieder die Bestätigung einzuholen, dass ich alles richtig gemacht habe. Gott kennt mein Herz und auch meine Versäumnisse. Er hat mir darüber Vergebung und Frieden geschenkt.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Was Kinder und Eltern brauchen – Bericht von der FEBuB

Am Wochenende fand in Bochum die FEBuB statt – die Familienkonferenz für Elternschaft, Bindung und Beziehung. Hier trafen sich Fachleute und Eltern, denen das Konzept einer bindungsorientierten Elternschaft am Herzen liegt. Zu den Referent/innen gehörten unter anderem der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster, Nicola Schmidt (artgerecht-Projekt), Susanne Mierau (geborgen wachsen), die Autorin Nora Imlau und familylab-Gründer Mathias Voelchert.

Bei einer bindungsorientierten Elternschaft steht die Bindung und Beziehung zwischen Eltern und Kindern im Mittelpunkt. Ein wichtiger Grundsatz ist, dass vor allem bei Babys und kleinen Kindern möglichst prompt und einfühlsam auf ihre Bedürfnisse reagiert wird. Tragen, (langes) Stillen und Familienbett spielt für die meisten bindungsorientierten Eltern eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren wurde auf den entsprechenden Blogs und in Büchern oft sehr stark die Betonung darauf gelegt, dass Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen und erfüllen. Auffällig bei der FEBuB war, dass inzwischen auch die Bedürfnisse der Eltern stärker in den Fokus gerückt sind. So sprach Nicola Schmidt vom „artgerecht-Projekt“ in ihrem Vortrag darüber, wie Eltern den Stress aus dem Familienalltag nehmen können. Und dass es nicht nur für Kinder, sondern auch für Eltern dringend notwendig sei, Geborgenheit zu erfahren.

Auch Susanne Mierau, die für das Konzept „geborgen wachsen“ steht, ging intensiv auf die Elternbedürfnisse ein und gab Anregungen, wie die Bedürfnisse der Kinder und der Eltern in ein Gleichgewicht kommen können. Lienhard Valentin, der den Verein „Mit Kindern wachsen“ gegründet hat, beschrieb, wie Eltern zu mehr Gelassenheit kommen können.

Auch bei Nora Imlaus Vortrag über die Geburt ging es nicht nur darum, wie Kinder gut geboren werden, sondern auch wie Mütter gut gebären können. Und dass Mütter ein Recht auf eine gute Geburt haben.

Am stärksten die Eltern im Blick hatte allerdings Mathias Voelchert, der betonte, dass es Kindern nur so gut gehe, wie es den Eltern geht. Er plädierte dafür, dass nicht die Kinder im Aufmerksamkeitszentrum der Familie stehen sollten, sondern die Eltern.

Insgesamt stand bei allen Referent/innen das Thema Bindung im Mittelpunkt. Und dass immer mehr Eltern sich mit diesem Thema auseinandersetzen, ist eine gute Entwicklung. Letztlich kommt es darauf an – wie die Psychotherapeutin Stefanie Stahl in ihrem Vortrag betonte –, dass sowohl die Bindungsbedürfnisse als auch die Autonomiebedürfnisse eines Kindes erfüllt werden. Sie zeigte Wege auf, wie Eltern, die diese Balance als Kind selbst nicht erlebt haben, dies aufarbeiten und damit viele ihrer Probleme angehen können.

Was auffiel: Es waren zwar auch Väter vertreten, insgesamt aber scheint die bindungsorientierte Elternschaft vor allem ein Thema für die Mütter zu sein. Wie sagte eine Mutter so schön: „Mein Mann lässt mir freie Hand.“ Es wäre zu wünschen, dass mehr Männer sich mit Familien- und Erziehungsthemen auseinandersetzen und nicht einfach die Frauen machen lassen. Eine Chance dazu bietet sich spätestens 2019: Dann geht die FEBub in die zweite Runde.

Bettina Wendland

Redakteurin Family und FamilyNEXT

PS: In der nächsten Ausgabe von Family veröffentlichen wir ein Interview mit Susanne Mierau, in dem es unter anderem darum geht, wie bindungsorientierte Elternschaft aussieht.

