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„Wir wollen zumindest für drei Menschen das Leid mildern“

Claudia Lambeck und Stefan Görnert haben einer ukrainischen Mutter und ihren beiden Kindern ein neues Zuhause gegeben.

Der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar hat uns sehr mitgenommen“, erinnert sich Stefan Görnert. Kurz zuvor hatten er und seine Lebensgefährtin Claudia Lambeck ein neues Haus in Wermelskirchen bezogen – mit einer kleinen Wohnung im oberen Stockwerk, die Claudia Lambecks Tochter Laura nutzen wollte. Aber Laura zog es schließlich doch nach Köln in eine WG.

„Wir wollten die Wohnung eigentlich erst mal nicht vermieten“, erklärt Stefan Görnert. Doch dann sahen sie die Bilder von Geflüchteten aus der Ukraine. „Wir konnten es nicht mit unserem Gewissen vereinbaren, dass wir aus Bequemlichkeit eine Wohnung leerstehen haben, und andere Familien suchen dringend eine Unterkunft.“ Stefan Görnert, der als Verwaltungsleiter der Stadt Wermelskirchen arbeitet, informierte Menschen in der Politik darüber, dass sie eine Wohnung für Geflüchtete zur Verfügung stellen könnten. Darüber entstand der Kontakt zu einem Reporter von RTL, der gerade in Warschau war und dort zwei Familien kennengelernt hatte, die ein neues Zuhause suchten. Als Claudia Lambeck und Stefan Görnert gefragt wurden, ob sie eine der Familien aufnehmen könnten, sagten sie sofort ja.

TRAUMATISIERT

Nun hatten sie eine Woche Zeit, um alles vorzubereiten. Die Wohnung war zwar weitgehend möbliert, aber einiges musste noch besorgt und renoviert werden. Schließlich war es so weit: Nach etwa 20 Stunden Zugfahrt kam Svetlana mit ihrem Sohn Danilo (17) und ihrer Tochter Nastia (12) in Wuppertal an. Dort wurden sie abgeholt und nach Wermelskirchen gefahren. Svetlanas Bruder, der schon länger in den Niederlanden lebt, war auch dabei und half der Familie, erst mal zur Ruhe zu kommen. Über ihn lief auch nach seiner Rückkehr nach Hilversum ein großer Teil der Kommunikation, da er im Gegensatz zu seiner Schwester gut Englisch und auch etwas Deutsch spricht. Ansonsten wird überwiegend über eine Übersetzungs-App kommuniziert. „Ich rede aber auch ganz bewusst Deutsch mit ihnen – mit Händen und Füßen“, erklärt Claudia Lambeck. Vor allem Nastia, die inzwischen eine Sekundarschule besucht, versteht schon ein bisschen Deutsch. Sie und ihr Bruder haben schwere Zeiten hinter sich, sind offensichtlich traumatisiert. Die Familie kommt aus Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, die wiederholt Ziel russischer Angriffe war.

Nastia hat nach der Flucht eine Woche lang nicht gesprochen. Erst als sie Nala, den Hund ihrer Gastgeber, kennenlernte, änderte sich das: „Sie hat Nala sofort ins Herz geschlossen und ist mit ihm durch den Garten getollt. Da ist bei ihr der Knoten geplatzt.“ Außerdem hat sie sich mit Jonathan, dem 12-jährigen Sohn der Nachbarn, angefreundet. Sie skaten zusammen und haben auch schon mit Svetlana einen Ausflug nach Köln gemacht. Danilo fällt es offensichtlich deutlich schwerer, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Viele Jungen in seinem Alter sind in der Ukraine geblieben, um mit den erwachsenen Männern zu kämpfen. In Wermelskirchen gibt es nur wenig gleichaltrige Ukrainer.

