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Im Familien-Chaos? Expertin verrät: Eine gemeinsame Vision kann die Lösung sein

Beraterin Adelina Friesen hilft ratlosen Familien dabei, wieder zueinander zu finden. Sie ist überzeugt: Eine Vision kann dabei helfen.

Warum suchen Familien nach Visionen?

Der eigentliche Anlass kann sehr unterschiedlich sein. Allgemein gilt: Eine Vision kann im Alltag helfen. Wenn eine Familie ein gemeinsames Ziel hat, wenn alle zusammen überlegt haben, wer sie sein wollen, dann können sie im Alltag einfacher Entscheidungen treffen. Oft kommen Familien durch Krisen und Herausforderungen zu einer Visionssuche. Jetzt gerade durch die Pandemie ist das eingespielte Familienleben auf den Kopf gestellt, und ich erlebe häufig, dass Familien sich neu orientieren wollen: Was machen wir eigentlich mit unserer Zeit? Vor allem: Was machen wir mit unserer gemeinsamen Zeit? Was wollen wir? Wo wollen wir hin? Und wie können wir das gestalten?

Geht es nicht auch ohne Vision?

Natürlich geht es auch ohne Vision. Ich denke allerdings, dass viele Familien eine Vision und bestimmte Werte haben, auch wenn sie diese nicht direkt formuliert haben.

Visionen bringen Partner zusammen

Aber du empfiehlst Familien, eine gemeinsame Vision zu entwickeln und zu formulieren?

Ja. Es gibt eine unglaubliche Lebensqualität, zu wissen, wofür man lebt, und das auch umzusetzen. Eine Mutter von drei Kindern sagte mal im Anschluss an den Prozess: „Ich war überrascht, wie wenig ich über meine Familie wusste.“ Sie waren als Familie an einem Punkt angekommen, wo sie nicht mehr zueinander finden konnten. Der Mann hat viel gearbeitet, beide waren sehr engagiert, sie waren viel unterwegs und dabei ist einiges untergegangen. Sie waren hinterher sehr dankbar, weil sie wieder Wege zueinander gefunden haben. Sie haben sogar am Ende gemeinsame Freizeitaktivitäten gefunden, was vorher problematisch war.

Was ist wichtig?

Wie läuft so eine Beratung ab?

Es ist wie ein großes Brainstorming. Einer der wichtigsten Momente in dem ganzen Prozess ist, dass man sich Zeit nimmt, jedem zuzuhören. Das hört sich einfacher an, als es in der Realität ist. Familien haben eingespielte Muster, die schnell sichtbar werden. Ich erkläre den Prozess mal am Beispiel einer Familie mit zwei Kindern: In die Mitte eines Plakates wird ein Kreis gemalt. Dann werden Kreise um diesen inneren Kreis gemalt, für jedes Familienmitglied einen. Jedes Kind und jeder Erwachsene darf dann sagen, welche Werte ihm oder ihr wichtig sind, zum Beispiel Ehrlichkeit oder Freundlichkeit oder Ruhe. Alle anderen müssen zuhören. Die Begriffe werden dann in den Kreis geschrieben, der zur betreffenden Person gehört. Anschließend wird das Plakat aufgehängt. Gemeinsam schauen wir es uns an. Dadurch, dass in dieser Phase jedem zugehört wird, entstehen sehr wertvolle Momente, weil auch die Familienmitglieder mitunter überrascht sind, was die anderen Personen wichtig finden.

Nach dieser Brainstorming-Phase wird sortiert. In den mittleren Kreis werden die gemeinsamen Werte geschrieben, die wir im Gespräch finden. Das sind die Familienwerte. Alle Familienmitglieder müssen mit ihren Vorstellungen darin vorkommen. Wichtig ist, dass diese Werte visualisiert werden. Es gibt außerdem eine sehr wichtige Regel: Der Einzelne darf nicht übergangen werden und muss in seinen Wünschen ernst genommen werden.

Wichtige Fragen

Kannst du uns Tipps geben, wie Familien selbst eine gemeinsame Vision finden können?

Man könnte zu Hause eine Art Familienkonferenz daraus machen. Wichtig ist, dass man einen Raum schafft, in dem man nicht abgelenkt wird. Folgende Fragen können ins Gespräch führen:

Was macht uns als Familie aus?
Welche Ziele haben wir?
Wie wollen wir miteinander umgehen?
Haben wir Vorbilder?
Was gefällt uns bei anderen Familien gut?

Wie kann man kleine Kinder da einbinden?

Mit Fragen wie:

Was ist deine schönste Erinnerung?
Was ist dein schönstes Erlebnis mit uns als Familie?
Was magst du an unserer Familie?
Was macht uns als Familie glücklich?

Prozess lohnt sich auch mehrmals

Und wie geht‘s dann weiter?

