Eltern bleibt man ein Leben lang, aber die Verantwortung für ihr Leben und ihren Glauben müssen die Kinder irgendwann selbst tragen. Wann das soweit ist und wie man dahin kommt, erklären Cathy Zindel-Weber und Daniel Zindel im FamilyNEXT-Interview.
Es gibt immer wieder Aussagen, ab welchem Alter der Kinder das Erziehen „vorbei“ sei – manche sagen ab 12, andere ab 16. Wie seht ihr das?
Cathy Zindel-Weber: Die Frage ist: Was heißt erziehen? Wenn der 16- oder 18-Jährige noch bei uns wohnt, ist klar: Wir haben Regeln, und er ordnet sich ein. Es gibt Unverhandelbares und Verhandelbares. Wir bleiben Eltern, und doch wachsen die Kinder zu Gegenübern, welche selbst bestimmen. Das eine Kind ist früher eigenverantwortlich unterwegs, das andere später. Die 12-Jährige gestaltet zum Beispiel selbstständig, wann sie ihre Hausaufgaben erledigt, wie sie ihre Zeit einteilt und zu den Freunden Beziehungen pflegt. Es kann aber auch sein, dass der 16-Jährige bei der Tagesstruktur noch die elterliche Hilfe braucht. Auch ein Kind mit einem Handicap braucht länger und wird vielleicht nie ganz eigenverantwortlich leben können. Die Freiheit ist gekoppelt an die Eigenverantwortung. Das ist ein Prozess, der schon beim Kleinkind anfängt und der je nach Bereich früher oder später ein Ende zwischen Eltern und Kind findet. Das Ziel ist, dass das Kind lernt, selbst wahrzunehmen, was ihm und anderen guttut und was dem Leben und den Beziehungen dient.
Daniel Zindel: In dieser Phase gibt es immer wieder schwierige Entscheidungen, zum Beispiel: Soll der 16-Jährige seine Freundin über Nacht bei sich auf dem Zimmer haben? Wie gestalten sie ihre Sexualität? Was ist unsere Verantwortung dabei? Oft ist man da ja als Eltern nicht im selben Boot. Man muss damit ringen: Sollen sie das selbstständig gestalten mit 16 oder 17? Haben wir da auch einen Part? Stellen wir Fragen zur Verhütung? Ich denke, es kommt immer mehr zum Begleiten, zum Dialog. Wir müssen dranbleiben und aushalten, dass Kinder Wege gehen, die wir für uns nicht gewählt haben. Das ist ja auch eine Form von Erziehung: mitgehen, aushalten, zugewandt bleiben.
Ihr würdet also sagen: So viel Freiheit wie möglich – das Ziel ist, dass das Kind selbst entscheidet. Nur wenn ich merke, es kriegt es allein nicht hin, dann muss ich noch unterstützen …
Daniel: Ja, aber immer in dem Spannungsfeld: so viel Freiheit und so viel Verantwortung wie möglich. Ich gebe dir Freiheit, und zugleich hast du die Verantwortung, dich zu führen und dich nicht zu schädigen. Dein Leben soll gelingen. Du sollst dich gut an die Hand nehmen können und die Verantwortung für dich selbst wahrnehmen.
Cathy: Das ist bei allen Kindern ein langer Prozess des Dranbleibens und Nicht-Aufgebens. Wichtig ist, dass man ihnen die Verantwortung nicht wieder abnimmt. Es gibt auch 18- oder 19-Jährige, die diese Verantwortung noch nicht wirklich tragen können, die zum Beispiel mit Finanzen nicht zurechtkommen. Und auch von der Entwicklung und der Reife her länger brauchen. Es sind nicht immer nur die Eltern, die das nicht frühzeitig gemacht haben. Es kann aber sein, dass man ihnen zu lange nur Befehle erteilt oder ihnen zu viel Freiheit gegeben hat, und dann sollen sie auf einmal alles können. Das geht nicht. Jugendliche brauchen Übungsfelder, und da braucht es viel Vertrauen. Wir müssen sie auch in ihren Fehlern begleiten und dann nicht sagen: „Ich hab’s doch gewusst.“ Sondern eher: „Du musst die Konsequenzen tragen, aber wir unterstützen dich und begleiten dich, dass du den Sprung ins Leben schaffst.“
Daniel: Die Familie muss immer wieder neu die Verteilung von Verantwortlichkeiten regeln.
Cathy: Und da ist die Spannung, was wir als Eltern noch bestimmen und was wir als „Wohngemeinschaft“ zusammen entscheiden. Jugendliche entscheiden und gestalten ihr Leben oft nicht nach unseren Vorstellungen und trotzdem lieben wir sie. So ist Gott mit uns allen: Er bleibt uns zugewandt. Wir wählen nicht immer das Gute und Richtige. Und das gilt für unsere Kinder auch. Das braucht Geduld und Spannkraft. Wir haben die Aufgabe, unsere Angst und auch unser Schuldgefühl zu bearbeiten
Schuldgefühle sind ein wichtiges Thema. Wie gehe ich denn damit um, wenn ich erkenne, dass ich in der Erziehung oder der Beziehung zu meinem Kind Fehler gemacht habe?
