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Ein halbes Kind weniger!

Jahrelang ging es beim Thema Kinderbetreuung vor allem um den Ausbau der Kita-Plätze. Egal ob in Deutschland oder der Schweiz – die Quote war entscheidend. Inzwischen ist allen Beteiligten klar, dass dabei die Qualität nicht selten auf der Strecke blieb. Deshalb wurde in den letzten Jahren viel investiert in die Ausbildung der Erzieherinnen und die Verbesserung des Personalschlüssels. Mit Erfolg: Die Bertelsmann Stiftung stellt in ihrer neusten Untersuchung zur Qualität der Kita-Betreuung in Deutschland fest: Am Stichtag 1. März 2015 war eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft für durchschnittlich 4,3 ganztags betreute Krippen- oder 9,3 Kindergartenkinder zuständig. Vor drei Jahren kamen auf eine Fachkraft noch 4,8 Krippen- beziehungsweise 9,8 Kindergartenkinder.

Das ist allerdings weit von dem entfernt, was Experten fordern. Nach den Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung sollte sich eine Fachkraft um höchstens drei unter Dreijährige oder 7,5 Kindergartenkinder kümmern. Dazu kommt, dass es in den deutschen Bundesländern große Unterschiede gibt. Während in Baden-Württemberg eine Fachkraft für 7,3 Kindergartenkinder zuständig ist, werden in Mecklenburg-Vorpommern fast doppelt so viele Kindergartenkinder pro Kita-Fachkraft betreut.

Zynisch wirkt da eine Presseinfo des sächsischen Kultusministeriums, die uns Ende Juni erreichte. Stolz wird darin berichtet, dass Sachsen den Betreuungsschlüssel in Kitas verbessert habe. Von 1:13 auf 1:12,5. Ein halbes Kind weniger! Großer Applaus!

Gut, das ist ein Weg in die richtige Richtung. Hinkt aber weit hinter dem Anspruch zurück. Immer wieder berichten Eltern von unzumutbaren Bedingungen in Kitas. Im Mai hat ZEIT ONLINE Eltern und Erzieherinnen aufgefordert, Missstände in ihrer Kita zu schildern. Über 2.000 Rückmeldungen gingen ein, ein Teil davon wurde von der Redaktion nachgeprüft. Das ist keine repräsentative Umfrage. Aber es gibt einfach zu viele Fälle von unzureichender Betreuung. Und daran sind in der Regel nicht die Erzieherinnen schuld, sondern die Politiker, die immer noch zu wenig Geld in die Hand nehmen, um die Ausbildung und die Bezahlung der Erzieherinnen zu verbessern und den Personalschlüssel anzuheben. Und das um mehr als ein halbes Kind weniger wie in Sachsen.

Bettina Wendland

Family-Redakteurin

 

„Alle lieb, keine blieb.“

Erst hieß sie Maria, dann hieß sie Monica, dann Christina oder war es Karina? Sophie, Gabi, Katharina, Eva, Anne-Marie, Irina, Birgit, Ramona, Renate … Manche blieben kurz, manche länger, manche sprachen deutsch, manche nicht, manche waren jung, manche älter, manche blond, manche braunhaarig … Nein, es geht nicht um die Liebhaberinnen eines jungen Mannes. Es sind die Bezugspersonen unserer Kinder in einer Münchner KiTa. Die Namen sind selbstverständlich erfunden. Die Zahlen und die Fakten leider nicht.

Die Münchner KiTa, die die kleine Lilly (auch dieser Name ist erfunden) aufgenommen hat, eröffnete im April 2014. Mit viel Hoffnung und zwölf neuen Kindern, die zum ersten Mal die Wärme und Geborgenheit ihrer Familie verließen. Zwölf zarte Kinder, die erst zehn Minuten, dann 30 Minuten, dann zwei Stunden, dann fünf, acht oder gar neun Stunden ganz allein ohne Mama und ohne Papa den halben Tag bei zwei für sie „fremden Wesen“ blieben. Liebevoll haben diese „Wesen“ die zwölf Kinder „eingewöhnt“, aufgenommen, gewickelt, gekitzelt, ihnen Butterbrötchen geschmiert und das Schnitzel kleingeschnitten, haben mit ihnen gekuschelt, gespielt, ihnen vorgesungen, vorgelesen, ihre Hand gehalten, damit sie einschlafen, ihre Stirn gekühlt, jedes Mal wenn sie gestürzt sind. Noch dazu haben sie ihren Eltern täglich ganz Tolles über ihre süßen Krümelchen berichtet und ihnen Tipps und Anregungen gegeben. Diese leistungsstarken, verantwortungsvollen, geborgenheitsschenkenden, wunderbaren Wesen heißen auf Deutsch „Erzieherinnen“ und „Kinderpflegerinnen“. Und die Geschichte klingt märchenhaft schön.