„Wie leises Gift…“

Andere meinen, wir seien eine richtige „Vorzeigefamilie“: Wir haben ein schönes, selbst renoviertes Haus mit Garten, Hund und Kater. Eine gute Ehe und zwei Töchter (17 und 19), die fleißig lernen. Alle vier sind wir in eine lebendige Kirchengemeinde integriert und übernehmen jeweils kleinere Ehrenämter. Doch dieses Bilderbuchidyll bekam einen Riss, als unsere Jüngste vor vier Jahren nach einer ärztlichen Untersuchung ihr Gewicht zu hoch fand und eine Diät begann …

ZURÜCKGEZOGEN
Nach einem halben Jahr sprach eine Freundin mich an, dass Anneli (Name geändert) so abgenommen habe. Sie sagte, ich solle mal genauer hinschauen. Nicht dass sie noch eine Essstörung bekommt. Anneli verzichtete zu dieser Zeit total auf Süßes und joggte regelmäßig. Ich fand es gut, dass sie plötzlich Sport machte. Doch ich merkte, dass sie immer schmaler und stiller und unglücklicher wurde. Ich sprach sie auf ihr Essverhalten an. Sie meinte, dass sie gewisse Dinge nicht mehr essen könne. Nach und nach verweigerte sie immer mehr. Sie aß nun weder Eis noch Kuchen, mochte keine Schokolade oder Limo mehr! Dazu kam, dass sie sich immer mehr zurückzog. Sie bekam keine Besuche von Freundinnen mehr, wollte sich mit niemandem verabreden. Ein paar Monate zuvor war sie die Lebhafteste in unserer Familie gewesen. Unser Haus war oft voll mit ihren Freunden. Doch nun wirkte sie traurig, war in sich gekehrt und bekam keine Besuche mehr. Nach einigen Gesprächen willigte sie schließlich ein, mit mir zu einer Ernährungsberatung zu gehen. Sie hörte aufmerksam zu und nickte, konnte aber keinen der gut gemeinten Tipps umsetzen. Stattdessen aß sie immer weniger und nahm ständig ab. Wir gingen zum Arzt, informierten uns im Internet und hatten schließlich die Diagnose: Anorexia nervosa – Magersucht!

TRAURIGER GEBURTSTAG
Anneli begann eine ambulante Therapie. Wir wussten, dass es auch Kliniken gibt, die diese Krankheit stationär behandeln. Doch in meinem Kopf sperrte sich alles gegen einen Klinikaufenthalt. Dort konnte man frühestens mit 14 Jahren hin. „Davon sind wir weit entfernt“, dachte ich. Annelis 14. Geburtstag war ein trauriger Tag: Sie war freudlos und depressiv und wog nur noch 34 Kilo. Der Arzt wollte sie in eine Klinik einweisen. Ich heulte, denn das wollte ich auf keinen Fall. Wir versuchten immer wieder, Anneli zum Essen zu bringen: mit Liebe und Zuneigung, mit Gesprächen und Gebeten, mit Strenge … Nichts half! Als sie nur noch 31 Kilo wog, musste sie ins Krankenhaus. Sie kam auf die Kinderonkologie. Ich konnte es kaum ertragen: Da sind kleine Kinder ohne Haare, die kämpfen tapfer ums Überleben, und meine Tochter isst nichts mehr! Ich weinte verzweifelt wie noch nie in meinem Leben. Ich verstand diese Krankheit nicht. „Iss doch endlich!“, dachte ich nur.

