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Ziemlich beste (Schwieger-)Eltern: So klappt es mit einer guten Beziehung zu erwachsenen Kindern

Auch erwachsene Kinder brauchen Liebe und Rückhalt. Zugleich bauen sie an einem eigenen Leben und entwickeln sich weiter. Wie verhalten sich Eltern da am besten? Sieben Thesen für eine gelingende Beziehung.

Von Jörg Berger

Die Sichtweisen, die ich Ihnen hier vorstelle, entwickeln sich normalerweise in einer persönlichen Begleitung. In wenigen Zeilen könnten sie wie ein Anforderungskatalog wirken, dem man kaum gerecht werden kann. Doch spüren Sie dabei in Ihr Elternherz. Ist es nicht genau das, was Sie Ihren Kindern sein und geben wollen? Wir blicken als fortgeschrittene Eltern auf eine ermutigende Erfahrung zurück: Vieles gelingt, obwohl wir nicht perfekt sind. Die Liebe zählt.

1. Erwachsene Kinder brauchen Eltern, die sich ihrer emotionalen Macht bewusst sind
Es fühlt sich oft gar nicht so an. Stattdessen fühlen wir Eltern uns verwundbar – spätestens, wenn jugendliche Kinder wütend auf uns werden, dicht machen oder hart über uns urteilen. Und eines Tages verlassen sie uns. Wir Eltern müssen loslassen. Viele – wie meine Frau und ich gerade – bleiben auch traurig zurück und überlegen, was nun unser Leben füllt. Doch in emotionaler Hinsicht üben wir unbewusst mehr Macht aus, als wir denken. Wenn Kinder heftig reagieren, tun sie das, weil sie unserer Elternmacht etwas entgegensetzen. Wir haben uns tief in ihre Seele eingeprägt, mit Wertvollem und auch mit Belastendem. Das Gefühlsleben, das Gewissen und die spontanen Gedanken unserer Kinder werden immer von uns beeinflusst bleiben, auch wenn zum Glück neue Prägungen hinzukommen.

Deshalb lösen sich auch erwachsene Kinder weiter von uns Eltern ab. Um entfalten zu können, was in ihnen steckt, müssen unsere Kinder noch das eine oder andere von uns abstoßen. Was folgt daraus? Zunächst ein weites Herz für Überreaktionen. Unsere erwachsenen Kinder dürfen und sollen auch einmal wütend werden. Sie dürfen und sollen sich auch einmal verschließen oder überkritisch sein. Denn in jeder Reaktion auf Heutiges kann eine Reaktion auf frühere Erfahrungen enthalten sein. Eltern, die solche Reaktionen nicht auf die Goldwaage legen, erleichtern ihren Kindern, sich als gleichberechtigtes Gegenüber zu fühlen. Dann klingen mit den Jahren auch die Überreaktionen ab.

2. Erwachsene Kinder schätzen Eltern, die gut mit Schuld umgehen können
Eltern werden an ihren Kindern schuldig. Je reifer Eltern mit dieser Tatsache umgehen, desto leichter machen sie es ihren Kindern. Nicht hilfreich sind übertriebene Schuldgefühle, denn dann käme ja die Botschaft an: „Ich habe bei dir versagt. Du bist ganz verkorkst.“ Unsere Kinder sind wunderbar; wir können also nicht alles falsch gemacht haben. Wenig hilfreich wäre es auch, bei unseren Kindern eine Absolution zu suchen: „Kannst du mir vergeben, was ich falsch gemacht habe?“ Kinder können Eltern nicht von Schuldgefühlen entlasten. Eine grundsätzliche Vergebung könnte es außerdem erschweren, irgendwann einmal konkret anzusprechen, was in der Vergangenheit nicht gut gelaufen ist. Denn dürfen Kinder das noch, wenn sie doch schon „alles“ vergeben haben?

Wenn Eltern die Frage nach eigener Schuld beschäftigt, rate ich ihnen: „Seien Sie einfach offen, aufmerksam und einladend, wenn Sie merken, dass Ihr Kind etwas aus der Vergangenheit beschäftigt. Wenn etwas zur Sprache kommt, können Sie Fehler eingestehen und um Vergebung bitten. Aber vielleicht ist das, wofür Sie sich gerade schuldig fühlen, gar kein Problem für Ihr Kind.“ Solange es nicht zum Thema wird, ist eine Schuld woanders besser aufgehoben: in einer Beichte, einem Seelsorgegespräch oder im vertrauten Gespräch einer Freundschaft.

3. Erwachsene Kinder staunen über korrekturbereite Eltern
Ob wir entspannt mit Fehlern der Vergangenheit umgehen können, zeigt sich auch darin, wie wir heute reagieren, wenn uns Kinder mit ihrer Reaktion zeigen, dass wir gerade unachtsam, ungerecht, zu kritisch, zu wenig feinfühlig und anderes waren. Natürlich sind auch unsere Kinder keine Heiligen. Trotzdem werbe ich im Umgang mit ihnen um eine Korrekturbereitschaft – zur Not auch einseitig: „Du hast Recht, gerade war ich wirklich … Das tut mir leid. Du musst dich … gefühlt haben.“

Ich habe schon viele Beispiele erlebt und erzählt bekommen, in denen sich dadurch eine Situation entspannt und die erwachsenen Kinder dann eingestehen: „Danke. Ich habe ja auch …“ Manchmal brauchen Eltern dazu etwas Geduld. In bestimmten Ablösungsphasen ist es Kindern einfach wichtig, nicht immer diejenigen zu sein, mit denen etwas nicht stimmt, die nicht genügen oder etwas falsch machen.