MORALISCHE VERPFLICHTUNG

Wichtig ist es Claudia Lambeck und Stefan Görnert, dass Svetlana und ihre Kinder sich nicht als Gäste fühlen, sondern unabhängig und eigenständig ihr Leben gestalten können. Deshalb haben sie ihnen eine eigene Waschmaschine gekauft und auch offiziell einen Mietvertrag gemacht. Die Miete übernimmt das Sozialamt. Trotzdem sind sie natürlich zur Stelle, wenn die ukrainische Familie Unterstützung braucht bei Ämtergängen oder Arztbesuchen. Zu Beginn habe sie das Engagement schon viel Zeit gekostet, erklärt Claudia Lambeck. „Aber mittlerweile ist es nicht mehr so viel.“ Zurzeit versuchen sie, für die Familie therapeutische Hilfe zu organisieren. Und – gerade für Danilo – auch einen Sportverein. In der Ukraine hat er geboxt. Nun suchen seine Gastgeber und Vermieter nach einem passenden Verein oder Angebot in Wermelskirchen.

„Ich habe einfach die moralische Verpflichtung gefühlt, da etwas zu tun“, erklärt Stefan Görnert. „Ich möchte etwas dazu beitragen, dass das Leid zumindest für drei Personen etwas gemildert wird.“ Er gibt zu, dass es ihn belastet, Nachrichten aus der Ukraine zu sehen. „Oft hoffe ich dann, dass sie oben in der Wohnung nicht dasselbe im Fernsehen sehen wie wir …“ Auch Claudia Lambeck bedrückt die Situation der Geflüchteten und der Menschen, die noch in der Ukraine leben. Vor einiger Zeit war sie mit Nastia bei einem Friedensgebet, das von verschiedenen Gemeinden der Stadt veranstaltet wurde. „Auf dem Rückweg flog ein kleines Flugzeug über uns hinweg. Da ist Nastia deutlich zusammengezuckt.“ Das Mädchen liegt ihr besonders am Herzen. Und auch die 12-Jährige hat Claudia Lambeck offensichtlich ins Herz geschlossen. „Letztens hat sie mir ein Bild mit einem Herzen gemalt und ‚Ich liebe dich‘ dazugeschrieben. Da geht einem schon das Herz auf!“

Bettina Wendland ist Redakteurin von Family und Family-NEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

„Mein Zuhause ist dein Zuhause“ – Fünffach-Mama Tabea teilt ihr Haus mit geflüchteten Ukrainern

Die Familie von Tabea Gruhn lässt zwei ukrainische Geflüchtete bei sich wohnen. Jetzt erzählt die Mutter von Freudenmomenten und Herausforderungen.

Seit dem Einmarsch Putins in die Ukraine und den damit verbundenen Bildern flüchtender Menschen war mir klar, dass wir unser Haus und unser Familienleben für die öffnen würden, die uns brauchen. Der Gedanke, Menschen aus der Ukraine bei uns im Haus zu haben, bereitete keinem unserer fünf Kinder Sorgen. Es schien für sie selbstverständlich zu sein. Jeden Tag fragten sie: Sind sie schon da? Wann kommen sie? Wer kommt überhaupt?

Am 17. März kam schließlich der Anruf vom Christlichen Integrationszentrum in Augsburg: Natalia und ihr Sohn Mikita (13) waren gerade nach vier Tagen Reise angekommen, erschöpft, ohne Familien- oder Verwandtenanschluss. Natalias Mann und ihr 18-jähriger Sohn waren noch in der Ukraine. Wann ich zum Abholen kommen könnte? Ich sprang ins Auto, holte unsere Kleinste vom Kindergarten ab und fuhr in die Stadt. Nach einer kurzen Begrüßung und ein paar Hinweisen waren wir wieder auf dem Weg nach Hause. Unsere Kinder hatten in der Zwischenzeit das blaugelb angemalte Kalenderblatt mit kyrillischem „Willkommen“ an die Haustür geklebt.

