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Schulstart: 5 Tipps, wie die Umstellung im Familienalltag leichter gelingt

Mit der Einschulung ändert sich das Leben für Kinder und Eltern. Worauf gilt es zu achten, um die Umstellung leichter zu meistern? Sarah Kröger weiß, was hilft.

Meine Tochter kommt im Sommer schon in die dritte Klasse. Ich weiß noch genau, wie aufregend der Schulstart damals für uns war. So viel war neu und veränderte sich. Wir alle mussten früher aufstehen, meine Tochter den ganzen Vormittag stillsitzen. Außerdem gab es von da an rund 12 Wochen Schulferien im Jahr, für die wir uns eine Betreuungslösung ausdenken mussten. Doch wie ist uns die Umstellung eigentlich gelungen? Ich muss gestehen: Vieles habe ich wieder verdrängt. Das Gehirn leistet Erstaunliches, wenn es darum geht, schwierige Dinge zu vergessen. Deswegen frage ich einfach mal bei meiner Tochter nach.

1. Der frühe Start in den Morgen

Wirklich schwer fiel ihr das frühe Aufstehen zum Schulbeginn, erzählt meine Tochter und findet: „Die Schule soll um neun beginnen, dann kann ich wenigstens bis acht Uhr ausschlafen.“ Das finde ich auch. Es gibt viele Studien, die belegen, dass ein zu früher Schulanfang zu weniger Schlaf, geringerer Konzentration und schlussendlich auch zu schlechterer Leistung führt – vor allem bei älteren Kindern. Zu dem frühen Beginn kam noch die Pünktlichkeit dazu. Unsere Tochter musste nun jeden Morgen um Punkt acht Uhr auf ihrem Platz sitzen. Es gab keine Gleitzeit mehr, wie früher zu Kitazeiten, als wir sie manchmal erst gegen halb zehn durch die Kita-Tür schoben, wenn es beruflich passte.

Wie haben wir das hinbekommen? Nachdem die Klassenlehrerin meine Tochter im ersten Schulhalbjahr ein paar Mal gerügt hatte, weil sie fünf Minuten zu spät erschienen war, entwickelte sie eine hohe Eigenmotivation, pünktlich zu kommen. Denn das war ihr sehr unangenehm. Wir hatten also etwas Glück. Ansonsten hilft – damals wie heute – das noch frühere Aufstehen. Stehen wir rechtzeitig auf, dann ist der Beginn morgens entspannt. Kommen wir nicht rechtzeitig aus dem Bett, wird das Frühstück und auch der restliche Start in den Tag hektisch. Als Faustregel gilt: Immer eine halbe Stunde extra einplanen. Mit der Zeit pendelt sich dann die beste Aufstehzeit für alle ein.

Auch ein möglichst gleicher Ablauf am Morgen erleichtert es dem Kind, sich schneller ans frühe Aufstehen zu gewöhnen. Wer mag, kann die Brotdose und die Schultasche auch schon abends vorbereiten, das spart morgens etwas Zeit. Hilfreich ist auch, wenn das Kind lernt, die Uhr zu lesen und so ein Gefühl für die Zeit bekommt, die es morgens noch übrig hat. Wird ein Kind morgens überhaupt nicht wach, kann der Schulweg helfen, der möglichst zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt wird. Das Sonnenlicht kann in den hellen Monaten beim Wachwerden helfen und die Bewegung regt zusätzlich den Kreislauf an. So kommt Ihr Kind richtig wach in der Schule an.

2. Vormittags: Bewegung ermöglichen

Anstrengend war auch, erzählt meine Tochter, dass sie in der Schule stillsitzen musste und nicht mehr so viel herumtoben konnte. Eine der größten Umstellungen von Kindergarten zu Schule ist sicherlich die eingeschränkte Freiheit. Wer wollte, konnte früher den ganzen Tag im Sand buddeln oder an Kletterstangen hangeln. In den meisten Grundschulen sitzen die Kinder ab der ersten Klasse den größten Teil der Zeit auf einem Stuhl. Dabei ist auch hier längst erforscht, dass Bewegung sehr wichtig beim Lernen ist. Wer sich bewegt, aktiviert das Gehirn und merkt sich Dinge besser. Grundschulkinder können sich in der Regel nicht länger als 20 Minuten am Stück konzentrieren. Viele Lehrerinnen und Lehrer wissen das und versuchen, regelmäßige Bewegungspausen in den Unterricht einzubauen. Auch im Unterricht selbst ist Bewegung möglich: Geometrische Figuren können mit einem Seil körperlich erfahrbar gemacht werden, Präpositionen wie „auf“ oder „unter“ können im Klassenraum in die Tat umgesetzt werden, indem die Kinder auf oder unter ihren Stuhl klettern. Falls Ihr Kind mehr Bewegung braucht, als es im Unterricht bekommt, können Sie auch mit der Lehrkraft sprechen und sie um eine individuelle Lösung bitten.

3. Tobe- und Ausruhzeit am Nachmittag

Spätestens nach der Schule sollten Kinder sich ordentlich austoben. Gehen Sie mit Ihnen auf den Spielplatz, Fahrrad fahren, Fußball spielen – was immer sie mögen. Doch auch Ruhe kann für manche Kinder nach einem lauten und aufregenden Schultag besonders nötig sein. Meine Tochter brauchte in den ersten Wochen viel Zeit zu Hause: Es war ihr zu laut im Klassenraum und sie war froh über die Stille.

In vielen Familien ist es mittlerweile üblich, dass schon Erstklässler ihren Nachmittag mit Freizeitaktivitäten verplant haben: Musikunterricht, Turnen, Fußball, Tanzen … Diese grundsätzlich schönen Hobbys, die auch oft die benötigte Bewegung ermöglichen, sind aber trotzdem feste Termine. Sie führen dazu, dass der Tag der Kinder von morgens bis abends verplant ist. Nach der Schule müssen erstmal Hausaufgaben gemacht werden, wenn die nicht schon in der Schule erledigt werden konnten. Steht dann gleich der nächste Programmpunkt an, kann das schnell zusätzlichen Stress bedeuten. Außerdem fehlt so die Zeit für Verabredungen mit neuen Freundinnen und Freunden aus der Klasse. Dies ist im ersten Schuljahr besonders wichtig, um Kontakte zu knüpfen. Mit einigen Kindern aus der Klasse kann sich meine Tochter zum Beispiel kaum treffen, obwohl sie sich mögen: Sie sind an drei von fünf Nachmittagen in der Woche schon freizeitmäßig verplant. Deswegen: Warten Sie doch noch ein bisschen mit dem festen Nachmittagsprogramm, bis Ihr Kind gut in der Schule angekommen ist und selbst den Wunsch nach neuen Aktivitäten äußert.

4. Rechtzeitig am Abend zu Bett gehen

Um sich an den neuen Rhythmus zu gewöhnen, helfen abends feste Zubettgehrituale. Meine Tochter macht sich abends meistens schon mal bettfertig und hört dann noch eine Hörgeschichte oder schaut sich ein Buch an. So kommt sie langsam zur Ruhe. Etwa drei Stunden vor dem Schlafen sollten Kinder keine elektronischen Medien mehr nutzen. So kann der blaue Lichtanteil des Displays nicht die Freisetzung des schlaffördernden Hormons Melatonin im Gehirn hemmen. Es lohnt sich, vor dem Schulstart das Kind langsam auf die neuen Aufsteh- und Zubettgehzeiten vorzubereiten. Das gelingt laut Schlafforschern am besten, indem das Kind jede Woche 15 bis 30 Minuten eher ins Bett gebracht wird, so lange, bis die passende Zubettgehzeit erreicht ist. Die neuen Zeiten sollten auch ungefähr am Wochenende eingehalten werden – auch wenn hier eine Stunde länger schlafen durchaus okay ist.

5. Kreative Lösungen für den Urlaub

Auch die Urlaubsplanung ändert sich, wenn die Schule beginnt. Denn dann können Familien mit Schulkind nur noch während der offiziellen Schulferien in den Urlaub fahren. Das bedeutet für alle Arbeitnehmenden, dass sie rechtzeitig Urlaubsanträge stellen müssen und für alle Selbstständigen, dass sie ihre Aufträge gut im Voraus planen sollten. Auch für die Hochsaisonpreise während des Urlaubs müssen Familien sich wappnen, denn der wird plötzlich um einiges teurer. Eine Möglichkeit ist, sich Orte auszusuchen, die keine typische Reisezeit haben, zum Beispiel weil dort gerade Winter ist. Auch kann es sich lohnen, in anliegende Bundesländer, die noch keine Ferien haben, zu fahren, hier könnten die Preise etwas niedriger sein. Je nach Geschmack sind vielleicht auch kostengünstige Camping-Urlaube, All-Inclusive-Angebote oder Besuche von Bekannten an schönen Urlaubsorten eine Option.

Die wenigsten Familien werden wohl sechs Wochen Sommerurlaub am Stück machen. Sie müssen sich deswegen überlegen, wohin sie ihr Kind geben, während sie arbeiten. Das war auch für uns nicht leicht zu organisieren. Wir entschieden uns erstmal dazu, lange in den Urlaub zu fahren. Danach schickten wir die Kinder ein paar Tage zu Oma und Opa. In den letzten Wochen haben wir dann in Teilzeit gearbeitet und uns währenddessen mit der Kinderbetreuung abgewechselt. Dieses Jahr haben wir auch zum ersten Mal das Hort-Angebot der Schule genutzt, von dem meine Tochter aber nur mittelmäßig begeistert war. Geholfen hat uns auch, dass es befreundete Kinder aus der Nachbarschaft gab, mit denen sich sie sich ab und zu zum Spielen verabreden konnte.

Alles in allem ist der Schulstart zwar eine große Herausforderung für die ganze Familie, aber eine tolle Sache. Als ich meine Tochter frage, was ihr damals gut gefallen hat, antwortet sie: „Die Einschulung war richtig cool. Und ich habe fünf neue Freunde gefunden. Außerdem kann ich nun selbst Bücher lesen, wenn ihr keine Zeit habt, mir welche vorzulesen.“ Mittlerweile haben wir uns ganz gut an den Schulalltag gewöhnt. Es dauert bestimmt nicht mehr lange und mein Gehirn wird auch komplett verdrängt haben, dass es mal eine Zeit gab, in der ich nicht morgens um halb sieben aufgestanden bin.

Sarah Kröger ist Journalistin und Host des lösungsorientierten Podcasts „Und jetzt? Der Perspektiven-Podcast“. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Stressfaktor Familienurlaub?! – So wird der Urlaub zur Erholung

Urlaub mit kleineren Kindern ist oft stressiger als der Alltag zuhause. Lisa-Maria Mehrkens hat Familien gefragt, was ihnen hilft, den Urlaub trotzdem zu genießen.

Für manche ist ein All-Inclusive-Strandurlaub in einer Hotelanlage der Traumurlaub, für andere ist es Wandern in den Bergen, Sightseeing und Shopping in einer großen Metropole oder auch nur ein Kurztrip in den nächsten Ort, um etwas anderes zu sehen als das eigene Zuhause. Egal, welches Wunschziel es sein soll – kommen Kinder ins Spiel, ändern sich Urlaubspläne und deren Umsetzung manchmal stark. Urlaub mit Kleinkindern bedeutet oft: Tage vor der Abreise anfangen zu packen, tonnenweise Spielzeug, Kleidung und Zubehör mitnehmen und im Urlaub die Aktivitäten größtenteils nach den Interessen der Kinder ausrichten.