4. Erwachsene Kinder freuen sich über Diskretion
Unsere Kinder sind unser großes Projekt. Wir würden lügen, wenn wir behaupten, in unserem Stolz auf unsere Kinder läge nicht auch ein klein wenig Stolz auf uns selbst. Gleichzeitig ist das Wohl unserer Kinder unser verwundbarster Punkt. Was ihnen droht, versetzt uns in Sorge. Was sie schmerzt, geht uns an die Nieren. All das macht unsere Kinder zu einem naheliegenden Gesprächsstoff. Doch wer soll von dem erfahren, was sich im Leben unserer Kinder abspielt? Wer darf von ihnen wissen, was sie selbst nur wenigen Menschen anvertrauen? Das sollte sich an dem orientieren, womit sich unsere Kinder wohl fühlen. Wer sich für Diskretion entscheidet, wird sich manchmal auf die Zunge beißen. Doch es lohnt sich. Kinder spüren das Maß unserer Vertraulichkeit und das bestimmt das Maß ihres Vertrauens.

Bei sensiblen Themen würde ich sogar sagen: Nicht alles, was ein Vaterohr hört, ist auch für das Mutterohr bestimmt und umgekehrt. Es gibt Männerthemen und Frauenthemen. Und es gibt Themen, die man lieber mit demjenigen bespricht, der etwas Abstand zu den Dingen hat. Bei anderen Themen wäre alles andere als eine gefühlvolle Reaktion verletzend. Die wird man eher bei dem emotionaleren Elternteil suchen. Manchmal ersehnen Kinder einen klaren Maßstab, der sie auf Kurs hält. Manchmal brauchen sie ein Gegenüber, das Fünfe gerade sein lässt. Hier öffnen sich Kinder je nach Thema mal dem einen, mal dem anderen Elternteil.

Erwachsene Kinder würden sich komisch fühlen, wenn sie bitten: „Sag es lieber nicht der Mama/dem Papa.“ Doch genau das kann einmal dran sein. Das andere Elternteil kann dann vielleicht stichwortartig einbezogen werden: „Wir haben darüber gesprochen, wie es Pia gerade in der Ausbildung geht.“

Ein, zwei verschwiegene Orte würde ich dennoch allen Eltern empfehlen. Es gibt Dinge, an denen man alleine zu schwer tragen würde und die man aussprechen muss. Dazu eignen sich Personen, die den erwachsenen Kindern nicht allzu nahestehen und die für sich behalten, was man ihnen anvertraut.

5. Erwachsene Kinder brauchen glückliche Eltern
Haben wir für unsere Kinder Opfer gebracht? Hoffentlich nicht. Denn die Anstrengung, der Schlafmangel, das Pausieren persönlicher Freiheiten und ein materieller Verzicht sind mehr als aufgewogen im Glück, das wir an und mit unseren Kindern erlebt haben. Dennoch ist es möglich, dass, je nach Lebens- und Familiengeschichte, das Elternsein vielleicht ein Kampf war, der Wunden und Narben zurückgelassen hat. Dann ist es umso wichtiger, dass sich Eltern mit ihrer Geschichte versöhnen. Sie dürfen stolz auf die Wunden und Narben sein. Denn sie haben sie sich im Einsatz für etwas Wertvolles zugezogen. Eltern sollten nicht ruhen, bis sie damit glücklich sind. Vielleicht braucht es dazu Orte der Regeneration, eine Begleitung oder eine Zeit, in der eine heilsame Selbstfürsorge im Vordergrund steht.

Kaum dass wir unsere Elternaufgabe gemeistert haben, kommt außerdem die Lebensphase, die unser Glück hart angreifen kann: Zeichen des Alters, Krankheit, zerbrechende Beziehungen, Verluste, Lebensträume, die Sie nicht mehr verwirklichen werden. Doch das soll unsere erwachsenen Kinder nicht belasten. Sie sollen doch fröhlich und unbelastet in das eigene Leben starten. Darf ich so weit gehen und vertreten, dass es unsere fortgeschrittene Elternpflicht ist, glücklich zu sein?

Glück ist nicht auf gute Lebensumstände angewiesen. Das zu entdecken, fordert die eigene Entwicklung und vielleicht den eigenen Glauben heraus. Glück in der Lebensmitte verstehen nur noch wenige als ein Leben ohne Belastungen. Es heißt vielmehr: Belastungen durch Wertvolles aufwiegen, bis das Glück obenauf ist.

6. Natürlich brauchen Kinder, was Sie ohnehin tun
Es geht so viel Rückhalt davon aus, wenn Eltern helfen, sich interessieren, schenken, kochen, zu etwas einladen… Man kann es nicht hoch genug schätzen. Eben weil wir Eltern immer eine emotionale Macht behalten, geht zu Herzen, was von uns kommt. Das Wissen, auf uns zählen zu können, gibt unseren Kindern Stärke, wenn Situationen besonderen Mut erfordern.

Gleichzeitig schützt der Rückhalt im Elternhaus vor falscher Stärke, die man im Geldanhäufen, im Erfolg oder in einer Ich-brauche-niemanden-Mentalität finden könnte. Leben gelingt nur, wenn die Fähigkeit, sich verwundbar zu machen, mit Mut zusammenfindet. Das geht nur mit Rückhalt. Den kann man auch bei anderen finden. Aber es ist schön, wenn man ihn bei den Eltern hat.

7. Erwachsene Kinder schätzen ein zweites Zuhause
Schwiegerkinder finden bei ihren „neuen Eltern“ oft ein zweites Zuhause. Sie erleben eine Zugehörigkeit und eine Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft sind. Sie können etwas genießen, was die eigenen Eltern eventuell nicht so gut geben konnten, und ein Nachholbedürfnis stillen. Wo die eigenen Eltern vielleicht ernst und verantwortlich waren, genießt man in der Schwiegerfamilie Humor und Entspannung. Wo Eltern ihre Liebe nicht so offen zeigen konnten, füllt die Herzlichkeit der Schwiegerfamilie den emotionalen Tank. Es kann für Schwiegereltern sehr motivierend sein, wenn sie spüren, wie wichtig sie für Schwiegertöchter und -söhne sind. Das hilft auch, sich für das Ungewohnte zu öffnen, das mit Schwiegerkindern in die Familie kommt. Früher oder später wird man auch mal einen Konflikt mit Schwiegerkindern austragen müssen. Doch der kann von der Liebe bestimmt sein, die man für die eigenen Kinder hat, und vom Taktgefühl, das man gegenüber Gästen zeigt.