LANGE WOCHEN
Vom Krankenhaus kam Anneli direkt in eine Spezialklinik für Essgestörte. Dort konnte man sie etwas aufpäppeln und stabilisieren. Es war eine anstrengende Zeit für uns alle: Zu Hause kamen wir zu dritt zwar zurecht, aber Anneli fehlte uns sehr. An den Wochenenden mussten wir weit fahren, um sie zu besuchen. Und wir lebten mit der Angst, dass Anneli noch viele Jahre so leiden muss und vielleicht nie geheilt wird. Umso glücklicher waren wir, als sie nach 13 Wochen endlich nach Hause kam. Doch damit war die Geschichte nicht zu Ende. Wir bemühten uns sehr, alles zu tun, damit sie zu Hause wieder zurechtkam. Aber irgendetwas machten wir falsch: Innerhalb von sechs Wochen nahm sie fünf Kilo ab. Wir mussten sie wieder in eine Klinik bringen. Dort blieb sie für 16 lange Wochen. Die Magersucht ist wie leises Gift in unsere harmonische Familie getröpfelt und hat uns alle bis zur Erschöpfung gefordert. Unsere Ehe wurde stark geprüft. Wir hatten nur noch Vorwürfe und böse Worte füreinander. Unsere ältere Tochter hat sich in dieser Zeit zurückgezogen, sie war oft bei ihrem Freund und hielt sich – wie wir damals meinten – aus allem raus. Immer lebten wir zwischen Hoffen und Verzweifeln. Ständige Überlegungen quälten mich: Was mache ich falsch? Wieso trifft es uns? Es gab kein einschneidendes Erlebnis wie einen Umzug oder eine Trennung oder andere Auslöser. Deshalb klagte ich mich selbst an: Bin ich als Mutter an ihrer Erkrankung schuld?

GEMEINSAM HELFEN
Damit unsere Ehe nicht weiter leidet, sind wir irgendwann zur Eheberatung gegangen. Dort konnte man uns mit Paargesprächen nachhaltig helfen. Zusätzlich verbrachten wir eine Woche mit drei Paaren und den beiden Ehe-Therapeuten an der Ostsee. Diese intensive Ehe-Zeit hat uns gezeigt, dass wir zusammengehören und unserem Kind nur gemeinsam helfen können.Ein wichtiger Anker für mich waren Freundinnen, mit denen ich beten kann. Oft hatte ich keine Worte für Gott, nur pure Verzweiflung! Wenn ich aber wusste, die anderen beten für uns, hat mich das sehr getröstet. Auch meine Schwester ist mir in dieser harten Zeit zu einem Anker geworden. Während eines Gebets sah ich ein inneres Bild: Anneli lag fast tot auf einer Bahre. Doch dann kam Gott und hauchte ihr wieder seinen Odem, seinen göttlichen Atem ein, und Anneli öffnete ihre Augen. Ich habe mich an diesem Bild festgeklammert. Das war eine eindrückliche und intensive Verheißung. Ich vertraue darauf, dass dieses Bild von Gott kam und er mir damit versprochen hat, Anneli zu helfen.

KEIN ENDE DES TALS IN SICHT
In unserer Gemeinde behandelten wir einige Wochen lang den Psalm 23. Wir lasen dazu das gleichnamige Buch von Jörg Ahlbrecht. Als ich das Kapitel um den 4. Vers las – „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir“ – habe ich bitterlich geweint. Es war noch lange kein Ende des dunklen Tals in Sicht. Doch zu wissen und manchmal auch zu spüren, dass Gott neben mir geht und mich stützt, ist eine so tröstende Hoffnung, dass ich mich auch an diesem Bild festklammere. Außerdem habe ich mich über die Erkrankung informiert, habe Sachbücher und Erfahrungsberichte gelesen. Der Feind ist nicht so gefährlich, wenn man ihn kennt. Das hilft mir, zwischen Anneli und der Essstörung zu unterscheiden. Wenn sie uns wieder einmal belügt oder austrickst, weiß ich: Das ist nicht Anneli, sondern die Essstörung in ihr.