Einstand bei der Eishockey-Mannschaft

Unser Leben hat nun einen neuen Alltag, den wir inzwischen meistens „normal“ leben. Anfangs haben unsere 9- und 11-jährigen Jungs fast ausschließlich mit Mikita gespielt. Inzwischen verbringen sie ihre Zeit auch wieder mit Schulkameraden und Freunden. Wenn unsere Kinder in der Schule sind, bekommt Mikita Online-Unterricht aus der Ukraine. Die Nachmittage verbringt jeder mal für sich, mal miteinander. Mikita, ein passionierter Eishockey-Spieler, durfte schon bei den Augsburger Panthern vorspielen, wo er einen richtig guten Einstand hatte. Natalia hat angefangen, online Deutsch zu lernen und schreibt fleißig Vokabelkärtchen. Die Kinder lieben ihre Pfannkuchen, ich freue mich über zusammengelegte Wäsche und weggesaugte Spinnweben und unsere zwei jüngsten Mädchen über Basteleinheiten. In der Verwaltung des Integrationszentrums hat Natalia im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes eine Stelle bekommen, wozu auch ein Sprachkurs gehört.

Im Großen und Ganzen ist es leicht

Es hört sich vielleicht an, als wäre es zu schön und zu leicht, um wahr zu sein. Aber im Großen und Ganzen ist es das tatsächlich. Ich habe mich inzwischen schon oft gefreut, dass Gott uns (erst mal) nur zwei Personen anvertraut hat – und nicht mehr. Denn mehr – und kleinere Gäste – wären vielleicht zu viel Belastung geworden. Zudem habe ich das Glück, meinen Hauptarbeitsplatz – meine Familie – zu Hause zu haben. Daneben bin ich an einem oder zwei Vormittagen pro Woche im Büro meines Mannes eingeplant. Es ist hilfreich, dass ich viel Zeit zu Hause habe. Denn Registrierung, Anmeldung beim Meldeamt, bei der Asylbehörde und das Ausdrucken und Ausfüllen von Formularen brauchen Zeit und Einsatz. Und die Bereitschaft, manches zu Hause liegen zu lassen.

Mein Kopf ist noch voller als sonst. Ich habe noch mehr auf meinen To-do-Listen stehen und bin vergesslicher. Vor allem am Anfang war es viel Arbeit, unsere Strukturen, Familienregeln und jedes unserer Kinder im Blick zu behalten. Und mich selbst auch nicht zu verlieren. Ich habe deutlich gemerkt, wie wichtig Ruhezeiten für mich sind. Zehn Minuten nur für mich. Keine Kinderfragen, keine Übersetzungs-App. Luft holen, Stille atmen, gar nichts denken.

Familienregeln werden beibehalten

Wirklich wichtig – und in der Anfangszeit manchmal schwierig – fand ich, das eigene Familienleben beizubehalten. Der, der hinzukommt, muss sich anpassen. Denn unsere Familienregeln tragen durch unseren Alltag. Und dann ist es egal, ob Gäste komisch schauen, wenn wir am Anfang des Essens singen und am Ende nicht jeder aufsteht, wie er will. Auch dass sich mittags jeder selbst um seinen Hunger kümmert, hat sich bei uns bewährt. Unsere Mitbewohner haben sich damit arrangiert. Bei so einer Familienvergrößerung auf unbestimmte Zeit hat man keine Gäste, sondern Lebensbegleiter. Das heißt, dass wir unser Leben normal weiterleben und uns nicht im ständigen Ausnahmezustand befinden.

Die ersten zwei Wochen haben das Besuchsgefühl und somit ein Ausnahmezustand bei den Kindern angedauert. Jetzt bringen sich alle wieder in die gewohnten Bahnen – oder werden von uns daran erinnert. Nur so sind wir die Familie, die wir sind und die bereit war, jemanden aufzunehmen. Wir haben aber auch „einfache“ Gäste, die sich selbst beschäftigen und fähig und willig sind, mit Bus und Straßenbahn zu fahren. Zwei, mit denen wir schon viel gelacht und geredet haben.