Unser emotionales Gehirn kennt übrigens kein „Schwieger-“. Dafür hat es keine Kategorie. Wo unser Verstand „Schwiegereltern“ denkt, fühlt unser Herz: „Eltern.“ Schwiegereltern können die ersten Thesen deshalb auch auf ihre Schwiegerkinder anwenden. In gewisser Hinsicht ist das sogar leichter. Denn eine Toleranz für Überreaktionen und eine Bereitschaft zur Selbstkorrektur gleichen dann aus, was andere Eltern versäumt haben.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (epaartherapie.de). Mehr zum Thema finden Sie in seinem Buch „Stachelige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Frieden schließen und versöhnt leben“ (Francke).

Konflikte mit den Schwiegereltern – was tun?

Wenn ein Paar heiratet, kommt ein neues Mitglied in die Familie. Das kann zu Konflikten zwischen (Schwieger-)Eltern und Kindern, aber auch zwischen den Partnern selbst führen.  Psychologe Jörg Berger über ein herausforderndes Beziehungsdreieck.

Warum sind Schwiegermütter so sprichwörtlich geworden – als Schreckgestalt, besonders für ihre Schwiegertöchter? Schwiegermütter sind ja auch Ehefrau, Freundin, Kollegin und vielleicht Oma. Irgendetwas muss an der Rolle der Schwiegermutter besonders verhängnisvoll sein. Natürlich können auch Schwiegerväter zum Albtraum ihrer Schwiegerkinder werden. Das Verhängnis liegt in der Dreiecksbeziehung, die zwischen Schwiegereltern, Kindern und Schwiegerkindern entsteht.

Schwiegereltern haben Erwartungen an ihre erwachsenen Kinder. Je weniger reif sie mit diesen Erwartungen umgehen, desto mehr Konflikte entstehen. Ein Partner, der noch stark unter dem Einfluss seiner Eltern steht, sitzt dann zwischen den Stühlen. Er stellt sich manchmal auf die Seite seiner Eltern, wo er an der Seite der Partnerin stehen sollte, oder schweigt, obwohl er die Eltern konfrontieren sollte.

Außerdem hat die Position eines Schwiegerkindes gleich zwei Nachteile. Einerseits kann man den Schwiegereltern nicht einfach aus dem Weg gehen. Sie sind Teil der eigenen Familie geworden. Andererseits ist man nicht ihr Kind, man kann sich nicht sicher sein, von ihnen so vorbehaltlos geliebt zu werden und ihnen so wichtig zu sein, wie ein eigenes Kind. Stattdessen werden Schwiegerkinder manchmal wie Eindringlinge empfunden. Sie werden bewertet und nur in dem Maß geliebt, wie sie sich an die Regeln und Sichtweisen der Schwiegerfamilie anpassen. Natürlich kann es auch anders sein: Dann finden Schwiegerkinder eine wunderbare Ergänzung zu dem, was sie aus ihrer eigenen Familie kennen. Doch an dieser Stelle soll es um die schwierigen Konstellationen gehen.

Die Basis der Dreiecksbeziehung

Eigentlich dürfte es keine Probleme mit Schwiegereltern geben, auch nicht, wenn diese schwierig sind: Denn es gibt ja den Partner. Als Tochter oder als Sohn können Partner durchsetzen, dass sich die Eltern fair und liebevoll verhalten, wenn sie ihrer Schwiegertochter oder ihrem Schwiegersohn begegnen. Wie das möglich ist, habe ich in den ersten beiden Teilen der Serie gezeigt. Doch nicht immer ist sich ein Paar einig. Manche Partner sind gegenüber den Schwächen ihrer Eltern abgestumpft: „So sind sie eben. Warum soll man mit ihnen streiten? Die werden sich nicht ändern. Man muss sie eben ertragen.“ Doch dann stehen Schwiegerkinder allein da. Sie sind nicht abgestumpft, sondern sie leiden. Sie haben nicht resigniert, sondern wollen nicht alles ertragen, was die Schwiegereltern ihnen zumuten. Wenn man es genau betrachtet, haben Schwiegerkinder dann kein Problem mit den Schwiegereltern. Sie haben ein Problem mit dem Partner. Denn der Partner verschließt die Augen und macht sich auch stumpf gegenüber dem, was der oder die andere von den Schwiegereltern erleidet. Deshalb findet sich der Ansatzpunkt zunächst in der Paarbeziehung. Hier finden Sie einen Crashkurs für den Umgang mit einem Partner, der gegenüber schwierigen Eltern resigniert hat:

  • Kritisieren Sie die Schwiegereltern nicht. Die dürfen bleiben, wie sie sind, und sein, wie sie wollen. Doch auch Sie dürfen so sein, wie Sie sind, und auf die Schwiegereltern reagieren, wie es Ihnen und Ihrem Wohlbefinden entspricht.
  • Kritisieren Sie nicht, wie Ihr Partner mit den Eltern umgeht. Abstumpfung ist auch ein Weg. Im Alter werden viele Schwiegereltern milder, und es kann wieder ganz nett mit ihnen werden. Aber Abstumpfung ist vielleicht nicht Ihr Weg. Auch dazu dürfen Sie stehen.
  • Bleiben Sie bei sich und beschreiben Sie Ihrem Partner ohne Vorwürfe, wie es Ihnen mit den Schwiegereltern geht und warum Sie sich das auf Dauer so nicht vorstellen können.
  • Machen Sie Ihrem Partner konkrete Vorschläge, wie er Sie vor den Schwiegereltern besser schützen könnte.
  • Machen Sie Ihrem Partner deutlich, dass Sie zur Not auch allein einen Weg gehen werden, an dessen Ende Sie sich mit den Schwiegereltern wieder wohlfühlen werden. Meist beinhaltet das, gegenüber den Schwiegereltern taktvoll auszusprechen, dass man sich mit ihnen nicht immer wohlfühlt und warum das so ist. Das lädt Schwiegereltern zu einer besseren Beziehung ein. Vielleicht ändert sich etwas. Wenn nicht, können Sie Besuche einschränken oder vermeiden, mit den Schwiegereltern Zeit allein zu verbringen. Sie können sogar etwas anderes unternehmen, wenn die Schwiegereltern zu Besuch kommen.

Schwiegereltern und die Regeln der Gastfreundschaft

Wir machen uns das nicht immer bewusst, doch jede Gastfreundschaft beruht auf einem feinfühligen Umgang mit Zumutungen. Der Gast tritt in die Welt des Gastgebers ein und muss mit dem zurechtkommen, was er dort vorfindet: die Einrichtung, die Umgangsformen, die Abläufe, die Getränke und Mahlzeiten. Ein Gast zeigt auch da Wertschätzung, wo der Gastgeber seinen Geschmack nicht trifft. Ein Gast erträgt höflich, wenn ein Gastgeber seine Bedürfnisse nicht erkennt. Im Gegenzug tut ein Gastgeber alles, damit sich ein Gast wohlfühlen kann. Er erkundet aufmerksam, was dazu nötig ist.

Dieses Wechselspiel ist nicht immer einfach. Wer könnte keine Geschichten von missglückten Besuchen erzählen? Von Gästen, nach deren Gehen man aufatmet. Von Gastgebern, deren Einladung man kein zweites Mal annimmt. Schwiegereltern können jedoch zum Härtefall der Gastfreundschaft werden. Denn sie besucht man häufig und oft länger als zum Beispiel Freunde. Ihre nächste Einladung kann man kaum ausschlagen, nur weil man sich beim letzten Mal nicht wohlgefühlt hat. Außerdem begegnet man bei Besuchen nicht nur den Schwiegereltern, sondern manchmal der ganzen Sippe, zum Beispiel bei Geburtstagen oder Familienfesten. Dann sind Geschwister da, Tanten, Onkel oder Großeltern.

Eine andere Familienkultur

Schwiegerkinder sind einer Familienkultur ausgesetzt, die alle für selbstverständlich halten. In manchen Familien herrscht ein derber Humor, der für angeheiratete Partner verletzend sein kann. Manche Familien entspannen sich bei oberflächlicher Konversation, während Schwiegerkinder das Gefühl haben, emotional zu verhungern. Sie fühlen sich austauschbar und erleben kein persönliches Interesse. In anderen Familien wird laut gestritten, schamlos werden Konkurrenzkämpfe ausgetragen, eines der Geschwisterkinder wird noch heute gemobbt oder es gibt eine allseits bewunderte Person, die alle Aufmerksamkeit an sich bindet. All das mag für die Familie in Ordnung sein, doch sobald ein Gast da ist, der nicht aus der Sippe stammt, verpflichtet die Gastfreundschaft zur Rücksicht: Fühlt sich ein Gast mit unserer Familienkultur wohl?

Allen schwierigen Eltern und Schwiegereltern ist gemeinsam, dass sie sich diese Frage nicht stellen. Schwiegerkinder haben dann nur zwei schlechte Möglichkeiten: Entweder leiden sie still oder sie erscheinen als undankbarer, unzufriedener oder überempfindlicher Gast. Denn die Höflichkeit gebietet ja, als Gast dankbar zu empfangen, was man vorfindet. Sich aus dieser Position gegen die Familienkultur zu stemmen, ist zwar nicht unmöglich, aber sehr, sehr schwierig.

Es ist deshalb zuallererst Aufgabe des erwachsenen Kindes, in seiner Herkunftsfamilie echte Gastfreundschaft einzufordern. Oft gelingt das mit geduldiger Aufklärung. Das kann zum Beispiel so klingen:

  • „Papa, ich finde, wir sind eine tolle Familie. Aber in einer Sache sind wir extrem. Ich glaube, dass es nicht viele Familien gibt, in denen so laut gestritten wird. Ich habe mich daran gewöhnt, aber Vanessa fühlt sich dadurch bedroht. Sie hat aber auch das Recht, sich bei uns wohlzufühlen. Vielleicht denkst du jetzt: In meinem Zuhause kann ich mich so verhalten, wie ich es für richtig halte. Das stimmt auch, solange keine Gäste da sind. Wenn du erwartest, dass Vanessa das einfach erträgt, wird sie irgendwann nicht mehr gerne kommen.“
  • „Mama, jetzt ist mal gut. Du merkst wahrscheinlich gar nicht, wie sehr du Tim gerade bedrängst und in welche Verlegenheit du ihn bringst. Wenn ich mit Tims Augen auf unsere Familie sehe, dann fällt mir auf, wie sehr wir uns einmischen und wie schwer es uns fällt, unterschiedliche Sichtweisen einfach mal stehen zu lassen.“
  • „Papa, wir sind als Familie ja nicht so wahnsinnig gut darin, über Gefühle zu sprechen und uns persönlich für andere zu interessieren. Das ist auch okay so. Aber ich fände es schön, wenn du bei jedem Besuch einmal nachfragst, wie es Hanna geht. Das ist eine kleine Geste, die ihr viel bedeuten würde.“

Freie Herzen und Hände

So kann man zur Not immer wieder die gleiche Botschaft aussenden: Schwiegerkinder sind Gäste und verdienen Gastfreundschaft. Keiner kann erwarten, dass sie sich einer fremden Familienkultur einverleiben lassen. Wer seine Gäste schlecht behandelt, muss damit rechnen, dass sie nicht mehr kommen.