OFFENHEIT UND KLARHEIT
Ich musste lernen, alle Kontrolle über Anneli loszulassen. Ich muss vertrauen, dass die Therapeutin den richtigen Weg mit ihr geht, dass die Kliniken das Richtige tun, dass Anneli lernt, sich wieder „normal“ zu ernähren, dass sie von Gott gehalten und geliebt ist, dass ich als Mutter kaum noch Einfluss habe. Außerdem muss unsere Familie jetzt lernen, unangenehme Dinge anzusprechen und auszudiskutieren. Unser obers-tes Familiengebot ist nicht mehr Harmonie, sondern Offenheit und Klarheit. Seit ich weiß, dass diese Art der Essstörung hauptsächlich in konfliktscheuen, harmoniesüchtigen Familien vorkommt, hat das Wort Harmonie bei mir einen negativen Beigeschmack bekommen. Und eine weitere Erkenntnis möchte ich teilen: Es ist absolut sinnlos, nach dem Warum zu fragen. Diese Frage hat mich immer nur in Sackgassen und dunkle Räume geführt. Sie bringt überhaupt nichts, sie hilft nicht, sondern verbittert nur. Ich schaue lieber nach Veränderungen und stelle fest, dass ich weicher geworden bin, gnädiger und verständnisvoller für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Unser Miteinander in der Ehe ist aufmerksamer geworden, wir können wieder lachen und lassen uns nicht zu sehr von Annelis Launen anstecken. Und wir besprechen unsere Kritik aneinander nicht im Affekt, sondern in Ehegesprächen, im geschützten Rahmen, wenn der „Dampf“ abgelassen ist. Unser Blick ist nicht mehr nur noch auf Anneli gerichtet, sondern auch auf uns und unsere große Tochter. Inzwischen wissen wir, dass sie unglaublich unter der Situation gelitten und ihre Traurigkeit vor uns verborgen hat, um uns Eltern nicht noch mehr Sorgen zu machen. Jetzt ist Anneli 17 und seit vier Jahren erkrankt. Im Schnitt dauert diese Krankheit sechs bis sieben Jahre! Wir sind noch lange nicht durch, haben aber einen Weg gefunden, uns damit zu arrangieren. Wir lernen täglich weiter: Gott zu vertrauen, Anneli das Essen zuzutrauen, wieder Pläne zu machen, das Leben zu genießen.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Willkommen in der Familie!

„Unser Sohn (17) hat zum ersten Mal eine feste Beziehung. Wir sind etwas unsicher, ob wir seine Freundin eher wie einen Gast oder wie ein neues Familienmitglied behandeln sollen. Diese Frage stellt sich vor allem bezüglich des Urlaubs oder diverser Familienfeiern.“

Sie als Eltern können viel machen, damit Ihre heranwachsenden Kinder den Start in das Beziehungsleben positiv erleben. Vertrauen und Selbstbestimmtheit sind die Voraussetzung, um Verantwortung für sich und den Partner oder die Partnerin zu übernehmen. Das bedeutet aber nicht, dem Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass es den Eltern egal sei, was er tut. Alle Freiräume zuzugestehen, wird häufig als Gleichgültigkeit empfunden und nicht als Vertrauensbeweis verstanden. Sie machen es Ihrem Sohn am leichtesten, wenn Sie seiner Freundin aufgeschlossen gegenübertreten und sie in der Familie willkommen heißen. Sie sollten den Gast als Freundin des eigenen Kindes ernstnehmen und dies auch im Miteinander spüren lassen, ihr jedoch Zeit lassen, in der Familie anzukommen. Jugendliche mögen es nicht, wenn man sie überfällt. Neugierige Fragen sind nicht angebracht und verschrecken eher. Gemeinsames Kochen oder ein „Spieleabend“ laden dazu ein, die neue Freundin zu integrieren. Bei Einladungen zu Familienfeiern und zu gemeinsamen Aktivitäten wie Urlauben ist es gut, sich und der Freundin des Kindes Zeit zu lassen. Am besten ist es, die Einladung frühzeitig mit Ihrem Sohn und seiner Freundin zu themat i s ieren und gemeinsam zu überlegen, ob die neue Partnerin sich wohlfühlen würde. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, das Tempo der Beziehung die Kinder selbst bestimmen zu lassen. Und abgewartet, bis die Beziehung sich so gefestigt hatte, dass dieser Schritt denkbar und machbar war.

 

Ute Wegend ist verheiratet und Mutter von vier bereits ausgeflogenen und zum Teil verheirateten Kindern. Sie ist Multiplikatorin des Glaubenskurses „Stufen des Lebens“ in Berlin und Brandenburg.

 

Abschied von den Zugvögeln

Bianka Bleier blickt den flügge gewordenen Kindern hinterher.