„Wer nicht mit seiner Schwiegermutter leben kann, kommt auch nicht mit Fremden zurecht“

Vor der Aufnahme hatte ich mir wenige Gedanken über mögliche Probleme gemacht. Ich sehe mich deshalb nicht als naiv an. Eher bin ich ein Typ, der vom Guten ausgeht. Mir war wichtig, von Anfang an die Selbstständigkeit der Geflüchteten zu erhalten. Die beiden haben einen Hausschlüssel bekommen, und es liegt ein kleiner Geldbeutel bereit, für den Fall, dass sie sich etwas kaufen wollen, während ich unterwegs bin. Es gilt: Mein Zuhause ist dein Zuhause. Mein Haushalt ist jetzt unser Haushalt. „Wer nicht mit seiner Schwiegermutter leben kann, kommt auch nicht mit Fremden zurecht“, meint Natalia. Und da ist wohl etwas Wahres dran …

Schwierige Kriegserlebnisse waren bisher selten Thema. Auf meine wenigen Fragen bekam ich aber ehrliche Antworten. Wie sehr die Trennung von Ehemann und Sohn Natalia belastet, wie stark sich Erlebnisse auf der Flucht bei ihr eingegraben haben und ob die Sorge um Freunde, Familie und eine ungewisse Zukunft sie innerlich traurig macht, vermag ich nicht zu sagen. Ich bin niemand, der nachbohrt. Eher warte ich, bis jemand von selbst redet. Kleine Funken der inneren Schwierigkeiten habe ich wahrgenommen, als über unser Wohngebiet laute Flugzeuge oder ein Hubschrauber flogen. Auch laute Geräusche wie Müllautos und Kirchenglocken führten zu angespannten Blicken.

Ich bin Gott dankbar für die Gelassenheit, die ich in vielen Bereichen habe. Das ermöglicht es mir, ein Zusammenleben auf Zeit nicht nur zu „überleben“, sondern gern zu leben.

Tabea Gruhn lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern zwischen 4 und 13 Jahren in Augsburg.

Hilfe für Ukraine: Wir können nicht alles stehen und liegen lassen

Menschen (nicht nur) aus der Ukraine brauchen unsere Hilfe. Doch wie viel können wir ihnen geben? Ein Kommentar.

„Man muss doch etwas tun!“ – Dieser Gedanke ist wohl vielen in den letzten Wochen durch den Kopf geschossen. Angesichts des Leids in der Ukraine, angesichts der Menge an Geflüchteten spüren wir den dringenden Wunsch zu helfen. Und viele packen mit an: spenden Geld, Lebensmittel, Kleidung. Helfen an Sammelstellen, Spenden zu verladen. Fahren Hunderte Kilometer, um Hilfsgüter auszuliefern und Menschen mitzunehmen. Viele öffnen ihr Haus, ihre Wohnung, um eine Familie bei sich aufzunehmen.

Ich weiß nicht, was von all dem du schon gemacht hast. Ich kann nicht groß prahlen mit meinen guten Taten. Ja, ich habe gespendet. Ja, ich habe Dinge, die benötigt wurden, zu einer Sammelstelle gebracht. Ja, ich habe mitgeholfen, als an einem Wochenende 50 Menschen aus der Ukraine in unserer Gemeinde untergebracht werden mussten. Aber ich bin nicht mit einem Sprinter an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren. Ich habe keine Familie bei mir aufgenommen. Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen. Weil andere so viel mehr machen. Weil ich mein normales Leben weiterführe, während andere Menschen gerade alles verloren haben.

Komfortzone verlassen – ja, aber nicht um jeden Preis

„Wir müssen einfach mal unsere Komfortzone verlassen“, meint Britta, die sich über Tage intensiv bei der Unterbringung von Geflüchteten in unserer Gemeinde engagiert. Aber es ist auch klar: Diese Notaktion für ein Wochenende, das können wir leisten. Dauerhaft schaffen wir es nicht. Wir können ja nicht alles stehen und liegen lassen – unsere Kinder, unsere Jobs, unser Engagement in anderen Bereichen. Und so verbringe ich tatsächlich mit gutem Gewissen ein Wochenende damit, den Geburtstag meines Sohnes zu feiern. Weil er zwei Jahre lang kaum Highlights hatte in seinem Leben. Und weil das für ihn jetzt wichtig ist.

Es bleibt – wie so vieles – ein Spagat. Besondere Situationen erfordern einen besonderen Einsatz. Wir müssen immer wieder unsere Komfortzone verlassen. Aber wir müssen auch unsere Grenzen sehen – und unsere realistischen Möglichkeiten. Also: Augen auf und sehen, wo wir helfen können. Und dafür auch mal alles stehen und liegen lassen. Aber auch akzeptieren, was nicht geht. Und übrigens: Unabhängig davon, ob ich etwas tun kann oder nicht, hilft es mir, ein Gebet für die Menschen und Situationen an Gott zu richten.