Auch die kleine Lilly hatte zwei liebe Bezugspersonen: eine Erzieherin und eine Kinderpflegerin. Und dann zwei neue. Von ihnen blieb nur eine. Sie wurden wieder zwei. Dann blieb wieder nur eine. Dann keine. Doch wieder zwei. Elf wurden sie insgesamt. Elf unterschiedliche „Ersatzmamis“ hatte die kleine Lilly — und dies innerhalb von eineinhalb Jahren.

In dieser KiTa geht es bei den Fachkräften merkwürdigerweise zu wie im Vogelschlag. Alle paar Monate entdecken die Kinder in der KiTa neue Gesichter. Mit neuen Liedern, neuen Spielen, neuem Geruch, neuen Armen zum Kuscheln, neuen Stimmen zum Vorlesen, neuen Bastelideen, neuen Persönlichkeiten … Alle lieb, aber keine blieb. Es stimmt nicht so ganz: Einigen wurde gekündigt, andere kündigten, aber fünf blieben doch in der KiTa, wurden einfach in die neu eröffneten Gruppen versetzt. Nach dem Motto „rechte Tasche, linke Tasche, vielleicht wird das Geld dadurch mehr“. Personalmangel? Unverträglichkeiten zwischen Kollegen? Konflikte mit Eltern? Unruhige Kinder? Oder irgendwelche anderen Schwierigkeiten? Alles lässt sich mit Versetzung oder Kündigung blitzschnell lösen! Zeit und Geduld, Dialog, Beratung, Supervision: Das ist doch alles passé!

„Bin ich schuld?“, denkt sich die kleine Lilly. Kinder beziehen eben alles auf sich.

Wer ist schuld? Die Erzieherin, die einen besseren Job gefunden hat? Nein. Die KiTa-Leitung, die noch unerfahren ist? Nein. Vielleicht der Träger? Nein, denn er findet kein Personal. Die Stadt München? Nein, denn „das Problem ist auf den in Deutschland herrschenden Fachkräftemangel zurückzuführen“. Das bayerische Staatsministerium? Frau Merkel? Die Europäische Kommission? Niemand fühlt sich verantwortlich. Jeder denkt an seine eigenen Interessen. Und keiner denkt an die kleine Lilly.

Sprachförderung, mathematische Früherziehung, naturwissenschaftliche Früherziehung, Vorbereitung auf Lesen und Schreiben, Singen und Musizieren, musikalische Früherziehung, bildnerisches Gestalten, sportliche Früherziehung — all das sollen unsere Kinder bis zum Schuleintritt können. Und freies Spiel. Mit so genannten Entwicklungsfragebögen wird geprüft, ob sie alles rechtzeitig geschafft haben. Somit ist eine leistungsfähige Jugend für die Zukunft des Landes gesichert. Sie müssen uns ja immerhin bei der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf unterstützen und unsere Renten zahlen. Wenn man früh genug anfängt, kann man mehr erreichen.

Nur die emotionelle Früherziehung steht nicht auf der Liste des Bundesministeriums: Bindung und Geborgenheit, Vertrauen aufbauen, zwischenmenschliche Probleme durchstehen können, Konflikte lösen, aufeinander achten, anderen zuhören, sich trauen, eine eigene Meinung zu haben, die eigenen Gefühle verständlich ausdrücken, tiefe langfristige Beziehungen bauen. Das müsste man auch üben und trainieren, genauso wie 1+1 und Hände waschen. Dafür sind die Ersatzmamis gezwungen, auf ihre eigene Erfahrung zurückzugreifen und ihrem eigenen Instinkt zu folgen. Denn es gibt keine entsprechende PDF-Datei zum Download auf der Seite des Bundesministeriums für Bildung. Emotionelle Entwicklung ist selbstverständlich und sie muss zwischendurch erfolgen, weil das pädagogische Programm schon voll ist.