Viele Paare, die ich begleitet habe, erleben einen zweiten Frühling, wenn es mit den Schwiegereltern besser wird. Erst im Nachhinein kann das Paar spüren, wie groß die Last war, die es durch die schwierige Beziehung zu den (Schwieger-)Eltern getragen hat. Sie hat so viel Energie gekostet, so viele schwierige Gespräche erfordert und sogar zu Streit in der Paarbeziehung geführt. Paare staunen deshalb über die Leichtigkeit, die in ihre Beziehung einzieht, wenn das Verhältnis zu den Schwiegereltern geklärt ist. Es ist plötzlich mehr Energie da, die ein Paar in lohnende Aufgaben investieren kann.

Jörg Berger ist Diplom-Psychologe und Autor. Er arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.

Paartherapeut klärt auf: (Schwieger-)Eltern können nicht alles verlangen!

Manche Eltern und Schwiegereltern sind kein Rückhalt für ihre Kinder. Im Gegenteil, sie enttäuschen ihre erwachsenen Kinder und rauben ihnen Kraft. Müssen Kinder das hinnehmen? Paartherapeut Jörg Berger erklärt, wie sich erwachsene Kinder verhalten sollten und wann es ratsam ist, sich zurückzuziehen.

Es gibt Eltern, die ihre erwachsenen Kinder zu viel Kraft kosten, die viel von ihren Kindern fordern und nicht auf sie eingehen. Im Folgenden sind Namen verändert und die Lebensgeschichten verfremdet wiedergegeben.

Wenn Eltern zu viel Kraft rauben

Wo Eltern ihre Verantwortung nicht übernehmen, fällt sie den Kindern zu. Kinder sind dann auf sich allein gestellt. Oft übernehmen sie sogar Verantwortung für die Eltern, etwa als Sonnenschein oder Partnerersatz. Das setzt sich meist fort, wenn die Kinder erwachsen sind. Manche Eltern sind von Angst bestimmt. Schon immer haben sie ihre Kinder mit dem alleingelassen, was für sie als Eltern zu anstrengend oder zu bedrohlich war. Das tun sie auch heute noch. Sie verschließen einfach Auge, Ohr und Herz, wenn sie sich überfordert fühlen.

Judith zum Beispiel muss ihre Eltern so nehmen, wie sie sind. Ihre zwei Ältesten sind unkompliziert und robust. Sie kommen mit den Großeltern zurecht. Doch Moritz, der Dritte, ist einfach feinfühlig. Er weint, wenn Opa seine derben Späße macht oder ihm „aus Spaß“ Angst einjagt. Einige Gemüsesorten, die Moritz nicht gern isst, landen trotzdem bei den Großeltern immer wieder auf dem Teller. „Hab dich nicht so“, ist die Botschaft, mit der sich Judiths Eltern das Leben einfach machen.

Gefühl der Verpflichtung

Mit ihren Vorschlägen, wie die Eltern besser auf Moritz eingehen können, stößt Judith auf taube Ohren. Es rührt auch in ihrer eigenen Geschichte, denn Judith war wohl früher so sensibel wie Moritz und hätte Eltern gebraucht, die auf sie eingehen, auch wenn es das Leben etwas komplizierter macht. Judith ist fix und fertig nach Besuchen bei den Eltern. Ihr gehen viele Situationen nach. Sie grübelt, wie es beim nächsten Mal besser werden könnte und kommt doch zu keiner Lösung. Ihre Eltern würden sich gar nicht beschweren, wenn sie weniger zu Besuch kommen würde. Sie nehmen alles hin, solange es sie nicht aus ihrer Komfortzone zwingt. Vermutlich würde auch Judiths Kindern nicht viel fehlen. Aber darf sie die Beziehung einfach auslaufen lassen? Zu den eigenen Eltern? Und aus den Großeltern Fremde machen, zu denen ihre Kinder kaum einen Bezug haben? Gibt es nicht so etwas wie eine Verpflichtung, den Kontakt zu Eltern und Großeltern zu pflegen?

Ein Gefühl der Verpflichtung kann auch noch eine andere Quelle haben. Dann zieht die Not eines Elternteils in die Verantwortung.

Verantwortung für die Eltern

Jonas bekniet seine Mutter: „Mensch, geh’ doch mal zum Arzt.“ Doch seine Mutter entgegnet: „Dein Vater sagt, das sind nur Wehwehchen.“ „Mama, du kannst doch selbst …“, setzt Jonas an, aber er spricht den Satz nicht zu Ende, weil es keinen Sinn hat. Nächste Woche schaut Jonas ohnehin vorbei, dann kann er für die Mutter einen Termin beim Arzt machen. Schon bei dem Gedanken an den Besuch legt sich Jonas eine Last auf die Schultern. Seine Mutter wird klagen: wie sich der Vater schon wieder verhalten hat, dass niemand Zeit für sie hat und dass sie in ihrem Chaos nichts findet. Jonas wird seine übliche Rolle spielen. Er wird zuhören. Er wird ablenken und aufmuntern. Er wird vermutlich wieder vergeblich anregen, dass seine Mutter selbst etwas für ihr Wohlbefinden tut. Danach wird er ausgelaugt zurückfahren.