Bettina Wendland ist Redaktionsleiterin von Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

Plötzlich dröhnt der Bombendonner: So erlebte Roman die Flucht mit 157 Waisenkindern

Über Nacht flieht der Arzt Roman Kornijko von Kiew nach Freiburg. Um Waisenkinder zu retten, lässt er sogar seine Familie zurück.

„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, formuliert Bundesaußenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar in einer Ansprache. In eine andere Welt katapultiert hat diese Nacht auch Roman Kornijko. Aber geschlafen hat der 55-jährige Arzt nicht. Er hat sie im Luftschutzkeller verbracht. Zusammen mit den Waisenkindern des Waisenhauses Otchy Dim (auf Deutsch „Vaterhaus“) in Kiew. In dieser Nacht ist passiert, worauf er und sein Team sich die letzten Tage vorbereitet und womit sie im Letzten aber doch nicht wirklich gerechnet hatten: Bomben schlagen in unmittelbarer Nähe ein. Die vermeintliche Sicherheit durch die nahegelegene militärische Flugabwehr macht sie zum Fokus der russischen Bomben in der ersten Kriegsnacht.

Eine mögliche Evakuierung war schon zuvor im Blick. Mit dem Kooperationspartner „S’Einlädele“, einer gemeinnützigen GmbH in Freiburg, die sie schon seit vielen Jahren über Patenschaften und anderen Aktionen unterstützt, und der Stadt Freiburg selbst sind Vorgespräche gelaufen und Einladungspapiere für die Ausreise fertiggemacht worden. Mit ukrainischen Busunternehmen haben sie sich abgestimmt. Doch als es ernst wird, ist keiner der zugesagten Busse verfügbar. Die Koffer sind gepackt. Panzer rollen über die Straßen. Die Angst setzt Kindern und Betreuern zu. Aus den Medien erfahren sie, dass die geplante Fluchtroute das Ziel der nächsten Bombardierung sein könnte. „Ich habe zu den Kindern gesagt, dass uns jetzt nur Gott helfen kann und wir haben alle zusammen gebetet“, erzählt der Leiter im Interview: „Und dann war es, als würden Engel uns auf dem Weg begleiten.“

Schweren Herzens lässt Roman seine Familie zurück

Ein ihm unbekannter Busunternehmer hat von der aussichtslosen Evakuierungssituation gehört. Der ist nicht nur bereit, die Fahrt bis zur polnischen Grenze umsonst zu übernehmen, sondern hat auch noch einen Freund bei der Polizei, der bereit ist, die Eskortierung der Busse zu organisieren. Aber bevor es losgeht, steht Roman noch der schwerste Moment dieser Tage bevor: Er muss sich von seiner Familie verabschieden. Der Platz in den Bussen ist begrenzt. Priorität hat die Rettung der 157 Kinder und ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Und so lässt er schweren Herzens seine Frau und seine vier Töchter zwischen 16 und 36 Jahren zurück. Diese Entscheidung tragen sie alle mit und sie fällt allen schwer. Keiner weiß, ob und wann sie sich wiedersehen.

Als sie endlich loskommen, sind die Straßen verstopft. Viele Menschen sind auf der Flucht gen Westen. Doch die Polizisten haben eine unkonventionelle Lösung für dieses Problem: Sie leiten die Busse auf die – leere – Gegenfahrbahn. So können sie zügig am Stau vorbeifahren. Als sie sich rund 300 Kilometer hinter Kiew in relativer Sicherheit wiegen und am Rastplatz eine Pause einlegen, gehen in unmittelbarer Nähe Bomben nieder. Instinktiv werfen sich die Kinder auf den Boden. Dann haben sie es eilig, wieder in den Bus zu kommen. „In dieser Nacht sind die Kinder alle zehn Jahre älter geworden. Aber ich habe ihnen versprochen, dass sie ihre Kindheit wieder zurückbekommen werden“, erzählt der Arzt.