Daniel: Dazu habe ich ein Beispiel. Bevor unsere Tochter heiratete, sagte sie: „Papa, ich möchte mit dir noch eine Bergwanderung machen.“ Und beim Aufstieg erklärte sie: „Jetzt sag ich dir, was du in meinen Augen alles gut gemacht hast. Und was du in meinen Augen schlecht gemacht hast.“ Sie meinte: „Du hast mich nur gelobt, wenn ich etwas gut gemacht habe.“ Ich erwiderte: „Aber ich habe dich doch immer geliebt.“ Darauf sagte sie: „Das hättest du doch mal sagen können, auch wenn ich nicht unbedingt etwas geleistet habe.“ – Das ist passiert. Das ist nicht reversibel. Ich kann nicht wieder von vorn anfangen. Es gibt wohl bei allen Eltern irgendein Thema, bei dem sie sagen: „Mit der heutigen Erfahrung, mit dem jetzigen Wissen würde ich es anders machen.“ Ich glaube, man kann das nur für sich selbst bereinigen. Es schmerzt. Ich schäme mich vielleicht, bin schuldig geworden. Und ich kann es mit Gott bearbeiten, Vergebung empfangen. Und so wie wir das gemacht haben: Wir konnten es besprechen, es klären. Wir haben Gott sei Dank Kinder, die uns nichts nachtragen. Es gehört auch zur Erziehungsarbeit, dass man auch Biografiearbeit mit den erwachsenen Kindern macht und Dinge klärt. Dass man so miteinander ins Reine kommt. Das ist ein spannender Prozess.
Cathy: Vielleicht gibt es auch Fehler, bei denen ich merke: Das ist echte Schuld. Da haben wir den Kindern etwas zugemutet und sind schuldig geworden. Das hat sie sehr stark verletzt. Aber im Allgemeinen sind es Dinge, die in unserem Unvermögen ohne Absicht geschehen sind.
Daniel: Manchmal haben Eltern Schuldgefühle und versuchen dann, ihr Kind im Nachhinein zufriedenzustellen, indem sie zum Beispiel Finanzen hinterherschieben. Gut abgelöst zu sein heißt auch, bereinigte Beziehungen zu haben.
Cathy: Manchmal kann man das mit den Kindern direkt klären, manchmal muss man einseitig vor Gott seine Fehler bekennen und aushalten, dass die Kinder damit noch einen Weg bis zur Aussöhnung mit den Eltern gehen müssen.
Daniel: Diese Klärung ist auch eine wichtige Voraussetzung für eine gute Großelternrolle. Bereinigte Beziehungen zu den Kindern sind ein Steilpass für gute Beziehungen zu den Enkeln und Schwiegerkindern.
Christliche Eltern sind oft enttäuscht, wenn ihre großen Kinder sich vom Glauben entfernen. Wie können sie gut damit umgehen?
Daniel: Das ist eine echte Not von uns Eltern, wenn unsere Kinder das, was uns am liebsten ist, wie ein Kleid abstreifen. Das tut weh. Diesen Schmerz muss man bei Gott abfließen lassen. Und auch hier muss man dann die Kinder loslassen. Es steckt ja oft auch eine gesunde Autonomie hinter ihrer Absetzbewegung. Wenn es zum Beispiel eine enge Frömmigkeit ist, die sie kennengelernt haben, brauchen sie vielleicht Luft zum Atmen. Wir Eltern denken, sie haben Gott verlassen. Aber vielleicht haben sie einfach unsere Spiritualität, unsere Frömmigkeit verlassen und sind geistlich auf ihrer eigenen Suche.
Cathy: Wenn die Kinder nicht mehr zur Gemeinde gehen oder wenn sie sagen: „Ich will nicht mehr beten“ oder „Ich will nichts mehr mit deinem Gott zu tun haben“, heißt das nicht, sie verlassen Gott. Sie verlassen ein Gottesbild, eine Form und müssen sich manchmal vehement dagegen abgrenzen, besonders wenn eine bestimmte Form sehr dominant war. Manche Kinder brauchen starke Abgrenzungen, um sich durchzusetzen. Eigentlich ist es eine Stärke. Wir können darauf vertrauen, dass die Kinder gerade dadurch ihren eigenen Glauben, ihre Beziehung zu Gott finden. Gott hat keine Enkel, er hat nur Kinder. Jede Generation braucht wieder einen neuen, einen eigenen Zugang zu diesem lebendigen Gott und kann nicht nur einfach etwas übernehmen.
Daniel: Wir haben das als Eltern auch schmerzlich erlebt. Wir haben dann auch erlebt, dass Kinder, wenn sie selbst Kinder bekommen, wieder ganz neu die Frage nach Gott stellen. Und ich vertraue auf die Treue Gottes, der über die Generationen hinweg immer wieder Glauben schenkt.
Cathy: Der Same ist gelegt. Jetzt müssen wir Gott vertrauen. Es ist nicht mehr unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist: zugewandt bleiben.
Das Interview führte FamilyNEXT-Redakteurin Bettina Wendland.