 

Durchwachsenes Sommerwetter haben wir dieses Jahr. Wolkenberge jagen am Himmel entlang und färben die Landschaft in Molltönen. Gerade noch haben Amseln und Nachtigallen ihre Frühlingsduette geschmettert, nun plündern bereits Starenwolken die Weinberge, die Störche werden unruhig und halten ihre Flügel in den Wind. Ihre Jungen sind groß geworden und flugfähig, bald werden sie sich auf die große Reise machen. Fasziniert beobachte ich Jahr für Jahr den Wandel der Zugvögel. Auch unsere Kinder sind flügge geworden und in die große weite Welt ausgeflogen. Anfangs war mir das Herz schwer. Ich bin ja nicht blind hineingestolpert in das große Loslassen, ich habe es sehenden Auges getan, aber das hat mir nichts genutzt, das Leben will gelebt werden. Unsere drei Nestflüchter haben ihr Nest alle im selben Jahr verlassen. Ich habe die Zeit vor ihrem Auszug bis auf den letzten Tropfen genossen, gleichzeitig gestöhnt über die Vielschichtigkeit der Herausforderungen, die häusliche Enge, die lebhafte Präsenz der jungen Erwachsenen, die vor allem mit sich selbst beschäftigt waren, die dichte Verantwortung für die letzte Phase vor dem Abflug, die Zerrissenheit zwischen mir, den Kindern und meinem Mann, der völlig anders mit dem abschiedlichen Leben umging. Wir sind zur Seite gestanden bei Liebeskummer, haben bei Schulabschlüssen und Berufsfindung gecoacht, haben geholfen, unvergessliche Hochzeitsfeiern und Abschiedsfeste zu zelebrieren und unsere Zugvögel zum Kontinentwechsel bis ans Gate chauffiert. Dann waren sie weg.

AUS DER SCHOCKSTARRE ERWACHT
Gerade noch das wilde Leben und plötzlich wieder zu zweit. Zuerst weinten wir. Dann verstummten wir. Das Vakuum, das sie hinterließen, war enorm. Aber als Werner eines Tages monierte, er käme sich vor wie im Altersheim, erwachte ich empört aus der Schockstarre. Wir schüttelten unsere Felle, sahen uns um und begannen, vorsichtig auf Entdeckungsreise zu gehen. Und siehe da: Das Vakuum war gar keine bedrohliche Leere, sondern freier Raum! Ein Land voll Möglichkeiten. Kraft war noch da. Lebenserfahrung hatte sich angesammelt, Lebensspuren sich gebildet, Netzwerke waren entstanden. Es gab Ressourcen und Potenziale, die wir zwanzig intensive Familienjahre lang für nichts nutzen konnten außerhalb der großen, geliebten, selbst gewählten Aufgabe. Aber jetzt war Raum und Zeit für etwas, das auch in uns war, sich entfalten wollte und durfte. Das klingt glatter, als es war. Mir half gute Lektüre und seelsorgerliche Begleitung zu vielen Themen die in der Lebensmitte aufbrechen. Aber keinem hätte ich geglaubt, der mir gesagt hätte, welche Überraschungen das Leben noch für mich bereit hielt nach dem Abflug der Kinder.

ALTER LEBENSTRAUM
Ich liebe mein Leben, so wie es ist. Ich habe es geliebt, mit den Kindern unter einem Dach zu leben, Familienleben aufzubauen, Verantwortung zu tragen, ihre Entwicklung mitzuerleben, sie zu lieben und ihre Liebe zu tanken. Und, ja, alles hat seine Zeit. Kaum ein anderer Satz aus der Bibel kommt mir so oft in den Sinn. Nach dem Verlassen dieses intensiven Lebensraumes begann etwas erstaunlich Neues. In der Ruhe, die einkehrte, stieg ein alter Lebenstraum in uns hoch, der die Chance barg, Wirklichkeit zu werden, weil nun die Zeit reif dafür war. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, fragte Werner und ich lernte den Pionier an meiner Seite noch einmal von einer neuen Seite kennen – und er mich. Wohl wissend, dass wir nicht mehr die Jüngsten sind und unsere Zeit in Gottes Hand steht, begannen wir gemeinsam mit Freunden ein Projekt, das zu einem neuen Lebensschwerpunkt wurde. Ich liebe es, wenn unsere Zugvögel ihr Nest aufsuchen und wir weiterhin, punktueller nun, Leben teilen. Aber ich liebe auch meine alte neue Freiheit mit den Möglichkeiten eines Lebens mit geringerer Verantwortung.