Statt beim entspannten Ladenbummel, gemütlichen Kaffeetrinken, Sonnenbaden im Park oder dem Bewundern historischer Gebäude sieht man die meisten Eltern bei Städtetrips mit Kindern gehetzt von einem Spielplatz zum nächsten rennen. Nur nebenbei werfen sie einen Blick auf die Sehenswürdigkeiten und machen maximal einen Zwischenstopp in der Drogerie, weil der Nachwuchs mehr Hunger hat als gedacht. Auch die Wahl der Unterkunft ist mit Kindern anders: Statt Doppelzimmer im romantischen Wellnesshotel gibt es jetzt die familienfreundlich ausgestattete Ferienwohnung.

Sowieso anstrengend

Abhängig vom Temperament der Kinder kommen die meisten Eltern irgendwann zu der Einsicht, dass Urlaub nicht mehr so sein wird, wie er mal war. Auch schön, aber anders. Eher an den Bedürfnissen der Kleinsten ausgerichtet als an den Wünschen von Mama und Papa. Das hat auch Vorteile: „Es ist gut, den Urlaub danach auszurichten, was den Kindern gefällt. Spaß für die Kinder heißt Entspannungszeit für die Eltern. Wenn die Kinder spielen und begeistert sind, kann man sich als Eltern mal in Ruhe unterhalten“, erzählen Michèle und David, Eltern von drei Kindern zwischen 1 und 3.

Da vor allem Michèle sehr reisebegeistert ist und gern andere Länder, Kulturen und Sprachen entdeckt, haben sie als Familie schon die verschiedensten Urlaube unternommen: Camping-Urlaub, Hotelübernachtung, Aufenthalt in der Ferienwohnung, Urlaub im Nachbarbundesland, Flugreisen. „Urlaub mit Kindern ist anstrengend. Das Leben mit Kindern ist aber auch zu Hause anstrengend. Wenn es sowieso anstrengend ist, kann ich auch irgendwo hinfahren, wo es schön ist und ich neue Eindrücke von außen bekomme. Das Wichtigste ist, dass man das Reisen an sich mag. Wenn man eher der ‚Zu Hause ist es am schönsten‘-Typ ist, lohnt sich die Anstrengung wahrscheinlich nicht. Aber ich zehre das ganze Jahr von den Erlebnissen beim Reisen, das ist mir die Anstrengung wert“, erklärt Michèle.

Die Entfernung ist nicht wichtig

Nicht jeder hat so viel Fernweh. Es gibt auch Familien, die mit Urlaub in den eigenen vier Wänden, einem Besuch bei Freunden oder Verwandten oder ein paar Tagen in einer Familieneinrichtung glücklich sind. Johannes und Else sind mit ihren drei Kindern zwischen 0 und 5 Jahren bisher meist in Deutschland geblieben: „Urlaub heißt für uns, gemeinsame Zeit zu verbringen und gemeinsame Erlebnisse. Da ist die Entfernung nicht wichtig. Urlaubsfeeling bedeutet aber für uns auch, uns zumindest an einen gedeckten Tisch zu setzen.“ Deshalb übernachten sie oft in Familieneinrichtungen.

Vor Reisebeginn ist es vor allem für Else stressig, da sie alles packen muss und die Versorgung ihres Bauernhofs auch während des Urlaubs sicherstellen muss. Trotzdem erlebt sie die Familienurlaube positiv: „Es ist wundervoll zu sehen, wie die Kinder bereits einfache Ausflüge und Aktivitäten in sich aufsaugen und teilweise noch Jahre später davon schwärmen. Das zeigt mir, dass Kinder nicht übermäßig viel brauchen, sondern schöne und gemeinsam erlebte Zeit wertvoll genug ist. In diesen Situationen außerhalb des Alltags lernt man die Kinder nochmal ganz anders kennen.“ Deswegen vermissen die beiden auch nichts im Vergleich zum Urlaub ohne Kinder. „Jetzt ist eben Kinderzeit und das genießen wir. Trotzdem schauen wir, dass jeder mal Zeit für sich hat, zum Beispiel zum Lesen“, meint Else.

Mal tanzen gehen

Auch Patrizia und Georg leben auf einem Bauernhof mit Tieren und verreisen mit ihren zwei Kindern (2 und 3) und ihren zwei Hunden eher selten, nur für ein paar Tage und im Umkreis von vier Stunden Autofahrt. „Unsere Urlaube bestehen zwar ‚nur‘ aus Bekannten- und Verwandtenbesuchen, aber es tut uns als Familie sehr gut. Omas, Freunde, Tanten helfen gern mal mit den Kids. Und wir genießen es, Zeit für das Miteinander zu haben und uns an den gedeckten Tisch zu setzen. Die Kids bringen Bewegung in den Urlaub, die Verwandten und Bekannten Input, das lässt uns als Paar wieder über viele Themen ins Gespräch kommen und vom Alltag abschalten“, berichtet Patrizia. Sie freut sich darüber, auch im Urlaub sehr gut als Team mit ihrem Mann zusammenzuarbeiten. Eine Kleinigkeit vermisst sie aber doch: „Mal tanzen gehen abends wäre was, aber da würde ich sowieso eher eine Freundin oder Schwester mitnehmen.“

Mehr Zeit für die Kinder

Dorothea und Ruben waren mit ihren beiden Kindern (4 und 6) auch schon zusammen mit Freunden und Familienmitgliedern im Urlaub: „Das Praktische daran: Man hat einen Babysitter direkt mit dabei.“ Allein als Familie haben sie verschiedene Urlaubsformen nah und fern in Ferienhäusern und Familieneinrichtungen ausprobiert. Ihr Favorit: „Wir haben unsere Kurztrips mit Auto und Dachzelt sehr liebgewonnen, da wir für relativ wenig Geld sehr oft wegfahren können. Unsere Kinder genießen Urlaub immer sehr, da wir viel mehr Zeit für sie haben als zu Hause.“

Das Paar möchte Eltern mit noch sehr kleinen Kindern ermutigen, denn sie haben erlebt, dass ihre gemeinsamen Urlaube mit zunehmendem Alter der Kinder entspannter wurden. „Beim Familienurlaub richtet sich nur noch das grobe Skelett nach den Eltern. Der Inhalt wird von den Kindern gefüllt, der Alltag richtet sich sehr nach ihren Bedürfnissen. Aber es wird von Jahr zu Jahr besser und wir unternehmen inzwischen auch einiges, was eher für uns Eltern interessant ist“, sagt Dorothea.

Kurze Camping-Urlaube mit Dachzelt, weite Flugreisen in die Ferne, Aufenthalte in Familienferieneinrichtungen oder Besuche bei Freunden und Verwandten – so unterschiedlich wie die einzelnen Elternpaare und Familien selbst ist auch die Art und Weise, wie sie ihre gemeinsame Urlaubszeit ausgestalten. Familienleben ist und bleibt dynamisch, das gilt auch im Urlaub. Letztlich muss hier jede Familie immer wieder neu für sich den besten Weg finden, um die Erlebnisse und die Zeit zusammen bewusst zu erleben und genießen zu können. Denn darum geht es doch beim Familienurlaub, oder?

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

„Mein Glaube ist kein Kuschelthema in unserer Ehe“

Wenn ein Ehepaar alles miteinander teilt, außer den Glauben, ist der gläubige Partner ein Sonntagmorgensingle. Matthias Kleiböhmer berichtet, wie er damit umgeht und wie das gut klappt.

Sonntagmorgen: Die Familie sitzt fröhlich am Frühstückstisch. Wir sprechen über den Gottesdienst heute und welche Songs die Lobpreisband wohl geprobt hat. Die Kinder freuen sich auf ihre Freunde. Natürlich gehören die auch zur Gemeinde. Ein kurzer Blick auf die Uhr – jetzt aber los! Die ganze Familie ab ins Auto und dann gemeinsam zur Kirche.

Eine ganz normale Szene in einem der christlichen Filme aus den USA – aber keine Situation aus meinem Leben. Familie habe ich von Montag bis Samstag. Wenn ich in den Gottesdienst gehe, bin ich Single. Sonntagmorgensingle. Dabei bin ich oft der Prediger. Und mir fällt immer öfter auf: Ich bin nicht der Einzige, dem es so geht. Vielen geht es wie mir. Wir gehen allein, weil unsere Partner nicht an Gott glauben. Unsere Familien machen am Sonntag lieber etwas anderes.

Der Platz neben mir bleibt leer

Ohne Frage ist das eine Herausforderung. Man muss es aushalten können: Dass gefühlt alle mit Kind und Kegel in die Gemeinde kommen und der Platz neben einem leer ist. Dass das außergewöhnliche Glaubenszeugnis des jungen Mannes beim Mittagessen kein Thema sein wird. Und dass wir weder zusammen singen noch gemeinsam beten. Also nie. Ich verzichte auf vieles, was andere Paare selbstverständlich miteinander teilen.

Das hat im Alltag viele praktische Konsequenzen. Mein Glaube ist, wie alle der unterschiedlichen Interessen, Teil der familiären Verhandlungsmasse. Qualitätszeit ist in einer Familie eine knappe Ressource. Das betrifft die kostbaren Stunden am Sonntagmorgen und vor allem die Feiertage. Besonders vor Weihnachten und Ostern handeln wir immer wieder neu aus, was in anderen, rein christlichen Beziehungen selbstverständlich ist – nämlich dass neben Familie, Freunden, Geschenken und Feiern auch Zeit sein soll für Gott. Manchmal fühle ich mich deswegen, als wäre ich in einer missglückten Dreiecksbeziehung. Immer zwischen den Stühlen, nur weil die Beziehung der beiden anderen untereinander nicht funktioniert.

Dabei könnte der gemeinsame Glaube die Paarbeziehung stärken. Den Glauben als gemeinsame Leidenschaft zu teilen, würde ja bedeuten, die Beziehung durch gemeinsame Erlebnisse – etwa Veranstaltungen, Lieder, Begegnungen – zu vertiefen. Gemeinsame Gewohnheiten wie der Gottesdienstbesuch würden die Vertrautheit stärken. Damit wären zwei von drei Faktoren erfüllt, die der Psychologe Michael Stockmann in seinem Modell für eine gelingende Paarbeziehung ausgemacht hat. In Beziehungen wie meiner fällt das weitgehend aus.

Unerfüllte Sehnsucht

Soweit die Diagnose. Aber wie geht man damit um? Zuerst muss man ehrlich zu sich selbst sein. Das heißt in meinem Fall: So schlimm ist es auch wieder nicht. Ich habe die Sehnsucht nach einer gläubigen Familie in mir, aber es hat mich noch nie wirklich aus der Bahn geworfen. Meine Glaubenskrisen hatten immer andere Ursachen. Und auch wenn mein Glaube kein Kuschelthema in der Beziehung ist, haben wir uns deswegen selten wirklich weit voneinander entfernt. Das liegt vor allem daran, dass meine Frau den Glauben als Hilfe für das Leben und Hoffnung über den Tod hinaus respektiert. Ohne das ginge es wohl auch nicht für mich.