„Ich könnte das nicht“, sagt Jonas’ Frau, als sie sieht, wie sich Jonas mit Bier, Chips und einer Serie betäubt. Das macht er sonst schon länger nicht mehr, höchstens eben, wenn er bei der Mutter war. „Deine Mutter ist doch erwachsen und gesund. Soll sie doch leben, wie sie es für richtig hält.“ „Stimmt schon“, sagt Jonas und schüttelt vorsichtig die letzten Chips aus der Tüte. „Aber sie ist doch meine Mutter.“ Judith und Jonas haben sich in ihr Schicksal gefügt. Doch Kinder schwieriger Eltern können sich aus der Verantwortungsfalle befreien.

Alte Muster hinter sich lassen

Erwachsene Kinder fühlen sich gegenüber den Eltern so hilflos, wie sie es als Kinder waren. Doch heute verfügen sie über mehr positiven Einfluss, als sie erwarten. Sie sind überrascht, wie leicht sich Eltern manchmal führen lassen und wie gut es gelingt, Grenzen zu setzen. Judith zum Beispiel hat die Zeiten mit ihren Eltern am Telefon vorbereitet: „Papa, du weißt, dass es Moritz nicht gut damit geht, wenn du ihn aus Spaß erschreckst. Das wirst du dieses Mal nicht tun, oder?“ – „Mama, was wirst du denn am Wochenende kochen? (…) Nein, tut mir leid. Bohnen mag Moritz einfach nicht. Das kann nächstes Jahr schon anders sein. Gibt es noch etwas anderes, das du zu den Würstchen kochen kannst?“ Verständnisvoll haben Judiths Eltern auf diese Führung nicht reagiert. Sie haben sich gerechtfertigt und ihr „Hab dich nicht so“ wiederholt. Aber Judith braucht nicht unbedingt Verständnis. Sie hat den Widerstand der Eltern überwunden, indem sie freundlich auf ein paar Dinge bestanden hat.

Jonas hat seiner Mutter eine Grenze gesetzt: „Mama, ich möchte keine negativen Dinge über meinen Vater hören. Das ist doch eher ein Thema für eine Freundin.“ Dass die Mutter keine Freundin hat, mit der sie so offen reden könnte, heißt ja nicht, dass Jonas diese Rolle übernehmen muss. Wann immer Jonas’ Mutter mit Klagen über den Vater beginnt, wiederholt Jonas freundlich seinen Satz. Er wechselt das Thema oder geht in einen anderen Raum, um etwas zu erledigen. Interessanterweise sind die Gespräche mit seiner Mutter dadurch besser geworden. Es haben sich neue Themen ergeben und Jonas hat manches von seiner Mutter erfahren, was er so noch nie gehört hat. Wo sich erwachsene Kinder ihrer Sache sicher sind, kommen sie erstaunlich weit, wenn sie in der Beziehung eine positive Führung übernehmen.

Erwartungen zurücknehmen

Ein weiterer Schritt hat mit der inneren Ablösung von den Eltern zu tun. Ablösung bedeutet, ihnen gegenüber heute als gleichberechtigte Erwachsene zu empfinden und zu handeln. Dabei stirbt mancher kindliche Wunsch. Für Judith zum Beispiel ist es unendlich enttäuschend, wie wenig ihre Eltern auf sie eingehen. In diese Enttäuschung hat sie bis heute nicht eingewilligt. Sie ahnt, wie viel Trauer und Schmerz das auslösen wird. Doch es führt erwachsene Kinder in einen heilsamen Trauerprozess, wenn sie kindliche Hoffnungen begraben: „Ja, es ist nicht schön, aber meine Eltern sind, wie sie sind. Mehr kann ich an dieser Stelle nicht von ihnen erwarten. Ich nehme das an. Ich kämpfe auch nicht mehr dagegen an. Ich überlege stattdessen realistisch, was das für unsere Beziehung heißt.“

Traurige Stimmungen und Gedanken, schmerzliche Erinnerungen an früher und vielleicht auch Träume, die mit den Eltern zu tun haben, sind Zeichen, dass eine tiefere Ablösung stattfindet. Die Beziehung zu den Eltern ordnet sich in dieser Zeit neu. Judith hat ihren Eltern zum Beispiel mehr Verantwortung für die Beziehung zu den Enkeln gegeben: Sie hat ihnen erklärt, was den Enkeln Freude macht, womit sie sich wohlfühlen und womit nicht. Jetzt ist Judith gespannt. Wenn ihre Eltern das nicht aufgreifen, kommen ihre Enkel vermutlich nicht mehr gern zu ihnen. Judith wird sie dann nicht überreden, von ein paar Familienfesten vielleicht abgesehen. Etwas scheitern lassen zu dürfen, ist ein Kennzeichen einer gelungenen Ablösung. Doch neben den Gefühlsfragen tut sich auch die Gewissensfrage auf.

Auf dem Weg zu einem freien Gewissen

Manche Psychologinnen und Psychologen sehen im vierten der zehn Gebote – du sollst deine Eltern ehren – eine fragwürdige kulturelle Prägung. Zu oft haben sie erlebt, wie es Kinder aus schwierigem Elternhaus in die Pflicht nimmt und wehrlos macht. Missbräuchliche Eltern beanspruchen das vierte Gebot als Komplizen, um auch noch erwachsene Kinder gefügig zu machen. Kirchlich geprägte Eltern berufen sich dabei sogar auf die Bibel, andere müssen nur sagen: „Ich als deine Mutter …“ oder „Willst du etwa deinem Vater …“ – und geben ihren Worten unumstößliche Autorität. Eine ganze Kulturgeschichte von Verpflichtung schwingt in solchen Worten mit. So wird Druck aufgebaut, von dem sich Kinder ohne schlechtes Gewissen ablösen können.