Ein Segen zum Abschied

Vor und hinter dem Bus fahren die Polizeiwagen jetzt mit Notbeleuchtung. Der Bus selbst fährt ohne Licht, um kein Ziel für eine Bombardierung abzugeben. Auch die Strecke, die bereits hinter ihnen liegt, ist in dieser Nacht das Ziel von Bomben. Drei Stunden später wären sie nicht mehr durchgekommen. Aber so gelangen sie unbeschadet zur polnischen Grenze. „‚Fahrt los, unsere Freunde, und seid gesegnet‘“, haben uns die Polizisten an der Grenze verabschiedet. Das war wirklich ganz besonders. Sie waren für uns wie Engel“, erzählt Roman berührt.

Und es sind nicht die letzten Engel, die ihren Weg begleiten. So übernehmen in Dresden ausgeruhte Busfahrer das Steuer und auch eine unterwegs notwendige Reparatur an einem der Busse ist möglich. Als sie am Sonntagvormittag in Freiburg ankommen, ist es ein bewegendes Fest für Ankommende und Erwartende. In einer beispiellosen Aktion haben in Freiburg Stadtverwaltung, S’Einlädele-Team, evangelische Stadtmission, Malteser Hilfsdienst, Deutsches Rotes Kreuz, die deutsch-ukrainische Gesellschaft und andere zusammengearbeitet, um die Evakuierung zu ermöglichen und die Unterkunft vorzubereiten.

Zwischen Trauma und Fußballmatch

Drei Wochen sind seitdem vergangen. In der Zwischenzeit haben sich manche der Kinder schon gut eingelebt. Romans Augen leuchten, als er vom spontanen deutsch-ukrainischen Fußballmatch erzählt. Da hätten sich einige ihre Kindheit schon wieder zurückerobert. Andere tragen noch schwer an den traumatischen Erlebnissen und haben begonnen zu stottern oder nässen wieder ein. Umso wichtiger ist es Roman, eine verlässliche Tagesstruktur, entspannende Spielangebote und die vertrauten Bezugspersonen für seine Schützlinge zu haben.

Ohne ein großes Netzwerk ehrenamtlicher Helfer, die hier unterstützen, wäre das ebenso wenig möglich wie die Organisation mehrerer Hilfstransporte. So wurden in den letzten drei Wochen in Freiburg viele Pakete gepackt und in die Ukraine gebracht. Auf dem Rückweg war dann Platz, um weitere Menschen aus den Kriegsgebieten zu evakuieren. Im Bus am letzten Sonntag war dann endlich auch Romans Familie dabei und sie konnten sich glücklich und gesund wieder in die Arme schließen. „Sie haben im Vaterhaus noch so lange es ging Menschen aufgenommen und versorgt, die auf der Flucht waren. Darauf bin ich wirklich stolz.“

„Hätten nie gedacht, dass wir selbst einmal flüchten müssen“

Die Welt ist eine andere geworden seit dem 24. Februar. Schreckensbilder und -nachrichten dieses Krieges dominieren die Schlagzeilen und Wahrnehmung. „Wir haben damals 159 Kinder und 90 Erwachsene aus Donezk aufgenommen“, erzählt Roman. „Wir hätten doch niemals gedacht, dass wir selbst einmal flüchten müssten.“

Gleichzeitig gibt es viel Gutes: eine beispiellose Solidarität, Spendenbereitschaft, unbürokratische Hilfen, das Zusammenwirken unterschiedlicher Organisationen. So dauert es grade mal sechs Stunden von Anfrage bis Zusage der Stadt Freiburg, die Unterbringung der Geflüchteten zu übernehmen. Die deutsch-ukrainische Gesellschaft stellt ihre Kompetenz als Dolmetscher zur Verfügung. Und das Schweizer Team von Amnesty International profitierte von den Erfahrungen der Vaterhaus-Evakuierung, als es darum ging, Kindern eines ukrainischen Pestalozzi-Waisenhauses den Fluchtweg zu ermöglichen.

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und Mutter von drei erwachsenen Kindern. Sie lebt mit ihrem Mann in Freiburg.