Indem man schaut: Welche Werte sind uns wichtig? Es kann helfen, zunächst zehn Werte zu formulieren und diese dann auf drei zu beschränken. Auch zu Hause können die Werte auf einem Plakat gesammelt werden. Mit kleinen Kindern kann diese Phase sehr chaotisch sein. Da bietet es sich an, den Prozess in Etappen zu gliedern. Je nachdem, wie festgefahren die Kommunikationsstrukturen in der Familie sind, würde ich aber einen Moderator empfehlen. Die Punkte verändern sich auch mit der Zeit. Es lohnt sich, das Gespräch über gemeinsame Werte immer wieder zu suchen.

Adelina Friesen ist Beraterin für Familien und in Ausbildung zur pastoralen Seelsorgerin.
Das Interview führte Lilli Gebhard. Sie ist Lehrerin für Geschichte und Deutsch am Gymnasium und wohnt mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart.

Alles auf Anfang?

Warum das Alte nicht mehr das Neue ist.

„Juhu, endlich!“, juble ich meinen Kindern zu: „Euer Training fängt wieder an!“ In den letzten Tage sind die Inzidenzwerte in unserer Stadt gefallen, und der normale Alltag beginnt wieder anzulaufen. „Welches Training?“, kommt aus dem Garten. Erst lache ich, weil ich den klugen Humor meines Kindes vermute und dann realisiere ich: Die Zeiten der Distanz haben auch Distanz zu unserem alten Leben gefordert. Alles um mich herum fährt weder in den Alltagsmodus hoch. Was ist aber mein neuer Alltag? Was passt zu mir und meinen Kindern heute?

Ich spüre, dass unsere Familie eine andere geworden ist. Aus dem ersten Lockdown haben wir die Spaziergänge und Entdeckungen des Umlandes als wertvoll gerettet. Wir haben unseren Tagesablauf verändert. Wir spielen online mit der Großfamilie und haben so mehr Kontakt als in der Zeit vor der Pandemie. Und nun soll das Alte all das Neue ablösen. Will ich das?

Ich brauche die Zeit, um die innerliche Bremse zu lösen. Die Bremse, die ich in mir nicht als Ausbremsen und Stillstand empfinde, sondern als Konzentration auf uns als Familie im Stop-Modus des gesellschaftlichen Lebens. Wir suchen zusammen eine Idee für einen neuen Alltag in alten Möglichkeiten. Interessanterweise war uns allen dabei besonders wichtig, Menschen einzuladen. Zusammen sortieren wir unsere Werte. Welche Hobbys und Aktivitäten von uns und unseren Kindern formen die Persönlichkeit und machen Superspaß? Und welche dienen mehr der gesellschaftlichen Akzeptanz und nicht dem Individuum?

Dabei kommt auch unser erhöhtes Serien-Schauen zur Sprache. Ich muss mich hinterfragen lassen und gebe nach einigem Nachdenken zu, dass es nun vorbei ist mit dem „Es geht ja nix Anderes!“ als Ausrede. Die mediale Nutzung ist ein großes Diskussionsthema. Was wollen wir weiter fördern – Lernen mit Apps, Hörbücher, Online Skat … – und was nicht?

Wir fühlen uns als Familie erschöpft und nehmen das ernst. Wir sehen gut hin, was uns gerade zu viel abverlangt. Keiner von uns will in das Alte zurück. Aber Leidenschaften wie Tariks Fußball oder Riekas geliebte Escape Rooms können nicht oft genug stattfinden.

Je länger wir die nächsten Wochen bedenken, desto mehr kribbelt es in mir. Was für eine große Chance haben wir. Durch diese Zäsur können wir aus dem alten Alltag Neues werden lassen und zwar so bewusst, wie es wenigen Menschen in anderen Zeiten möglich war.

In mir blubbert es wie vor der Einschulung, einer ungeliebten Weisheitszahn-OP und den großen Ferien zusammen und ich spüre, ich will meine Kraft in das Neue investieren. In der Bibel finde ich dazu einen Vers, der mich aufmuntert: „Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ (Jesaja 43, 19) Gott lädt mich ein, mutig hinzusehen. Das Wachsen des Neuen wahrzunehmen. Nicht Zackzack, sondern achtsam.

Ja, ich will das Neue entdecken und damit heute beginnen.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen

Kinder begleiten – auch nach dem Lockdown

„In den letzten Wochen habe ich viel über mein Limit agiert. Meine eigenen Kinder waren mir zu viel, zu fordernd“, schreibt Melanie in unsere Messenger-Gruppe, die derzeit eine Kleingruppe unserer Gemeinde ersetzt. „Mir gab Homeschooling den Rest!“, gibt Paul zu. „Ich habe meine Söhne noch nie so angebrüllt wie bei den Matheaufgaben!“ Während wir uns noch jammernd austauschen, fragt Sibel: „Aber ist es nicht auch so: Wir haben ohne fremde Einwirkung von außen mal erlebt, wie wir als Familie sind! Ich habe immer mehr Stolz auf uns als Team empfunden.“ Alle stimmen zu, und es wird klar: Die Familien werden sich durch Schule und Kita-Starts wieder verändern. Eltern können in dieser Veränderung bewusst Begleiter bleiben. Was brauchen Kinder jetzt?