Es hat auch einen zweiten wichtigen Grund: Wir haben gemeinsame Werte. Auch wenn sie sich aus unterschiedlichen Quellen speisen. Aber wir sind nur sehr selten unterschiedlicher Meinung, wenn es um Geld, Kindererziehung, Politik oder die Art geht, wie man eine Beziehung führen sollte. Da können wir uns diese eine grundlegende Verschiedenheit leisten. Mir persönlich hilft es auch, zu wissen, dass ich damit nicht allein bin. Solche – sagen wir hybriden – Beziehungen hat es schon immer gegeben. Solange die Christen in der Minderheit waren (oder sind), gab und gibt es sie sogar recht häufig. Zumindest wenn das Umfeld die Gläubigen glauben lässt. Deswegen war es für Paulus genauso selbstverständlich wie für Augustin (354–430 n.Chr.). Der große Theologe lebte selbst lange, aber letztlich unglücklich mit einer Heidin zusammen. Das Problem dieser Beziehung war aber nicht der fehlende Glaube an Jesus, sondern der ungleiche soziale Status. Es gibt ja so vieles, was eine glückliche Ehe verhindern kann.

Wohltuend schmerzhaft

Kommen wir zu den Vorteilen. Das ist vor allem einer: Wir müssen über den Glauben sprechen. Vielleicht sogar mehr als viele rein christliche Paare. Wohlgemerkt: Ich meine Gott, den Glauben an ihn und warum er wie trägt oder nicht. Ich meine nicht die Gemeinde oder die Kirche. Das war das, was ich als Erstes in unserer Beziehung lernen musste: Kritik an der Kirche ist kein Grund, beleidigt zu sein. Und es ist auch kein Vorrecht von Christen, andere Christen an das Gebot der Nächstenliebe zu erinnern. Kirche – das ist Hobby oder Beruf, das ist Verein, Struktur oder was auch immer. Das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist Gott. Und mit Nichtchristen über Wesentliches zu sprechen, ist gar nicht so einfach. Es ist sogar eine Herausforderung. Denn was wir Gläubigen für selbstverständlich halten, können andere sehr befremdlich finden.

Nehmen wir mal die selbstverständliche christliche Meinung, Gott würde mit seinem Segen in unserem Leben wirken und uns Gutes erleben lassen. Da muss meine Frau nur oft genug „Warum?“ fragen. Und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher. Und das ist gut so. Denn ein „Warum?“ sollte mein Glaube schon aushalten können, oder? Und wenn ich es nicht beantworten kann, dann ist es an der Zeit, das Thema mal wieder anzuschauen. Und ich sollte mich auch selbst einmal fragen, wie es so weit kommen konnte. Das ist unbequem. Aber dem Glauben tut es gut. Es bringt mich immer wieder zurück zu Gott, und es hilft mir, Worte dafür zu finden, wie ich ihn erlebe. Es bringt mich sogar wieder neu dazu, ihn in meinem Leben zu suchen. Damit solche Gespräche ein Gewinn sind, müssen sie in einer Atmosphäre stattfinden, in der niemand gewinnen will. Als Liebespaar über den Glauben zu sprechen, ist kein Ort für Triumphe. Es ist der Ort für ehrliches Interesse und gemeinsame Erkenntnis.

Auf dieser Grundlage können wir als Paar auch die Themen in Angriff nehmen, die nicht nur uns betreffen, sondern auch unsere Kinder: Lassen wir sie taufen? Beten wir mit ihnen? Oder bete ich, und du nicht? Und vor dem Essen, was machen wir da? Ich glaube, in vielen dieser Fragen gibt es nur eine gute Lösung, wenn beide damit leben können. So haben wir es immer erlebt. Unter dem Strich ist es sicher so, dass ich weniger Zeit im Gottesdienst verbracht habe, als ich gern gewollt hätte – und meine Frau viel mehr, als überhaupt denkbar gewesen wäre. Wir haben beide verzichtet, aber beide unendlich viel gewonnen. Kompromisse gehören einfach zur Ehe dazu. Ich komme noch einmal auf den Psychologen Stockmann zu sprechen: Der Glaube fällt als gemeinsame Leidenschaft, als stützendes Element in der Beziehung, aus. Dafür wächst durch diese Art Gespräche die Vertrautheit der Partner – das zweite Element ist also erfüllt. Denn gemeinsame Gespräche und die Einsicht in das „Warum“ des Partners stärken die Beziehung. Und es kommt zu bewussten Entscheidungen füreinander. Nach Stockmanns Ansatz der dritte Faktor. Denn Liebe ist auch eine Entscheidung. Deswegen schließen wir Ehen durch ein „Ja“ der Eheleute. Bei mir war es übrigens „Ja, mit Gottes Hilfe“. Bei meiner Frau natürlich ein einfaches „Ja“. Auch ein bewusster Kompromiss.

Ein anderer Partner muss her

Man kann nicht allein verheiratet sein und man kann nicht allein Christ sein. Was man mit Gott erlebt, was einen beschäftigt, das muss man irgendwann auch mal mit jemandem teilen, der das in der ganzen Tiefe im Herzen nachvollziehen kann. Der eben nicht nach dem „Warum“ fragt, sondern einfach verständnisvoll nickt. Der nicht „Aber“ sagt, sondern „Amen!“. Und das finden wir Sonntagmorgensingles in unserer Beziehung nicht. Das brauchen wir aber. Denn wir können für unseren Alltag Kompromisse schließen und für unseren Einsatz in Kirche und Gemeinde – für den Glauben selbst geht es nicht.

In der Praxis heißt das: Wir müssen uns jemanden suchen, mit dem wir den Glauben teilen können. Eine konkrete Person, die diesen Teil unseres Lebens nicht von außen betrachtet, sondern von innen. Schließlich schickt Jesus die Jüngerinnen und Jünger auch immer zu zweit los – ohne sie zu trauen.

So jemanden zu finden, ist nicht einfach. Denn auch in der Gemeinde gehen nicht alle Menschen verständnisvoll miteinander um. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass man so jemanden findet, indem man sich selbst als Gesprächspartner für den Glauben anbietet. Nicht im Sinne von „Sollen wir mal über Jesus reden?“, sondern indem man es einfach macht. Man merkt dann schon, wer noch auf der gleichen Wellenlänge ist oder ähnliche Erfahrungen teilt. Ein Sonntagmorgensingle bleibt man trotzdem. Aber wer weiß, vielleicht finden sie ja noch zueinander. Meine Frau und mein Gott. Bis dahin bleibe ich wachsam, dass es uns dreien gut geht. Das ist anstrengend. Und sehr schön.

Matthias Kleiböhmer ist mit einer atheistischen Naturwissenschaftlerin verheiratet. Der Theologe leitet den YouTube-Kanal der Stiftung Creative Kirche. Mehr zum Thema erfährst du in der nächsten Ausgabe von Family und in seinem Buch: „Sonntagmorgensingle – Wie es ist, der einzige Christ in der Fmailie zu sein“ (Gütersloher Verlagshaus)

„Bist zu uns wie ein Vater …“

Die Beziehung zwischen Gott und den Menschen hat Ähnlichkeiten zu unserem Elternsein. Lisa-Maria Mehrkens hat sich auf die Suche gemacht.

„Vater unser im Himmel …“ So beginnt das bekannteste Gebet. Ist Gott also der Idealtyp eines Vaters? Zuerst einmal ist „Vater“ eine Beschreibung Gottes, die uns helfen soll zu begreifen, wie Gott ist. Wir müssen als Eltern nicht so sein wie Gott. Aber wir können uns einiges von seinem Wesen und Handeln für unser Elternsein zum Vorbild nehmen.

Erreichbarkeit und Verlässlichkeit

„Bist zu uns wie ein Vater, der sein Kind nie vergisst“, so beginnt das bekannte Lied „Unser Vater“. Gott vergisst seine Kinder niemals und hält seine Versprechen ein! „Aber Mama, du hast mir das doch versprochen …“ Die Enttäuschung bei meinen Kindern, wenn ich im hektischen Alltag ein Versprechen vergessen habe, ist oft groß und das Vertrauen schwindet. Im schlimmsten Fall sind sich Kinder dann nicht mehr sicher, ob sie sich auf die Versprechen ihrer Eltern überhaupt verlassen können. Wir sollten deshalb vorsichtig mit unseren Zusagen sein und gegebene Versprechen im Zweifelsfall aufschreiben.

Das Lied geht weiter: „… der trotz all seiner Größe immer ansprechbar ist.“ Gott ist immer für uns da und gibt uns stets Priorität. Kinder haben manchmal ein Talent für ungünstiges Timing. Sie haben meist dann ein Anliegen, wenn die Eltern gerade beschäftigt sind oder es eilig haben. Aus elterlicher Sicht erscheint das kindliche Problem dann nicht so dringend oder wichtig. Doch wie würde es uns gehen, wenn wir beten und als Antwort von Gott hören: „Warte mal kurz, ich kann mich gerade nicht um deine kleinen Probleme kümmern, ich habe Wichtigeres zu tun“? Manchmal hilft es, innezuhalten und die Situation durch Kinderaugen zu sehen. Kinder wollen ernst genommen werden und die Eltern als verlässliche Ansprechpartner erleben. Aufmerksam zuhören und gemeinsam überlegen, wie und wann das Anliegen gelöst werden kann, bewirkt oft schon viel.

Liebe und Wertschätzung

Gott beschenkt uns großzügig mit seiner Liebe. Und diese Liebe ist bedingungslos! Gott sagt nicht: „Ich liebe dich, wenn du machst, was ich dir sage. Wenn du gute Noten schreibst, dein Zimmer aufräumst, Pfarrer wirst…“ Gott liebt uns als seine Kinder bedingungslos. Vor ihm dürfen wir ehrlich sein, müssen uns nicht verstellen oder irgendwelche Erwartungen erfüllen. Auch die meisten Eltern lieben ihre Kinder bedingungslos. Aber im Alltag fällt es nicht immer leicht, sie mit allen Ecken und Kanten wertzuschätzen – auch oder gerade dann, wenn sie unsere Erwartungen mal nicht erfüllen.

Einzigartig und zu seinem Ebenbild geschaffen

Eltern suchen bei ihren Kindern immer wieder nach Vertrautem: „Die Augen hat sie von mir.“ Oder: „Genauso habe ich mich als Kind auch benommen.“ An diesen Ähnlichkeiten erkennt man die Zugehörigkeit der Kinder zu ihren Eltern. Auch Gott als unserem himmlischen Vater geht es so. Wir sind zu seinem Ebenbild geschaffen und Gott freut sich, wenn wir ihm ähnlicher werden in unserem Denken und Handeln. Gleichzeitig ist jeder von uns einzigartig gemacht. Diese Unterschiede erscheinen uns bei uns selbst oder unseren Kindern im Vergleich mit anderen oft als Schwachstellen. Meist sehen wir nur, worin wir schlechter sind als andere. Doch Gott liebt Vielfalt und Einzigartigkeit! Daher dürfen auch wir uns und unsere Kinder in aller Unterschiedlichkeit annehmen und besonders wertschätzen.