Bianka Bleier betreibt zusammen mit Freundinnen das Ladencafé Sellawie und lebt mit ihrem Mann in Forst/Baden.

„Kinder müssen ermutigt werden, die Familie zu verlassen“

In Family und nun besonders in FamilyNEXT beschäftigen wir uns regelmäßig mit dem Thema „Ablösung“. Für viele Eltern ein schwieriger Prozess, der sie ihr ganzes Elternsein begleitet: vom Abstillen über den ersten Tag im Kindergarten bis zum Auszug aus dem Elternhaus gibt es viele kleine und große Abschiede. Oder andersherum: Viele Schritte des Kindes in Richtung Selbstständigkeit. Das fordert Eltern einiges ab.

Der Soziologe Dirk Baecker spricht in diesem Zusammenhang von einer Paradoxie: „Die Familie muss ihre Kinder unglücklich genug machen, um die Familie verlassen zu wollen, und glücklich genug, um selbst eine Familie gründen zu wollen.“ Im Interview mit dem Philosophie Magazin, das sein Dossier der aktuellen Ausgabe dem Thema „Die Familie – Zuflucht oder Zumutung?“ widmet, erläutert Baecker die komplexen Herausforderungen, denen sich Eltern gegenüber sehen:

„Familie ist ja zunächst nichts anderes als Sorge für den Nachwuchs. Dieser Nachwuchs darf aber nicht auf alle Zeiten an die Eltern gebunden werden, sondern muss irgendwann selbst Nachwuchs zeugen und beim Aufwachsen begleiten. Dazu muss die Herkunftsfamilie verlassen und eine eigene Familie gegründet werden. In die Familie ist somit zwangsläufig der Keim ihrer Selbstauflösung zugunsten ihrer Neugründung miteingebaut.“ Eine Perspektive, die viele Eltern im Alltag wahrscheinlich nicht so sehr im Blick haben. Oder erst dann, wenn die Kinder so langsam erwachsen werden. Dabei fängt die Erziehung zur Selbstständigkeit ja schon viel früher an.

Dirk Baecker erklärt: „Eltern denken oft, ihre Kinder müssten sich ganz natürlich für ähnliche Dinge wie sie selber interessieren. Doch dann stellen sie bereits beim Sandkastenspiel, auf dem Basketballfeld oder in der Schule fest, dass ihre Kinder andere Kategorien und Präferenzen entwickeln und sich von anderen gesellschaftlichen Möglichkeiten anziehen lassen. Besteht zwischen Eltern und Kindern nun keine Gesprächsebene, auf der solche Eindrücke ausgetauscht werden können, entsteht zunehmend ein Gefühl der Irritation.“

Damit Ablösung gut gelingen kann, ist eine gewisse Balance gefragt: „Die Kinder müssen dazu
ermutigt werden, ihr eigenes Leben zu führen und ihre Familie verlassen zu wollen. Doch zusammen mit dieser Ermutigung muss das Bedauern mitgeteilt werden, dass man sich auseinanderlebt – um eben im Gegenzug die Kinder darin zu unterstützen, selbst wieder eine Familie gründen zu wollen.“

Im Dossier des aktuellen Philosophie Magazins sind neben dem Interview mit Dirk Baecker viele weitere Einblicke in die Zusammenhänge und Herausforderungen von Familie zu lesen: Wie kann es sein, dass Familie gleichzeitig als Zuflucht und Zumutung empfunden wird? Ist Zorn auf die eigenen Eltern normal? Wie können Kinder ihren eigenen Weg finden? Was schulden sie ihren Eltern? Ist das klassische Modell der Kleinfamilie überholt? Weitere Infos: http://philomag.de/

Qualitätszeit statt Zeitfresser

89 Prozent aller Eltern würden gern mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. 86 Prozent würden gern mehr schlafen. Und 84 Prozent hätten gern mehr Zeit für partnerschaftliche Intimität. Im Auftrag des deutschen Familienministeriums hat McKinsey Eltern von minderjährigen Kindern zu Qualitätszeit und Zeitfressern befragt. Mehr Zeit hätten Eltern auch gern für Kultur und Unterhaltung, Nichtstun, Hobbys und persönliche Bildung. Warum kommt das alles zu kurz? Was sind die Zeitfresser im Alltag? Womit würden Eltern gern weniger Zeit verbringen? Hier werden am häufigsten Putzen und Aufräumen, der Weg zur Arbeit und Arztbesuche genannt.