Kinder, die sich von schwierigen Eltern ablösen, entscheiden sich nicht gegen die Eltern. Sie entscheiden sich für etwas. Sie empfangen das Geschenk des Lebens und stellen sich mit liebevollem Einsatz den Aufgaben, die ihnen Familie, Beruf und ihr Umfeld stellen. Wo Eltern und Schwiegereltern das unterstützen, kann man Leben teilen. Wo nicht, ist ein heilsamer Abstand nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Auch dann finden sich Gelegenheiten, den Eltern Wertschätzung und Liebe zu schenken. Doch auch schwierige Eltern haben nicht das Recht, ihren Kindern das Geschenk des Lebens zu verderben oder ihnen die Kraft zu rauben, die sie für ihr eigenes Leben brauchen.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (epaartherapie.de). Mehr zum Thema gibt es in seinem Buch „Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Frieden schließen und versöhnt leben“ (Francke).

Schwierige (Schwieger-)Eltern: Manchmal ist Abgrenzung nötig!

Die Beziehung zu den (Schwieger-)Eltern ist oft kompliziert, weil unbewusst Macht ausgeübt wird. Paartherapeut Jörg Berger erklärt, wie solche Konflikte entstehen und wie die schwierige Beziehung gelingen kann.

Als ich ein kleiner Junge war, habe ich mir ein Abendgebet ausgedacht, vermutlich nach dem Vorbild von Gebeten, die ich im Kindergottesdienst gehört habe: „Danke für meine guten Eltern und meine Schwester.“ Erst spät ist mir bewusst geworden, dass ich mir auch deshalb gute Eltern bewahrt habe, weil ich mich sehr an sie angepasst habe. Ich war ein braver Junge. Ich habe meine Gefühle für mich behalten und sie stellenweise ganz betäubt. Meine Bedürfnisse habe ich nur dort gezeigt, wo sich meine Eltern nicht von mir gereizt gefühlt haben. Jeden Schritt über diese unsichtbare Grenze hinaus habe ich mit Schlägen, bedrohlichem Schimpfen und Beschämung bezahlt. Gleichzeitig haben meine Eltern Liebe gezeigt, wo sie es konnten. Sie haben ihr Bestes gegeben. Sie haben mir sogar mehr gegeben, als sie selbst als Kinder von ihren Eltern empfangen haben.

Wer Ähnliches erlebt hat, kennt die Last, die Kinder schwieriger Eltern tragen: Wir fühlen uns unendlich schuldig, wenn wir aussprechen, dass wir schlecht behandelt worden sind. Wir zweifeln lieber an uns selbst. Wir suchen verzweifelt nach dem Trick, der uns in die Kinder verwandelt, mit denen die Eltern ganz zufrieden sind und denen sie ihre besten Seiten zeigen können. Es fällt uns heute noch schwer, uns gegen eine schlechte Behandlung zu wehren. Stattdessen gleichen wir lieber aus und verhindern angestrengt ein Scheitern. Bei mir ist es gut ausgegangen. Meine Braver-Junge-Masche hat mir wohlwollende Erzieherinnen und Lehrer, gute Noten, aufgeschlossene Mitmenschen und schließlich eine liebe Frau eingebracht. Mein frühes Interesse für Psychologie – warum wohl? – hat mich in einen Beruf geführt, der mir viel Freude macht. Mit meinen Eltern habe ich einen versöhnlichen Weg gefunden, auch wenn das Kraft gekostet hat und heute vieles nicht möglich ist, was schön wäre. In meiner Praxis begleite ich Menschen, die einen ähnlichen Weg gegangen sind. Eine umfassend schöne Beziehung zu den Eltern ist für viele Menschen nicht möglich. Doch Konflikte befrieden kann man fast immer.

Was Eltern heute noch Macht gibt

Es gibt Eltern, die zu viel Macht ausüben. Um sie soll es im ersten Teil dieser Serie gehen. Dabei spreche ich von „Eltern“ so, als ob beide Grenzen überschreiten, abwerten oder bestrafen würden. Manchmal ist das auch der Fall. Aber häufiger übt nur ein Elternteil Macht aus und das andere ignoriert dies, verharmlost oder unterstützt es sogar. Denn würde das andere Elternteil korrigierend dazwischengehen, gäbe es das Problem für die Kinder so nicht. (Stattdessen gäbe es wohl ein gefährliches Problem in der Ehe der Eltern.) Wenn Sie das mitdenken, kann ich vereinfachend von „Eltern“ sprechen.

Eltern, die Grenzen überschreiten. Manche Eltern können auch ihren erwachsenen Kindern keine Freiheit lassen. Sie haben unverrückbare Vorstellungen: wie Besuche ablaufen, wie man die Welt sieht und wie man lebt. Mit Leidenschaft regieren sie in das Leben ihrer Kinder und Schwiegerkinder hinein. Wenn sich Kinder wehren, werden sie in zähe Diskussionen verwickelt. Deborah (alle Namen wurden geändert und Umstände verfremdet) zum Beispiel könnte die Hilfe ihrer Eltern so gut gebrauchen, seit das dritte Kind da ist. Aber statt Aufgaben so zu erledigen, wie Deborah es braucht, bestehen die Eltern darauf, die Dinge nach ihren eigenen Vorlieben zu erledigen. Statt einer entspannten Zeit auf dem Spielplatz bestehen die Eltern auf Wanderungen, von denen die beiden Großen kaputt und quengelig zurückkommen. Deborah ist nach einem Besuch am Ende. Hat sich das wirklich gelohnt? Es sind zwar viele Aufgaben erledigt, aber Deborahs Nerven liegen blank.

Eltern, die abwerten. Julian hat sich ein dickes Fell wachsen lassen. Sein Vater schätzt Julians Beruf nicht besonders. Er findet wohl seinen Verdienst zu gering und weist ihn immer wieder auf Karrieremöglichkeiten hin. Und dass sein Vater Annika so offen ablehnt, das trifft Julian zutiefst. Der Vater reagiert bei Tisch einfach nicht, wenn seine Schwiegertochter etwas sagt. Nur wenn er ihre Meinung ganz daneben findet, holt er zu einer langen Belehrung aus. Abwertende Eltern stellen sich auf einen Sockel der Überlegenheit. Von dort aus beurteilen sie das Leben der Kinder. Was hinter ihren Maßstäben zurückbleibt, kommentieren sie mit niederschmetternden Worten. Dabei meinen sie es gut. Sie wollen doch nur, dass ihre Kinder und Schwiegerkinder ein gutes Leben haben.