Geduld und Vergebung

Oft verliere ich im Umgang mit meinen Kindern die Geduld. Wenn meine Tochter auf dem Weg in die Kita trödelt, obwohl ich es eilig habe. Wenn ich meinen Sohn zum zehnten Mal vom Stuhl herunternehme, auf den er nicht klettern soll. Wenn meine Kinder dann leise „Entschuldigung, Mama“ sagen, verraucht meine Wut. Und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich lauter geworden bin. Weil Gott vollkommen ist, bekommt er es besser hin. Er ist im Umgang mit uns unendlich geduldig, bleibt stets gelassen und ist immer wieder neu zur Vergebung bereit. Sanftmütig und liebevoll nimmt er uns immer wieder an und gibt uns eine neue Chance. Diese Güte und Geduld dürfen wir an unsere Kinder weitergeben. Dass wir das nicht so perfekt hinbekommen wie Gott, liegt daran, dass wir Menschen sind …

Liebe und Grenzen

Wenn ich meinen Kindern zum Nachtisch ein weiteres Stück Schokolade verbiete oder sie bei Minusgraden nicht im Lieblingssommerkleid rauslasse, führt das oft zu Wutanfällen. Denn sie verstehen den Grund für mein Nein nicht. Sie sehen nur die unmittelbare Situation, nicht deren Folgen oder das große Ganze. Manchen Eltern fällt es dann schwer, den verständlichen Ärger der Kinder auszuhalten. Doch seine Kinder zu lieben, kann auch bedeuten, ihnen Grenzen zu setzen.

Auch Gott sieht in uns Potenzial, das wir manchmal selbst noch nicht sehen. Er will uns helfen, es zu entfalten. Dafür kann es nötig sein, uns zu korrigieren oder in Liebe Grenzen zu setzen. Das kann für uns ein herausfordernder oder sogar schmerzhafter Weg sein, den wir nicht immer verstehen. Vielleicht lässt Gott Dinge in unserem Leben zu, die nicht zu unserem Bild von ihm als Vater passen. Oder er versperrt Wege, die wir gern gegangen wären. Doch wie alle Eltern für ihre Kinder will auch Gott unser Bestes! Wir können darauf vertrauen, dass unser Vater im Himmel weiter sieht und mehr versteht als wir und am Ende alles zum Guten führen wird.

Freiraum und Halt geben

Als meine Tochter Fahrradfahren lernte, brauchte sie anfangs noch viel Hilfe. Ich musste sie festhalten, damit sie nicht stürzt. Irgendwann wurde sie sicherer auf dem Rad und wir lernten beide, loszulassen. Ich musste lernen, auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen und ihr den nötigen Freiraum zu geben, damit sie allein ihren Weg fahren kann. Auch unser himmlischer Vater ist ein sicherer Halt und Schutz für uns, auf seine Unterstützung können wir stets vertrauen. Gleichzeitig lässt er uns unseren Willen und Freiraum, damit wir uns entwickeln und entfalten können. Er traut uns eine Menge zu, ohne jede Angst, dass wir den Herausforderungen nicht gewachsen sein könnten. Wir dürfen eigene Erfahrungen sammeln und er hilft uns bei Bedarf. Wie in der Geschichte des verlorenen Sohnes dürfen wir jederzeit in Gottes offene Arme zurückkehren, wenn wir uns verlaufen haben.

Als Eltern können wir auch unseren Kindern ein sicherer Hafen sein, zu dem sie immer zurückkehren können. Aber sie dürfen auch ihre eigenen Wege gehen, selbst wenn diese vielleicht von den elterlichen Vorstellungen abweichen. Und wir dürfen uns entspannen und ihnen zutrauen, dass sie in dieser Welt zurechtkommen und das Potenzial entfalten, das Gott in sie hineingelegt hat.

Kind sein beim himmlischen Vater

Auch wenn wir selbst Eltern sind, bleiben wir immer Kinder Gottes. Unser Vater im Himmel freut sich mit uns über Gutes in unserem Leben. Er schützt uns, wenn wir Angst haben. Er leidet mit und tröstet uns in schweren Zeiten. Er stellt sich vor uns und kämpft, wenn wir es gerade nicht können. Was für ein Geschenk, dass wir immer wieder in seine Arme laufen können! Er sehnt sich nach Gemeinschaft mit uns. Vielleicht erinnert er uns ab und an daran, dass das letzte Gespräch mit ihm schon eine Weile her ist. Oder er fragt leise an, ob wir nicht mal wieder Zeit mit ihm verbringen wollen. Dann dürfen wir Gottes Töchter und Söhne sein, uns von ihm beschenken lassen mit seiner Gegenwart und seinem Segen und einfach die Gemeinschaft mit unserem himmlischen Vater genießen. Dann dürfen wir beten: „Unser Vater im Himmel …“

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

Seelische Verletzungen erkennen und heilen

Im Erwachsenenalter können Krisensituationen auftreten, die uns im Kern erschüttern und uns zeigen, dass etwas tief in uns nicht stimmt. Oft lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit, um Fehlentwicklungen aufzudecken, um sie zu korrigieren und seelisch zu gesunden. Von Marion Geißler

Woran könnten wir erkennen, dass uns seelische Verletzungen aus der Vergangenheit einholen? Es ist oft ein Konglomerat aus Angst, Wut, Verzweiflung, mangelndem Selbstwert, Antriebslosigkeit, Trauer, Desinteresse, sozialem Rückzug, starker Gereiztheit, aggressivem Verhalten, fremd wirkenden Gefühlen oder gar Lebensmüdigkeit. Es können aber auch psychosomatische Beschwerden entstehen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Verdauungsschwierigkeiten. Um nicht darüber hinwegzusehen, ist es wichtig, regelmäßig auch mit sich selbst in Kontakt zu sein. Fragen wie: „Wie geht es meiner Seele?“, „Wonach sehnt sie sich?“, „Was raubt mir die Kraft?“ sind wichtig. Wir nennen es Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge.

Die oben genannten Symptome psychischen Angeschlagenseins, die auch in kleineren Krisenzeiten auftauchen können und dann wieder verschwinden, haben das Potenzial, sich in Zeiten der Erschütterung und des Umbruchs zu klinischen Krankheitsbildern zu verdichten. Das müssen nicht zwangsläufig negative Umbrüche sein, wie zum Beispiel Trennungen, Kündigungen oder Krankheiten. Auch freudige Ereignisse wie Schwangerschaft und Hochzeit sind mögliche Auslöser. Dann entstehen zum Beispiel Angststörungen, Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen. Nicht selten fördern diese Ereignisse seelische Verletzungen zutage, die in der Entwicklung in der Kindheit oder Jugend liegen, die es gilt, zu erkennen und daran zu arbeiten. Die Psychologie hat gute Konzepte entwickelt, die Menschen eine wertvolle Unterstützung geben können, um schädliche Muster zu erkennen, aus krisenhaften Konflikten herauszufinden und seelisch zu gesunden. Wie so etwas funktionieren kann, möchte ich kurz zeigen. Zwei meiner PatientInnen waren bereit, uns an ihrer Entwicklung teilhaben zu lassen.

Pascal: Selbstständigkeit lernen

Als Pascal (alle Namen geändert) in meine Praxis kam, war er äußerlich gesehen „erfolgreich“. Er studierte im Masterstudiengang Maschinenbau, hatte eine feste Freundin, eine Ehe zogen sie in Betracht. Er lebte immer häufiger in ihrer Wohnung. Folgende Probleme benannte er: „Ich möchte selbstständiger werden, aber meine Eltern setzen mich mit ihrer finanziellen Unterstützung für meine Wohnung unter Druck. Um meine Entscheidungen frei treffen zu können, muss ich mich von ihnen wohl finanziell ganz ablösen und mir mein Leben selbst verdienen!“

Allerdings fühlte es sich für ihn an, als würde er seinen Eltern die Freundschaft kündigen. Alles in ihm sträubte sich gegen diese Entscheidung. Sie führte bei ihm zu Ängsten, starker innerer Unruhe sowie Grübeln mit depressiven Gefühlen. Seine Mutter entwickelte Sorgen um ihn, konnte nachts nicht mehr schlafen und warf ihm vor, nichts mehr mit ihnen zu tun haben zu wollen. „Mir war damals nicht bewusst, dass diese Situation nur die Spitze eines großen Eisbergs von Situationen und Mustern war, denen ich mich stellen musste“, erinnert sich Pascal.

In den Gesprächen wurde mir klar, dass Pascals Probleme ihre Wurzeln im Familiensystem haben mussten, sodass wir uns auf eine Spurensuche begaben. Wir bildeten einen Familienstammbaum (Genogramm) über vier Generationen und entdeckten, dass in der Linie seiner Mutter die Frauen oft herrisch waren, während die Männer zu Gewalt neigten. In der Linie seines Vaters hingegen arbeiteten die Männer viel und waren abwesend. Darüber hinaus führten wir eine Familienaufstellung mit Holzfiguren durch, um die Konstellation seiner Familie in der Kindheit zu analysieren. Hier stellte sich heraus, dass Pascal sich stark von seiner Mutter unterdrückt fühlte. Sie legte ihre Angst auf ihn und war häufig gereizt und überfordert. Die Figur seines Vaters stand schräg hinter der Mutter, da er andauernd arbeitete und zu Hause müde war. Pascal stellte fest: „Mir fehlte ein starkes Vorbild, das mir beibrachte, wie man sich verteidigt und dass man sich für sich selbst einsetzen darf.“

Er war – tiefenpsychologisch gesprochen – als Erwachsener gefangen in einem Konflikt der Kontrolle versus Unterwerfung. In einer Entwicklungsphase, in der er als Kind begann, sich selbstwirksam zu erleben, neue motorische Fähigkeiten auszuprobieren (wie z. B. Krabbeln), mit individuellen Bedürfnissen, und auch mal Nein zu sagen, ist er wahrscheinlich zu sehr kontrolliert und entmutigt worden. Anstatt Autonomie zu lernen, hat Pascal sich den Eltern „unterworfen“, ist gehorsam und angepasst geworden, um ihre Liebe nicht zu verlieren. In einer Lebensphase, in der er naturgemäß immer selbstständiger werden wollte und musste, fühlte er unbewusst den Druck, sich unterzuordnen. Diese tiefe innere Spannung kam an die Oberfläche und die unbewussten Ängste haben einen Konflikt entfacht. Je mehr er diese zugrunde liegende Problematik verstand, desto besser konnte er sich von den Vorstellungen seiner Eltern abgrenzen und erlebte, wie die Symptome zurückgingen.

Sylvia: Selbstwert entwickeln

Sylvia hätte überglücklich sein können. Sie hatte zwei Ausbildungen und war erfolgreich und zufrieden in ihrem Beruf. Ihr Freund hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie konnte sich darüber aber nicht freuen. Sie wurde ihm gegenüber immer aggressiver und ausfallender. War sie allein, musste sie viel weinen. Sie empfand sich als ungenügend und bedeutungslos, sie verstand die Welt nicht mehr. Auch hier half ein Blick in das Familiensystem, denn der Selbstwert-Konflikt, der zum Vorschein kam, war bereits in ihrer Kindheit angelegt.