Nun wollte die kleine Lilly einfach mit ihren Freunden spielen, während die nette Ersatzmami im gleichen Raum das Obst klein schneidet und den Tisch deckt. Es ist ja so gemütlich … Das wurde ihr aber nicht gegönnt. Fast wie das Kinderlied, dass Lilly gerade in der KiTa lernt: „Meine Ersatzmami ist verschwuuunden, ich habe keine Ersatzmami meeehr. Ach, da ist eine neue wieder, trala lala lala laaa …“

Warum versuchen wir, den Kindern mühevoll alles beizubringen? Am Ende werden sie sowieso das tun, was sie von uns sehen. Was lernt die kleine Lilly aus so einer Erfahrung? Sich nicht auf Mitmenschen zu verlassen; keine Versprechen zu halten; nur an sich selber denken; Probleme zu umgehen, anstatt sie anzusprechen und zu lösen; sich anpassen und bloß nicht zu viel Persönlichkeit zeigen; gute Leistung bringen, um beliebt zu werden. Diese erworbenen Eigenschaften, zusammen mit dem „pädagogischen Angebot“, werden unsere Ellenbogengesellschaft bestimmt bereichern.

Marina Varouta, Mama einer 2,5-Jährigen und Lehrerin für musikalische Früherziehung und Klavier

 

Wahlfreiheit

Das Bundesverfassungsgericht hat das Betreuungsgeld gekippt. Im Anschluss daran tauchte ein Wort in den Kommentaren sowohl von Gegnern als auch von Befürwortern des Betreuungsgelds immer wieder auf: Wahlfreiheit. Alle wollen, dass Eltern frei entscheiden können, ob sie ihr Kind in den ersten Lebensjahren selbst betreuen oder ob sie es betreuen lassen. Aber das nehme ich den meisten Kommentatoren nicht ab. Denn wie können sie von Wahlfreiheit sprechen, wenn in ihrem Kommentar überdeutlich wird, dass sie ja am besten wissen, was gut für Eltern und Kinder ist?

Die Gegner des Betreuungsgeldes unterstellen, dass zu Hause betreute Kinder von Bildung ferngehalten werden. Sie reden von „veraltetem Familienbild“ und von „Herdprämie“. In ihren Augen findet „gute Betreuung“, in die das eingesparte Geld nun investiert werden sollte, offensichtlich in der Kita statt. Wahlfreiheit bedeutet für sie, dass Eltern eine passende, wohnortnahe Kita für ihr Kind wählen können. Befürworter des Betreuungsgeldes (zu denen ich auch gehöre), sind oft Gegner der U3-Betreuung (dazu zähle ich mich nicht, auch wenn ich die Frühbetreuung durchaus kritisch sehe). Auch sie fordern Wahlfreiheit für Eltern. Die besteht in ihren Augen allerdings darin, dass Familien vom Staat finanziell so unterstützt werden, dass sie es sich leisten können, von nur einem Einkommen zu leben. Schließlich sei es das Beste für das Kind, zu Hause betreut zu werden. Warum fällt es vielen so schwer, anderen wirklich das Recht einzuräumen, selbst und frei zu entscheiden? Ohne Vorwürfe und Diffamierungen – wahlweise „Rabenmutter“ oder „Heimchen am Herd“?

Natürlich hat auch das Betreuungsgeld mit seinen bescheidenen 150 Euro nicht wirklich zur Wahlfreiheit beigetragen. Echte Wahlfreiheit würde ein deutlich höheres Betreuungsgeld voraussetzen. Aber es war zumindest ein Anfang. Wenn nicht nur die Eltern vom Staat unterstützt werden, die ihr Kind betreuen lassen, sondern auch die, die es selbst betreuen, dann kommen wir der Wahlfreiheit schon etwas näher. Gute (!) Kitas muss es trotzdem geben.

Bettina Wendland

Family-Redakteurin

Guter Start in der Krippe

„Laura ist ein Jahr alt. Da ich alleinerziehend bin und wieder arbeiten muss, werde ich sie in einer Krippe betreuen lassen. Ich habe ein wenig Angst davor, denn Laura hängt sehr an mir. Wie kann ich ihr bei der Eingewöhnung helfen?“ Weiterlesen