Eltern, die bestrafen. Muss Strafe sein? Das ist schon bei der Kindererziehung fraglich. Doch manchen Eltern liegt es so im Blut, dass sie auch noch ihre erwachsenen Kinder strafen. Sie ziehen sich zurück, wenn sie sich nicht gut behandelt fühlen, und werfen bei ihren Kindern die Frage auf, was sie verbrochen haben. Strafende Eltern binden ihre Zuneigung, ihre Großzügigkeit und Hilfe an das Wohlverhalten der Kinder und entziehen diese, wenn sie einen Grund dafür sehen. Erwachsene Kinder fühlen sich dann durch Liebesentzug und den Entzug von Unterstützung bestraft. Auch stinkige Reaktionen, die demonstrative Bevorzugung von Geschwistern und gezielt verletzende Bemerkungen eignen sich zur Bestrafung. Kein Wunder, dass Kinder ihre Eltern dann wie rohe Eier behandeln und noch heute in der Furcht leben, etwas falsch zu machen.

Eltern und Schwiegereltern liebevoll entmachten

Eltern erwachsener Kinder haben nur die Macht, die ihnen ihre Kinder heute noch geben. Erwachsene Kinder sollten Liebe nicht mit Liebsein verwechseln. Es gibt auch eine starke Liebe, die sich vor Schwächen der Eltern schützen kann. Sie führt erwachsene Kinder auf einen Weg, der sich zunächst verboten, dann aber sehr befreiend anfühlt.

Freiheit vom schlechten Gewissen. Niemals würden sich erwachsene Kinder von anderen bieten lassen, was sie manchmal bei Eltern und Schwiegereltern ertragen. Das liegt an ihrem Gewissen. Eltern zu ehren ist uns tief eingeprägt, auch ohne kirchliche Prägung. Außerdem ist es für schwierige Eltern charakteristisch, dass sie die Schuld bei den Kindern sehen. Deborahs Eltern halten ihre Tochter für undankbar und kompliziert. Und so fühlt sich Deborah auch nach den Besuchen: undankbar und kompliziert. Erwachsene Kinder dürfen sich von solchen Schuldgefühlen frei machen. Sie sind ihren Eltern Wertschätzung schuldig: für die Würde, die im Elternsein liegt, und für das, was sie den Kindern geschenkt haben. Doch erwachsene Kinder schulden Eltern und Schwiegereltern nicht, dass sie unfaires Verhalten ertragen.

Die Angst vor dem „Scheitern“ verlieren. Der Umgang mit den Schwächen anderer wird leichter, wo man sich an folgende Selbstverständlichkeit hält: Wo mich einer fair und liebevoll behandelt, darf er mir nahekommen. Wer das nicht kann oder will, muss damit leben, dass ich einen Sicherheitsabstand wahre. Mit einem gesunden Abstand kann man viele menschliche Schwächen ertragen. Doch in der Beziehung zu Eltern oder Schwiegereltern bedeutet ein Abstand auch ein Scheitern. Denn es ist schön, sich Eltern zu öffnen, ihren Rat zu suchen, längere Besuche zu machen oder sogar Urlaubstage mit ihnen zu verbringen. Es ist verbindend, wenn sich Eltern und Schwiegereltern tatkräftig und finanziell in das Leben ihrer Kinder einbringen, besonders in fordernden Lebensphasen. Wo erwachsene Kinder das nicht mehr zulassen, ist das ein Scheitern. Es schmerzt und macht traurig, selbst wenn klar ist, dass der Preis für die Nähe viel zu hoch ist. Wenn erwachsene Kinder den Mut zum Scheitern aufbringen, gewinnen sie eine Freiheit, die Chancen mit sich bringt.

Die Tür zu einer guten Zukunft offen halten. Erwachsene Kinder, die in ihrem Gewissen frei geworden sind, können Eltern und Schwiegereltern vor die Wahl stellen. Falls diese an unfairem Verhalten und einer ungesunden Beziehung festhalten wollen, geht manches nicht. Doch die Tür zu einer guten Beziehung steht immer offen. Julian hat das etwa so gemacht: „Papa, ich habe ja schon angesprochen, dass du oft nicht reagierst, wenn Annika beim Essen etwas sagt, außer du willst ihr irgendetwas erklären. Du hast vielleicht deine Gründe dafür. Aber Annika fühlt sich damit nicht wohl. Und ich kann das verstehen. Mir tut es auch weh, wenn ich das Gefühl habe, sie wird von dir ignoriert und nicht geschätzt. Ich finde, es ist kein großes Ding, wenn du ab und zu auf sie eingehst. Du könntest nachfragen oder etwas aufgreifen, was sie sagt. Das gehört doch auch zur Gastfreundschaft. Vielleicht siehst du das anders. Dann werde ich aber manchmal allein kommen und auch nicht mehr so oft.“

Erwachsene Kinder wie Julian erobern sich so eine angemessene Macht zurück. In aller Regel geht das gut aus. Plötzlich bewegt sich etwas in der Beziehung. Oft wird es dann sogar für beide Seiten schöner. Manchmal halten Eltern aber an unfairen Ansichten und Verhaltensweisen fest, als ginge es um ihr Überleben. Dann geht manches eben nicht. Vorerst.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (epaartherapie.de). Mehr zum Thema in den nächsten Ausgaben und in seinem Buch „Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Frieden schließen und versöhnt leben“ (Francke).