Sylvias Vater war ihr gegenüber respektlos und übertrat ständig ihre Grenzen, zum Beispiel, indem er ihre Tagebücher las. Ihre Mutter war überfordert und nicht in der Lage, ihre Tochter zu schützen. Zugleich war Sylvia aber für ihre Individualität und Selbstwertentwicklung darauf angewiesen, in ihren Eltern liebevolle Vorbilder zu sehen, die auf ihr Kind stolz sein können. Da ihr diese Bestätigung verwehrt blieb, zog sich Sylvia resignativ in ein Gefühl der Bedeutungs- und Wertlosigkeit zurück und versuchte, durch Leistung Bewunderung und Anerkennung zu bekommen. In ihrer jetzigen Beziehung fühlte sich Sylvia in ihre Kindheit versetzt und bediente sich früherer Lösungsansätze: Sie versuchte Anerkennung durch Leistung und durch die Abwertung ihrer eigenen Person zu bekommen. Aber in ihr stieg auch verborgene Wut auf. Erst in der Therapie verstand sie, dass ihre Kindheit und das Verhalten ihrer Eltern alles andere als normal und gesundheitsfördernd für sie gewesen waren.

Zur seelischen Stabilisierung und Neuorientierung war für sie als erster Schritt ein (vorübergehender) Abstand zu ihren Eltern wichtig, da die Bindung immer noch sehr eng und die schädlichen Muster aktiv waren. In weiteren Schritten arbeiteten wir vor allem mithilfe von Imaginationen (dem Herstellen von inneren Bildern) schmerzhafte Erinnerungen durch, in denen das Kind von damals Hilfestellung und Korrektur erfahren konnte, sodass sich innere Glaubenssätze und tief verankerte Grundgefühle verändern können. Auf diese Weise können negative neuronale Netzwerke neu verknüpft bzw. überschrieben werden und schon in der Kindheit entstandener Stress kann abgebaut werden. Sylvia ist auf dem Weg, sich als wertvoll anzunehmen, ohne dafür etwas Besonderes leisten zu müssen, und auch ihre – bis dahin unbewusste – Frustration und Wut zu verarbeiten.

Das sind nur zwei Beispiele, wie wir durch die Aufarbeitung von familiären Systemen oder unerfüllten Grundbedürfnissen Konflikte aufdecken und seelisch gesunden können. Daraus ergibt sich für uns als Eltern, die Grundbedürfnisse unserer Kinder im Blick zu behalten (siehe dazu den Artikel auf S. 42) und auch in uns selbst hineinzuschauen, wo wir unbewusst Konflikte in uns tragen. Es muss nicht immer sein, dass schwerwiegende Symptome entstehen. Aber wenn es dazu kommt, ist professioneller Rat in jedem Fall angemessen.

Bindung – verbunden mit Gott

Was schützt uns nun also vor solchen Fehlentwicklungen, und was brauchen unsere Kinder, um die vor ihnen liegenden Entwicklungsstufen zu bewältigen und seelisch gesund zu sein und bleiben zu können? Auch später als Erwachsene? Sie brauchen das Gefühl, sicher gebunden und um ihrer selbst willen geliebt zu sein.

Und ich staune darüber, dass uns Gott genau das in seinem Bund mit uns anbietet. Er gibt uns diese Wärme, diese Nähe, dieses Verständnis und diese Geborgenheit. Sein Bund basiert nicht auf Bedingungen, sondern auf seinem Versprechen von Treue und Vergebung. Läuft bei mir etwas schief, bietet er Heilung und Wiederherstellung an in und durch Jesus Christus. Er liebt mich für immer und ewig und die tiefste Heilung beginnt dort, wo wir (wieder) in diesen Bund eintreten. Übertragen wir dieses Modell des Bundes auf unsere Familien und Beziehungen, kann ich – verbunden, sicher, geliebt und fröhlich in Gott – das Gute für den anderen suchen und lernen, mit meinen Mitmenschen in einer Bündnisbeziehung zu leben, so wie Gott mit mir.

Marion Geissler ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet in Kassel in einer Praxis. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Fotobuch

Nicht das wahre Leben

Katharina Hullen will Erinnerungen festhalten und prägen – schöne Erinnerungen.

Katharina: „Schaut doch bitte kurz noch mal alle zu mir!“ Ich versuche, einen schönen Abschlussmoment festzuhalten, nachdem ich meine Familie mehr oder weniger unauffällig den ganzen Tag umtanzt habe, um einige der schönen Szenen unseres heutigen Ausflugs digital zu verewigen. Nicht allen ist dabei zum Lächeln zumute, aber wir wissen ja, wofür wir uns hier ins Zeug legen – das alljährliche Familien-Fotobuch muss gefüllt werden!

Alle lieben diese Bücher – die Großeltern wünschen sich zu Weihnachten nichts anderes. Und es ist auch ein großartiges Geschenk: eine Galerie der Menschen, die wir lieben, eine wunderbare Dokumentation des Familienlebens, der Entwicklungen und Meilensteine eines jeden Mitglieds unserer kleinen Einheit. Ausflüge, Geburtstage, Einschulungen, Abschiede, Aufführungen. Wir können beim Betrachten in Erinnerungen schwelgen und mithilfe der schönen Baby- und Kleinkindbilder und der zugehörigen Erzählungen sogar Erlebnisse und Empfindungen prägen, die bei den Kindern ansonsten gar nicht im aktiven Bewusstsein wären.

Diese Bücher sind naturgemäß angefüllt mit den schönen Momenten, mit lächelnden, fröhlichen, ausgelassenen, stolzen, konzentrierten und glücklichen Menschen.

Ich hatte noch nie den Drang, ein Foto zu machen, wenn ich gerade am Mittagstisch ein Donnerwetter loslasse oder wenn sich zwei Streithähne buchstäblich in den Haaren liegen. Auch das Aufwischen von Erbrochenem oder das Durchsetzen einer Auszeit für ein bockiges Kind hat es bei uns noch nicht als Fotomotiv gegeben.

Ist es daher nicht eigentlich ein unehrliches und geradezu ärgerliches Produkt einer zu ehrgeizigen Mutter, die jeden Moment nur nach seiner Fotobuch-Tauglichkeit beurteilt und eben nicht das wahre Familienleben dokumentiert? Warum nicht einfach den Moment genießen und fotolos verstreichen lassen?

Einfacher wäre das, denn es steckt sehr viel Zeit und Arbeit in diesen Büchern. Und dass unser Familienleben auch viel Streit, Frust und Versagen beinhaltet, ist selbstverständlich genauso wahr wie die vielen schönen Augenblicke.

Dennoch gefällt mir der Gedanke, dass diese Bücher vor allem das Positive festhalten: Es war richtig schön! Wir haben sehr viel Gutes und Lustiges zusammen erlebt. So haben wir uns entwickelt, das konnte der oder die damals schon richtig gut und schau, was daraus geworden ist. Solche Fotoalben können helle Landmarken im Leben setzen, wenn man irgendwann mal das Gute vergisst oder niemand mehr da ist, der einen erinnert.

Ich verbuche für mich die Kritik am Fotografieren in der gleichen Kategorie, wie es meine Familie wohl nervt, wenn ich nach gewaschenen Händen und wetterangemessener Kleidung frage. Mütter nerven dann eben. Tja.

 

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

Das Lächeln gefriert

Hauke Hullen möchte den Moment genießen – ohne Fotobuchgedanken.

Hauke: Familienfeier im Garten: Die ganze Verwandtschaft ist da, unsere Kinder baden in Geselligkeit und herzlicher Aufmerksamkeit, als unser 6-Jähriger stolz seiner Cousine Jule den aktuellen Wackelzahn präsentiert. „Komm, den hol ich dir raus“, verspricht die 24-Jährige. Man muss dazu wissen: Jule ist nebenberuflich Zahnfee. Wann immer sie uns besucht, verlieren unsere Kinder einen Milchzahn. Es bahnte sich also ein spektakuläres Ereignis an, da unterbricht die beste Ehefrau von allen: „Moment, die Kamera!“

Es folgt eine hektische Suche nach dem richtigen Handy, dem richtigen Winkel und dem richtigen Bildmodus: Porträt, Panorama oder doch lieber ein Video? Vielleicht in Slow Motion? Am Ende gibt es alles auf einmal, weil inzwischen die gesamte Sippe ihre Handys im Anschlag hat, um dutzendfach zu dokumentieren, wie die zupackende Cousine eine weitere Lücke in der Kauleiste unserer Kinder hinterlässt. So geht das ständig. Bei jeder sich nicht bietenden Gelegenheit ist Katharina dem Zwang erlegen, alles fotografisch festhalten zu müssen – für das legendäre Fotobuch, was stets für die Großeltern und für uns unterm Weihnachtsbaum liegt.

Am schlimmsten ist es, wenn sie ein neues Handy mit neuen Kamerafunktionen hat. Dann gleicht jeder Sonntagsspaziergang einer Hetzjagd, bei der Mann und Mäuse vor der wildgewordenen Knipserin flüchten. In diesen Zeiten entstehen besonders viele menschenleere Landschaftsaufnahmen, bei denen man mit etwas Glück dann doch ein paar Familienmitglieder entdeckt, die sich entnervt hinter den Bäumen verstecken.

Denn die Fotos rauben zwar nicht uns die Seele, aber dem Moment. Wenn Kathi das pralle Leben festhalten will, tut sie exakt das: Das Leben und alle Personen erstarren, das Gelächter hört auf, das Lächeln gefriert zur Grimasse – und all die Leichtigkeit ist weg.

Warum kann man nicht einfach den Augenblick genießen, ohne ständig an die fotogene Verwertbarkeit denken zu müssen? Und warum müssen immer wieder künstlich Aktionen gestartet werden, nur damit schöne Fotobuch-Motive entstehen? Das Fotobuch entwickelt sich zu unserem analogen Instagram-Channel, zu einer Puderzucker-Version unseres Lebens!

Besonders sinnfrei dabei: die Selfie-Seuche. Ganze Urlaubsalben, die nur aus den immer gleichen zwei Visagen bestehen. Immerhin bestraft die Kamera diese Selbstbezogenheit mit übergroßen Nasen, weshalb man diese Bilder nachher auch keinem mehr zeigen mag. Informativ sind die Fotos eh nicht: Man weiß zwar, man war da, sieht aber nicht, wo.

Klar, die Kinder schauen sich gern die Bilder von früher an. Sie glauben dann sogar, sich an diese Kindheit erinnern zu können – dabei weiß die Wissenschaft längst, dass man mit Fotos Erinnerungen in den Köpfen säen kann. Könnte sich Kathi auf diese Weise nicht viel Arbeit ersparen, indem sie einfach ein paar hübsche Motive aus dem Internet kopiert? Hier, unser Hawaii-Urlaub, und da, da warst du Fallschirmspringen! Dann könnten wir endlich in Ruhe unser Leben leben.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Zwischen Mauerfall und Brexit

Viola Ramsden ist in der DDR aufgewachsen, hat als Jugendliche die Wendezeit erlebt und viele Jahre an verschiedenen Orten gewohnt – unter anderem in London. Nun ist sie wieder in ihre „Heimat“ zurückgekehrt und denkt darüber nach, wo sie eigentlich hingehört.