Vor diesem Hintergrund hat McKinsey untersucht, inwieweit digitale Technologien Eltern helfen könnten, ihre Zeit mehr mit dem zu verbringen, was ihnen wichtig ist. Sie haben drei Möglichkeiten zusammengefasst:

1. Selbstorganisation

Durch einfachere und bessere Planung können Eltern Zeit und/oder Geld einsparen. Beispiele dafür sind der gemeinsame digitale Einkaufszettel, auf den jedes Familienmitglied Zugriff hat, oder der Familienkalender, mit dem sich die wöchentlich anstehenden Termine inklusive Fahrten organisieren lassen.

2. Außenkontakte

Werden möglichst viele Produkte und Dienstleistungen bei einem Anbieter gebündelt und verstärkt Onlineangebote genutzt, lassen sich ebenfalls zeitliche Freiräume schaffen. Ein Beispiel ist Video-Streaming als Ersatz für die stationäre Videothek oder Onlinebanking, das heute selbst Kontoeröffnungen ohne jeden physischen Kontakt erlaubt.

3. Strukturelle Veränderungen

Weiterreichende Möglichkeiten ergeben sich, wenn bestehende Strukturen verändert und durch neue ersetzt werden. Dazu zählen beispielsweise neue Wohnkonzepte und Smart Cities sowie neue Konzepte für Mobilität (z.B. autonomes Fahren) und Arbeit (z.B. flexible Arbeitszeiten, Home Office).

Neben dem, was heute schon möglich ist (Roboter fürs Saugen oder Rasenmähen, Tools fürs Home-Office, Lebensmittel online kaufen und liefern lassen …) entwirft die Studie einen Ausblick auf 2025: Das Leben im „Smart Home“ ermöglicht durch Vernetzung und Automatisierung eine Zeitersparnis bei typischen Hausarbeiten. Der „Smart Assistant“ organisiert Familien-, Handwerker- und Arzttermine. Beim „Smart Driving“ ermöglicht das selbstfahrende Auto mit Routenoptimierung kürzere Fahrzeiten. Und „Smart Shopping“ lenkt einen direkt zum richtigen Supermarktregal, weil der Kühlschrank schon vorher gemeldet hat, was gebraucht wird.

Dass diese Entwicklungen alle kommen werden, bezweifle ich nicht. Ob sie dazu führen, dass Familien mehr Zeit fürs Wesentliche haben, allerdings schon. In einzelnen Bereichen wird es sicher Entlastung geben, in anderen werden neue unliebsame Aufgaben dazukommen. Dann stürzt nicht nur das Laptop ab, sondern auch der Kühlschrank. Jede Vernetzung muss auch gesichert werden – das erfordert einiges an Knowhow.

Digitale Hilfsmittel sind nicht mehr als das: Hilfsmittel. Meinen Umgang mit meiner Zeit muss ich schon selbst auf die Reihe bekommen. Und was mich wundert: Bei den Zeitfressern werden gar nicht die digitalen Medien genannt. Dabei sind es oft ja sie, die uns die Zeit rauben. Wie schnell ist eine halbe Stunde vorbei, wenn ich auf Facebook unterwegs bin? Wie oft unterbricht eine Whatsapp-Nachricht das, was ich gerade tue? Deshalb finde ich es etwas lebensfremd, digitale Technologien als Allheilmittel darzustellen. Entscheidend bei allen Hilfsmitteln ist, wie der Mensch damit umgeht. Und das gilt meiner Meinung nach auch und ganz besonders für die schöne neue digitale Welt.

Bettina Wendland

Family-Redakteurin

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