Ich bin ein Wendekind. Ein Zonenmädchen. Eine Vertreterin der „Dritten Generation Ost“. Damit gehöre ich zu den rund 2,4 Millionen Menschen, die ihre Kindheit zunächst in der DDR erlebten und anschließend im vereinigten Deutschland erwachsen wurden. Vor einiger Zeit las ich in der WELT, dass wir Zonenkinder mit unserer unablässigen Identitätssuche etwas verzweifelt wirkten. Auch ich habe mich auf die Suche nach Wurzeln und Identität begeben. Ich schreibe sogar regelmäßig darüber in meinem Blog. Doch verzweifelt fühle ich mich dabei kaum. Im Gegenteil: Das Nachforschen hat mich inspiriert, befreit und selbstbewusster gemacht.

Heimat im Erzgebirge

Meine (gefühlte) „Heimat“ ist das Erzgebirge. Hier habe ich meine relativ behütete Kindheit zu DDR-Zeiten verbracht und bin danach während der Pubertät im stressig-verwirrenden, kompliziert-ostdeutschen Chaos der Wendejahre groß geworden. Mein erzgebirgisches Elternhaus ist der Ort, an den ich seither immer wieder zurückkehre, auch wenn sich mein derzeitiger Wohnsitz mal wieder geändert hat.

Von Norddeutschland nach Jerusalem

Nach dem Abitur verschlug es mich als Praktikantin zuerst nach Norddeutschland und dann in den Ruhrpott, bevor ich als Studentin in Marburg und Cambridge lebte. Später verbrachte ich einige Zeit als Volontärin in Jerusalem und Berlin, ehe ich vor 13 Jahren nach London ging. Dort habe ich bis vor kurzem gelebt, geliebt und gearbeitet. Nun sind wir als Familie – mein britischer Mann, mein Kind und ich – nach Deutschland gezogen. Ein unstetes Erwachsenenleben, mit vielen Stationen, Zwischenstopps und noch mehr Adressen. Woran liegt das?

Unterwegs aus Abenteuerlust

Ich vermute, dass eine Mischung verschiedener Faktoren dazu beigetragen hat: die komplexen Erlebnisse und oft schwierigen Zusammenhänge der Wendezeit, mit denen wir ostdeutschen Jugendlichen konfrontiert waren, gepaart mit individueller Neugier, dem Globalisierungsprozess und sich daraus ergebenden Möglichkeiten sowie Abenteuerlust, Weltoffenheit und einer gewissen inneren Unruhe. Trotz aller Weltenbummelei empfinde ich meine ostdeutsche Herkunft auch heute noch als prägend. In meinem Blog denke ich immer wieder ausführlich darüber nach, wie und weshalb das so ist.

Unaufhörlicher Kulturschock

Der abrupte Wechsel von einer vertrauten Gesellschaftsordnung zu einem völlig neuen System fühlte sich in den 90er Jahren wie ein unaufhörlicher Kulturschock und Stresstest an. Allerdings hätte ich das zu dem Zeitpunkt so nicht artikulieren können. Damals musste man da einfach irgendwie durch. Überleben. Alles Neue so schnell wie möglich verstehen und sich zu eigen machen. Verletzungen wurden ignoriert und Hilfestellungen gar nicht erst erwartet.

Als „Ossi“ abgestempelt

Dieser intensive Umbruch hat bei allen Ostdeutschen tiefe Spuren hinterlassen. Ich selbst gehörte zu den Heerscharen junger Menschen, die den Osten verließen, weil sich anderswo bessere Chancen boten. Wie so viele bemühte ich mich um schnelle, bedingungslose Anpassung, um ja nicht als „Ossi“ abgestempelt zu werden. Ich wollte stattdessen als eigenständige Persönlichkeit mit individuellem Charakter, Fähigkeiten und Eigenarten gemocht und anerkannt werden. Meistens gelang das auch, aber doch war da immer das Gefühl, nicht ganz ich selbst zu sein und mit meinen spezifisch ostdeutschen Erfahrungen nicht wirklich verstanden zu werden.

Die Außenseiterin

Es gab Momente, in denen ich meinen Background bewusst verschwieg. Und so manches Mal fühlte ich mich inmitten von gleichaltrigen Westdeutschen als Außenseiterin. Denn natürlich galt das Westdeutsche immer als die (unausgesprochene) Norm, während ostdeutsche Befindlichkeiten als weniger gut, richtig, wertvoll, cool, bedeutsam oder lebenswert wahrgenommen wurden. Eine anstrengende Zeit, die aber auch mit vielen schönen, interessanten und unbeschwerten Jugenderfahrungen, neuen Freundschaften, Spaß und Gelegenheiten gefüllt war.

Neue Heimat: London

So richtig zu mir selbst gefunden habe ich erst während meiner Zeit in London. Denn hier war das Westdeutsche nicht mehr der Normalfall. Inmitten einer kosmopolitischen Metropole wurde ich als eine von vielen verschiedenen Ausländerinnen wahrgenommen. Mein Kollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis rekrutierte sich aus einer Mischung von Menschen aller Kontinente mit den verschiedensten kulturellen und ethnischen Hintergründen, Hautfarben, Religionen und Eigenschaften. Uns alle verband dabei die Erfahrung, sich als Migranten in einem anderen Land zurechtfinden zu müssen. So fühlte ich mich in London schon bald wie zu Hause, und dieses Gefühl hielt über viele Jahre an.

Nicht mehr willkommen

Doch dann erlebte ich eine weitere politische Wende: den Brexit. Nach dem Referendum vor über drei Jahren fühlte ich mich in meiner englischen Wahlheimat nicht mehr willkommen. Die Grundlage, auf der ich mir als EU-Bürgerin dort ein Leben aufgebaut hatte, war plötzlich verschwunden. Hinzu kam die Familiengründung. Bereits seit Jahren hatte ich meine Ursprungsfamilie immer mehr vermisst. Dieses Gefühl verstärkte sich nach der Geburt unseres Kindes zusehends. Die Familie meines Mannes lebt noch weiter weg, in Südafrika. So entschieden wir uns, gemeinsam nach Deutschland zu gehen.

Ungläubiges Staunen

Da wir vorerst einmal zurück in meinen erzgebirgischen Heimatort gezogen sind, bin ich gerade recht intensiv damit beschäftigt, mein Verhältnis zur „Heimat“ neu auszuloten. Es ist eine merkwürdig vertraute Erfahrung, nach einem halben Leben in der Ferne mit einem Mal wieder da zu sein. Momentan herrschen dabei zwei Empfindungen vor. Zuerst eine Art ungläubiges Staunen und Glücksgefühl, dass wir als Familie jetzt hier sein können. Eine riesige Freude darüber, dass mein Sohn sich inmitten der größeren Familie so unglaublich wohl fühlt. Es ist wunderschön zu erleben, wie viele Leute sich über unsere Rückkehr freuen. Ich genieße es, so viel Zeit wie möglich mit Menschen zu verbringen, die ich so lange vermisst habe. Das Gefühl, gewollt zu sein, tut gut! Die andere Komponente ist der Umzug von einer Großstadt aufs Land. Da sind die Gefühle gemischter. Zwar ist es schön, den Stress und die Isolation hinter sich zu lassen, und ich schätze die idyllische Umgebung. Aber ich vermisse die Vielfalt von Menschen und Möglichkeiten.

Wurzeln sind wichtig

Meine ostdeutsch-erzgebirgischen Wurzeln sind für mich mit der Zeit immer wichtiger geworden. Da finden sich viele wesentliche Erfahrungen und Werte, die mich durchs Leben begleiten und leiten: eine Grundeinstellung von Bodenständigkeit und Echtheit, die mich dazu ermutigt, mir selbst treu zu bleiben und mich nicht vom Schein unwichtiger Dinge blenden zu lassen. Dazu kommt jene rigorose Flexibilität, aus den Umständen das Beste zu machen. Eine Eigenschaft, die vor allem während der vielen Jahre im Ausland unentbehrlich schien. Wertvoll sind mir zudem Familien- und Gemeinschaftssinn sowie das stetige Suchen nach tiefen und authentischen Beziehungen. Zu DDR-Zeiten erlebte ich in unserem Dorf ein Umfeld, in dem die meisten Menschen mit ähnlichen finanziellen und sozialen Umständen zurechtkamen. Wohl auch deshalb ist für mich heute eine unstrittige Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung meiner Mitmenschen von zunehmender Bedeutung – inklusive diverser ethnischer, kultureller und religiöser Hintergründe, sowie unabhängig von Geschlecht, sozialem Status, finanziellen Mitteln und sexueller Orientierung.

Zu spät Mutter

Natürlich gibt es in meiner Prägung auch Aspekte, die mein heutiges Leben weniger positiv beeinflussen. Da ist zum Beispiel jener Begriff des ostdeutschen „Gebärstreiks“, weil junge Frauen nach der Wende eine Zeit lang kaum noch Kinder zur Welt brachten. Auch ich war damals komplett damit beschäftigt, mich in meinem neuen Umfeld zurechtzufinden. Später investierte ich meine Energie vor allem darin, mir im Ausland ein Leben aufzubauen. Hinzu kamen einige komplizierte Beziehungserfahrungen. So verging viel Zeit, bevor ich damit anfing, bewusst in ein gemeinsames (Familien-)Leben zu investieren. Nun genieße ich das Mamasein und das Zusammenleben in unserer liebevollen Kleinfamilie sehr. Manchmal wünschte ich mir jedoch, dass ich damit schon etwas eher hätte beginnen können.

Zukunftsangst

Auch das in der Pubertät durchlebte Chaos der Wendejahre hat seine schwierigen Spuren hinterlassen. So kommt es immer wieder vor, dass ich mit Zukunftsangst kämpfe. Ganz besonders habe ich das durch den Brexit gespürt. Die dadurch ausgelöste politische Unsicherheit mit nicht absehbaren Folgen für mein eigenes Leben hat mich unendlich gestresst. Zum Schluss bleibt die Frage: „Wo gehöre ich hin?“ Die Antwort darauf verweist jedoch auf keinen Ort, sondern auf Beziehungen, die mich über die Jahre hinweg begleiten. Das ist vor allem meine Familie, aber auch die Beziehung zu Gott, die mich durch meinen christlichen Glauben weiter trägt. Denn wo immer ich auch gerade bin, kommt mein Glaube mit, ist mein Gott schon da.

Viola Ramsden ist Marketing-Managerin im Erziehungsurlaub sowie Gesprächstherapeutin und Bloggerin unter Myostblog. Sie lebte in den letzten 13 Jahren in London und wohnt momentan mit ihrer Familie im Erzgebirge

Das letzte Jahr mit meinem Vater

Ein Elternteil in die Wohnung aufzunehmen, nachdem man viele Jahre als Familie allein gelebt hat, kann eine Herausforderung sein.

W enn meine Schwester und ich als junge Mädchen über unsere Eltern nachdachten, waren wir uns einig, dass wir zu unserer Mutter die vertrautere, bessere Beziehung hatten. Wenn wir die Wahl hätten, würden wir in ferner Zukunft lieber mit unserer Mutter zusammenleben und sie versorgen als mit unserem Vater. Aber es sollte anders kommen. Meine Mutter starb schon mit 65 Jahren, mein Vater lebte noch 26 Jahre länger. Nach ihrem Tod war er körperlich und geistig so fit, dass er noch gut in seinem Haus leben konnte. Bereits nach einem Jahr hatte er eine neue Lebensgefährtin gefunden. Wir wussten, dass er unsere Mutter geliebt hatte, und empfanden seine neue Freundin als Bereicherung für ihn. Wir waren dankbar, dass er eine Frau gefunden hatte, die sich um ihn kümmerte und sein Bedürfnis nach Nähe und Beschäftigung erfüllte. Wie vorher auch mit meiner Mutter besuchten sie uns regelmäßig, spielten mit unseren Kindern und mein Vater half uns, wo er nur konnte. Besonders beim Bau unseres Hauses setzte er sich stark ein. Es kam uns zugute, dass er handwerklich sehr geschickt war, gerne arbeitete und gerne half. Allerdings hatte er auch seine eigenen Vorstellungen, wie Arbeiten auszuführen seien, was nötig sei und was nicht. Seine großzügige Einstellung: „Das geht schon so!“ und seine Tendenz, das, was er für nötig hielt, auch durchzusetzen, kam gelegentlich in Konflikt mit unseren Wünschen und Vorstellungen. Trotzdem war klar, dass in unserem Haus immer ein Platz für ihn sein würde, wenn seine Versorgung oder Pflege zu bewältigen wäre.

BARRIEREFREI
Zwanzig Jahre später war es dann so weit: Seine Gesundheit wurde deutlich schlechter. Es war vorhersehbar, dass seine Lebensgefährtin, die mittlerweile 87 Jahre alt war, ihn nicht dauerhaft würde versorgen können. Mein Vater entwickelte eine Blutkrankheit. Er brauchte alle sechs Wochen eine Blutübertragung und wurde immer schwächer. Als er für ein Wochenende bei uns war, merkten wir, dass er sich nicht mehr orientieren konnte und die Treppen nur sehr schlecht bewältigte. Daher beschlossen wir ganz spontan, das Arbeitszimmer meines Mannes in die für meinen Vater vorgesehene Kellerwohnung zu verlegen. Damit war ein Zimmer in unserer Wohnung im Erdgeschoss frei, das wir ihm einrichten konnten. Da mein Mann gerade etwas Zeit hatte und auch unsere erwachsenen Kinder helfen konnten, hatten wir das neu möblierte Zimmer innerhalb von sechs Wochen fertig. Es war zuerst als Gästezimmer gedacht, doch es erwies sich, dass Gottes Timing genau richtig war. Eine Woche, nachdem das Zimmer fertig war, kam mein Vater ins Krankenhaus. Sein Zustand verschlechterte sich so, dass er anschließend per Krankentransport zu uns gebracht wurde. Es war alles für ihn vorbereitet. Eine behindertengerechte Dusche hatten wir ein Jahr vorher im Erdgeschoss einbauen lassen. Er bekam sofort Pflegestufe eins. Im Rückblick ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, rechtzeitig auch bauliche Vorkehrungen zu treffen, damit barrierefreies Wohnen möglich ist.

ALTE EMPFINDLICHKEITEN
Während mein Vater anfangs noch stark desorientiert war, besserte sich sein Zustand zusehends. Er konnte allein zum Tisch und zur Toilette gehen und eine Zeitlang noch mit uns zum Gottesdienst kommen. Für ihn war es selbstverständlich, dass er den ganzen Tag bei uns im Wohnzimmer auf dem Sofa saß oder lag und alles interessiert mitverfolgte, was bei uns passierte. Nur wenn wir Hauskreis in unserer Wohnung hatten, blieb er in seinem Zimmer. Wie gut, dass morgens die Mitarbeiterin der häuslichen Krankenpflege kam. Sie cremte ihn ein und half ihm beim Waschen und Anziehen. Das schützte meine und seine Intimsphäre. Ihre Gespräche brachten auch neue Impulse in seinen Alltag. Mein Vater klagte nicht. Er war lieb und freundlich und versuchte, uns keine Last zu sein. Obwohl ich ihn gern versorgte, merkte ich mehr und mehr, dass ich seine ständige Anwesenheit als Bedrohung meiner Privatsphäre empfand. Ich interpretierte sein Interesse an allem, was unser Leben betraf, als unangebrachte Neugier. Fragen wie: „Hat deine Nachbarin wieder einen Freund?“ und „Wie geht es in der Gemeinde?“ mochte ich nicht beantworten. Obwohl ich sein Bedürfnis nach Nähe und Teilhabe verstand, entdeckte ich in mir die Gefühle und Verhaltensweisen eines Teenagers, der nicht will, dass sein Vater alles weiß und sich einmischt. Ich hatte das Bedürfnis, meine innere Selbständigkeit und die Ablösung von meinem Vater zu behalten. Selbst harmlose Bemerkungen wie „Mach die Tür zu!“ und „Mach das Licht aus!“ weckten meinen Widerstand. Ich wollte Herr in meinem eigenen Haus bleiben, bestimmen, welche Musik gehört wurde und telefonieren, ohne dass mein Vater zuhörte. Ich wollte weder seine Mutter sein, die seine Bedürfnisse nach Nähe und Beschäftigung stillte, noch seine Lebenspartnerin, deren Leben sich vor allem um seine Wünsche gedreht hatte. Ich habe mich aber nie getraut, diese Gefühle meinem Vater gegenüber anzusprechen und ihn zu bitten, öfter in seinem Zimmer zu bleiben. Er würde das nicht verstehen, dachte ich.

GUT UNTERSTÜTZT
Wie gut, dass ich mit der Versorgung meines Vaters nicht alleine dastand. Mein Mann und meine Kinder unterstützten mich. Besonders die Kinder liebten ihren Opa und konnten ihm das auch zeigen. Mein Mann half in allen praktischen Dingen des Alltags. Auch meine Schwester war uns eine große Hilfe. Ich konnte alle Dinge, die meinen Vater betrafen, mit ihr besprechen – auch meine negativen Gefühle. Ich hörte keine Kritik, sondern bekam Ermutigung und Unterstützung. Als wir in den Urlaub fahren wollten, zog sie für eine Woche bei uns ein, um unseren Vater zu versorgen. Und auch manches Wochenende vertrat sie uns. Mein Vater wurde zusehends schwächer und empfand sein Leben als beschwerlich. Er hatte aber keine Schmerzen und auch keine Angst vor dem Tod.

TRAURIG UND BEFREIT
Es kam der Tag, an dem ich mir bei einem Sturz den Knöchel brach. Nur Stunden später erlitt mein Vater einen Schlaganfall. Wir lagen für eine Woche im selben Krankenhaus. Mit dem gebrochenen Knöchel wäre es mir unmöglich gewesen, ihn weiter zu Hause zu versorgen. Doch er verstarb friedlich, ehe ich ihm das sagen musste. Das empfand ich im Nachhinein als gutes Timing Gottes. Meine Schwester hatte Zeit, um ihn in den letzten Tagen zu begleiten. Wir verstanden seinen Tod mit 91 Jahren als das Ende eines guten, zuletzt aber auch beschwerlichen Lebens. Ich war traurig, fühlte mich aber auch befreit. Im Nachhinein habe ich bemerkt, dass ich mich besonders an den Eigenarten meines Vaters gerieben habe, die ich auch bei mir selbst feststelle. Daher will ich schon jetzt versuchen, meine Neugier gegenüber unseren Kindern zu zügeln oder zumindest nicht zu zeigen. Und ich will nicht immer erwarten, dass alles so läuft, wie ich es mir vorstelle. Auch ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, die Privatsphäre meiner Kinder zu respektieren und ihnen ihren Freiraum zu lassen.

SCHULDGEFÜHLE
Wenn ich heute über die letzte Zeit mit meinem Vater nachdenke, bekomme ich manchmal Schuldgefühle. Das passiert besonders, wenn ich davon lese oder höre, dass andere die letzte Zeit mit einem zu pflegenden Elternteil als Beginn einer neuen innigen Beziehung empfunden haben. Aber ich wollte nicht zu viel Nähe haben. Heute denke ich, dass ich ihm die letzte Zeit ein wenig schöner hätte machen können, etwa durch mehr herzliche Berührungen und intensivere Gespräche. Wenn ich mit meinem Mann oder meiner Schwester darüber rede, entgegnen sie mir, dass mein Vater sich bei uns wohlgefühlt hat und ich es gut gemacht habe. Aber die Schuldgefühle blieben noch lange. Irgendwann ist mir klargeworden, dass es weder sinnvoll ist, über meine Versäumnisse nachzugrübeln noch mir immer wieder die Bestätigung einzuholen, dass ich alles richtig gemacht habe. Gott kennt mein Herz und auch meine Versäumnisse. Er hat mir darüber Vergebung und Frieden geschenkt.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Was Kinder und Eltern brauchen – Bericht von der FEBuB

Am Wochenende fand in Bochum die FEBuB statt – die Familienkonferenz für Elternschaft, Bindung und Beziehung. Hier trafen sich Fachleute und Eltern, denen das Konzept einer bindungsorientierten Elternschaft am Herzen liegt. Zu den Referent/innen gehörten unter anderem der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster, Nicola Schmidt (artgerecht-Projekt), Susanne Mierau (geborgen wachsen), die Autorin Nora Imlau und familylab-Gründer Mathias Voelchert.

Bei einer bindungsorientierten Elternschaft steht die Bindung und Beziehung zwischen Eltern und Kindern im Mittelpunkt. Ein wichtiger Grundsatz ist, dass vor allem bei Babys und kleinen Kindern möglichst prompt und einfühlsam auf ihre Bedürfnisse reagiert wird. Tragen, (langes) Stillen und Familienbett spielt für die meisten bindungsorientierten Eltern eine wichtige Rolle. In den letzten Jahren wurde auf den entsprechenden Blogs und in Büchern oft sehr stark die Betonung darauf gelegt, dass Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen und erfüllen. Auffällig bei der FEBuB war, dass inzwischen auch die Bedürfnisse der Eltern stärker in den Fokus gerückt sind. So sprach Nicola Schmidt vom „artgerecht-Projekt“ in ihrem Vortrag darüber, wie Eltern den Stress aus dem Familienalltag nehmen können. Und dass es nicht nur für Kinder, sondern auch für Eltern dringend notwendig sei, Geborgenheit zu erfahren.

Auch Susanne Mierau, die für das Konzept „geborgen wachsen“ steht, ging intensiv auf die Elternbedürfnisse ein und gab Anregungen, wie die Bedürfnisse der Kinder und der Eltern in ein Gleichgewicht kommen können. Lienhard Valentin, der den Verein „Mit Kindern wachsen“ gegründet hat, beschrieb, wie Eltern zu mehr Gelassenheit kommen können.

Auch bei Nora Imlaus Vortrag über die Geburt ging es nicht nur darum, wie Kinder gut geboren werden, sondern auch wie Mütter gut gebären können. Und dass Mütter ein Recht auf eine gute Geburt haben.

Am stärksten die Eltern im Blick hatte allerdings Mathias Voelchert, der betonte, dass es Kindern nur so gut gehe, wie es den Eltern geht. Er plädierte dafür, dass nicht die Kinder im Aufmerksamkeitszentrum der Familie stehen sollten, sondern die Eltern.

Insgesamt stand bei allen Referent/innen das Thema Bindung im Mittelpunkt. Und dass immer mehr Eltern sich mit diesem Thema auseinandersetzen, ist eine gute Entwicklung. Letztlich kommt es darauf an – wie die Psychotherapeutin Stefanie Stahl in ihrem Vortrag betonte –, dass sowohl die Bindungsbedürfnisse als auch die Autonomiebedürfnisse eines Kindes erfüllt werden. Sie zeigte Wege auf, wie Eltern, die diese Balance als Kind selbst nicht erlebt haben, dies aufarbeiten und damit viele ihrer Probleme angehen können.

Was auffiel: Es waren zwar auch Väter vertreten, insgesamt aber scheint die bindungsorientierte Elternschaft vor allem ein Thema für die Mütter zu sein. Wie sagte eine Mutter so schön: „Mein Mann lässt mir freie Hand.“ Es wäre zu wünschen, dass mehr Männer sich mit Familien- und Erziehungsthemen auseinandersetzen und nicht einfach die Frauen machen lassen. Eine Chance dazu bietet sich spätestens 2019: Dann geht die FEBub in die zweite Runde.

Bettina Wendland

Redakteurin Family und FamilyNEXT

PS: In der nächsten Ausgabe von Family veröffentlichen wir ein Interview mit Susanne Mierau, in dem es unter anderem darum geht, wie bindungsorientierte Elternschaft aussieht.

„Wie leises Gift…“

Andere meinen, wir seien eine richtige „Vorzeigefamilie“: Wir haben ein schönes, selbst renoviertes Haus mit Garten, Hund und Kater. Eine gute Ehe und zwei Töchter (17 und 19), die fleißig lernen. Alle vier sind wir in eine lebendige Kirchengemeinde integriert und übernehmen jeweils kleinere Ehrenämter. Doch dieses Bilderbuchidyll bekam einen Riss, als unsere Jüngste vor vier Jahren nach einer ärztlichen Untersuchung ihr Gewicht zu hoch fand und eine Diät begann …

ZURÜCKGEZOGEN
Nach einem halben Jahr sprach eine Freundin mich an, dass Anneli (Name geändert) so abgenommen habe. Sie sagte, ich solle mal genauer hinschauen. Nicht dass sie noch eine Essstörung bekommt. Anneli verzichtete zu dieser Zeit total auf Süßes und joggte regelmäßig. Ich fand es gut, dass sie plötzlich Sport machte. Doch ich merkte, dass sie immer schmaler und stiller und unglücklicher wurde. Ich sprach sie auf ihr Essverhalten an. Sie meinte, dass sie gewisse Dinge nicht mehr essen könne. Nach und nach verweigerte sie immer mehr. Sie aß nun weder Eis noch Kuchen, mochte keine Schokolade oder Limo mehr! Dazu kam, dass sie sich immer mehr zurückzog. Sie bekam keine Besuche von Freundinnen mehr, wollte sich mit niemandem verabreden. Ein paar Monate zuvor war sie die Lebhafteste in unserer Familie gewesen. Unser Haus war oft voll mit ihren Freunden. Doch nun wirkte sie traurig, war in sich gekehrt und bekam keine Besuche mehr. Nach einigen Gesprächen willigte sie schließlich ein, mit mir zu einer Ernährungsberatung zu gehen. Sie hörte aufmerksam zu und nickte, konnte aber keinen der gut gemeinten Tipps umsetzen. Stattdessen aß sie immer weniger und nahm ständig ab. Wir gingen zum Arzt, informierten uns im Internet und hatten schließlich die Diagnose: Anorexia nervosa – Magersucht!

TRAURIGER GEBURTSTAG
Anneli begann eine ambulante Therapie. Wir wussten, dass es auch Kliniken gibt, die diese Krankheit stationär behandeln. Doch in meinem Kopf sperrte sich alles gegen einen Klinikaufenthalt. Dort konnte man frühestens mit 14 Jahren hin. „Davon sind wir weit entfernt“, dachte ich. Annelis 14. Geburtstag war ein trauriger Tag: Sie war freudlos und depressiv und wog nur noch 34 Kilo. Der Arzt wollte sie in eine Klinik einweisen. Ich heulte, denn das wollte ich auf keinen Fall. Wir versuchten immer wieder, Anneli zum Essen zu bringen: mit Liebe und Zuneigung, mit Gesprächen und Gebeten, mit Strenge … Nichts half! Als sie nur noch 31 Kilo wog, musste sie ins Krankenhaus. Sie kam auf die Kinderonkologie. Ich konnte es kaum ertragen: Da sind kleine Kinder ohne Haare, die kämpfen tapfer ums Überleben, und meine Tochter isst nichts mehr! Ich weinte verzweifelt wie noch nie in meinem Leben. Ich verstand diese Krankheit nicht. „Iss doch endlich!“, dachte ich nur.

LANGE WOCHEN
Vom Krankenhaus kam Anneli direkt in eine Spezialklinik für Essgestörte. Dort konnte man sie etwas aufpäppeln und stabilisieren. Es war eine anstrengende Zeit für uns alle: Zu Hause kamen wir zu dritt zwar zurecht, aber Anneli fehlte uns sehr. An den Wochenenden mussten wir weit fahren, um sie zu besuchen. Und wir lebten mit der Angst, dass Anneli noch viele Jahre so leiden muss und vielleicht nie geheilt wird. Umso glücklicher waren wir, als sie nach 13 Wochen endlich nach Hause kam. Doch damit war die Geschichte nicht zu Ende. Wir bemühten uns sehr, alles zu tun, damit sie zu Hause wieder zurechtkam. Aber irgendetwas machten wir falsch: Innerhalb von sechs Wochen nahm sie fünf Kilo ab. Wir mussten sie wieder in eine Klinik bringen. Dort blieb sie für 16 lange Wochen. Die Magersucht ist wie leises Gift in unsere harmonische Familie getröpfelt und hat uns alle bis zur Erschöpfung gefordert. Unsere Ehe wurde stark geprüft. Wir hatten nur noch Vorwürfe und böse Worte füreinander. Unsere ältere Tochter hat sich in dieser Zeit zurückgezogen, sie war oft bei ihrem Freund und hielt sich – wie wir damals meinten – aus allem raus. Immer lebten wir zwischen Hoffen und Verzweifeln. Ständige Überlegungen quälten mich: Was mache ich falsch? Wieso trifft es uns? Es gab kein einschneidendes Erlebnis wie einen Umzug oder eine Trennung oder andere Auslöser. Deshalb klagte ich mich selbst an: Bin ich als Mutter an ihrer Erkrankung schuld?

GEMEINSAM HELFEN
Damit unsere Ehe nicht weiter leidet, sind wir irgendwann zur Eheberatung gegangen. Dort konnte man uns mit Paargesprächen nachhaltig helfen. Zusätzlich verbrachten wir eine Woche mit drei Paaren und den beiden Ehe-Therapeuten an der Ostsee. Diese intensive Ehe-Zeit hat uns gezeigt, dass wir zusammengehören und unserem Kind nur gemeinsam helfen können.Ein wichtiger Anker für mich waren Freundinnen, mit denen ich beten kann. Oft hatte ich keine Worte für Gott, nur pure Verzweiflung! Wenn ich aber wusste, die anderen beten für uns, hat mich das sehr getröstet. Auch meine Schwester ist mir in dieser harten Zeit zu einem Anker geworden. Während eines Gebets sah ich ein inneres Bild: Anneli lag fast tot auf einer Bahre. Doch dann kam Gott und hauchte ihr wieder seinen Odem, seinen göttlichen Atem ein, und Anneli öffnete ihre Augen. Ich habe mich an diesem Bild festgeklammert. Das war eine eindrückliche und intensive Verheißung. Ich vertraue darauf, dass dieses Bild von Gott kam und er mir damit versprochen hat, Anneli zu helfen.

KEIN ENDE DES TALS IN SICHT
In unserer Gemeinde behandelten wir einige Wochen lang den Psalm 23. Wir lasen dazu das gleichnamige Buch von Jörg Ahlbrecht. Als ich das Kapitel um den 4. Vers las – „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir“ – habe ich bitterlich geweint. Es war noch lange kein Ende des dunklen Tals in Sicht. Doch zu wissen und manchmal auch zu spüren, dass Gott neben mir geht und mich stützt, ist eine so tröstende Hoffnung, dass ich mich auch an diesem Bild festklammere. Außerdem habe ich mich über die Erkrankung informiert, habe Sachbücher und Erfahrungsberichte gelesen. Der Feind ist nicht so gefährlich, wenn man ihn kennt. Das hilft mir, zwischen Anneli und der Essstörung zu unterscheiden. Wenn sie uns wieder einmal belügt oder austrickst, weiß ich: Das ist nicht Anneli, sondern die Essstörung in ihr.

OFFENHEIT UND KLARHEIT
Ich musste lernen, alle Kontrolle über Anneli loszulassen. Ich muss vertrauen, dass die Therapeutin den richtigen Weg mit ihr geht, dass die Kliniken das Richtige tun, dass Anneli lernt, sich wieder „normal“ zu ernähren, dass sie von Gott gehalten und geliebt ist, dass ich als Mutter kaum noch Einfluss habe. Außerdem muss unsere Familie jetzt lernen, unangenehme Dinge anzusprechen und auszudiskutieren. Unser obers-tes Familiengebot ist nicht mehr Harmonie, sondern Offenheit und Klarheit. Seit ich weiß, dass diese Art der Essstörung hauptsächlich in konfliktscheuen, harmoniesüchtigen Familien vorkommt, hat das Wort Harmonie bei mir einen negativen Beigeschmack bekommen. Und eine weitere Erkenntnis möchte ich teilen: Es ist absolut sinnlos, nach dem Warum zu fragen. Diese Frage hat mich immer nur in Sackgassen und dunkle Räume geführt. Sie bringt überhaupt nichts, sie hilft nicht, sondern verbittert nur. Ich schaue lieber nach Veränderungen und stelle fest, dass ich weicher geworden bin, gnädiger und verständnisvoller für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Unser Miteinander in der Ehe ist aufmerksamer geworden, wir können wieder lachen und lassen uns nicht zu sehr von Annelis Launen anstecken. Und wir besprechen unsere Kritik aneinander nicht im Affekt, sondern in Ehegesprächen, im geschützten Rahmen, wenn der „Dampf“ abgelassen ist. Unser Blick ist nicht mehr nur noch auf Anneli gerichtet, sondern auch auf uns und unsere große Tochter. Inzwischen wissen wir, dass sie unglaublich unter der Situation gelitten und ihre Traurigkeit vor uns verborgen hat, um uns Eltern nicht noch mehr Sorgen zu machen. Jetzt ist Anneli 17 und seit vier Jahren erkrankt. Im Schnitt dauert diese Krankheit sechs bis sieben Jahre! Wir sind noch lange nicht durch, haben aber einen Weg gefunden, uns damit zu arrangieren. Wir lernen täglich weiter: Gott zu vertrauen, Anneli das Essen zuzutrauen, wieder Pläne zu machen, das Leben zu genießen.

Die Autorin möchte anonym bleiben.