Kinder entwickeln sich zu selbstbewussten und seelisch stabilen Erwachsenen, wenn ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse befriedigt werden. Nur wenn sie sich sicher und geborgen fühlen, wächst ihre seelische Stärke und ihr Vertrauen in sich und ihre Umgebung. Die Kraft sich zu lösen, Entdeckerfreude, Mut und positive Grundgedanken kommen von selbst, wenn ein Kind sich angenommen und geliebt fühlt.

Nach der Zeit der großen Nähe und der internen Familienzeiten brauchen Kinder nun Eltern, die Gestalter des Alltags bleiben. Kleinigkeiten, die Kinder im Alltag erleben, werden zu Erfahrungen und sind entscheidend für die Entstehung einer starken Persönlichkeit. Wenn Kinder Vernachlässigung, Abwertung, Beschämung oder körperliche Gewalt erfahren, ziehen sie zerstörerische Rückschlüsse über ihren Wert und verlieren mehr und mehr den Glauben an sich. Ein Kind erst zum Ende der Kitazeit abzuholen, um die beruflichen Herausforderungen zu stemmen, ist nicht das Problem, sondern wie die gemeinsame Zeit danach gestaltet wird. Unser Sohn Tarik hat mit fünf Jahren einmal sehr drastisch gesagt, was er von meinem wenig zugewandten Handeln hielt: „Du kannst mich im Kindergarten lassen. Du hast ja eh keine Zeit.“ Und bei näherem Hinsehen wurde mir klar: Wenn ich mein Kind beim Putzen, Telefonieren oder Einkaufen als störend empfinde, versteht es diese Grundhaltung als Information über seinen Wert.

Eine liebevolle und authentische Beziehung zum Kind ist wie ein guter Nährboden, um seine Anlagen und Talente weiterzuentwickeln. Fünf Ideen können helfen, diese Beziehung zu gestalten.

1 Liebe, Bindung und Nähe

Kinder spüren die Liebe und Nähe ihrer Eltern am stärksten über Körperkontakt, gemeinsames Kuscheln und regelmäßige bewusste Zuwendung und Blickkontakt. Bis heute lasse ich meine Hände über den Rücken meines schon erwachsenen Kindes kreisen, da ich es mir so bewusst angewöhnt habe, es anzusehen, zu berühren und so meine Nähe auszudrücken.

2 Verlässlichkeit und emotionale Sicherheit

Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit entsteht, wenn Kinder stabile Beziehungen erleben. Aber auch, wenn ihr Alltag weitgehend vorhersehbar ist und nicht permanent Überraschungen bereithält. Mir hat es geholfen, meine emotionalen Vulkanausbrüche mehr und mehr zu filtern. Ich übe bis heute, meinen Kindern eine Mutter zu sein, die verlässlich lacht über Situationen, verlässlich die Augenbraue hochzieht oder auch verlässlich den Kopf schüttelt.

Diese Verlässlichkeit wird in vielen Familien durch Rituale geschaffen. Rituale vermitteln durch ihren immer wiederkehrenden gleichen Ablauf, dass das Leben keine überfordernde Größe ist und die Herausforderungen zu bewältigen sind. Feste Gewohnheiten wie das tägliche Vorlesen vor dem Schlafengehen oder eine Runde „Wie war der Tag?“ beim Abendessen schaffen Vertrautheit und sorgen dafür, dass Kinder sich behütet fühlen.

3 Zeit und Aufmerksamkeit

Um Selbstbewusstsein entwickeln zu können, müssen Kinder gesehen und gehört werden. Sie brauchen den Austausch mit ihren Eltern, aber auch die Auseinandersetzung, die Reibung, das Lob, regelmäßige Rückmeldungen und Zuwendung. Das geht nicht nebenbei, auch wenn unser Tag oft keine Zeiträume für Gemeinsames ermöglicht. Wie wäre es, wenn ich meinen Sport online weitermache, um das Abendessen mit den Kindern entspannter zu erleben? „Mir tut es jetzt schon leid um die Spaziergänge, die wir in der Corona-Zeit jeden Tag gemacht haben“, seufzt Jan.

Wie wäre es, die zahlreichen Hobbys der Kinder und den vollen Wochenplan neu zu bedenken und Zeit zu haben zum Backen, Radfahren oder einfach auf dem Boden zu sitzen? Bis heute erlebe ich immer wieder die Überraschung, dass unsere Kinder zu reden beginnen, wenn ich mich ohne Ziel in ihr Zimmer setze. Einfach so. Ohne Auftrag. Ich bekomme für diese Investition an Zeit einen wertvollen Einblick in ihre Gedanken.

4 Orientierung durch Werte

Wie das soziale Miteinander funktioniert, erfahren Kinder von ihren Eltern. Mit der Rückkehr in soziale Gruppen, die nun und in den nächsten Wochen passiert, erlebt das Kind Werte, die von den Familienhaltungen abweichen können. Oft unbewusst überprüfen die Kinder die Haltungen ihrer Familie und bringen neue Themen, Schimpfwörter oder TV-Serien mit nach Hause. Hier ist es um der Orientierung willen wichtig, nicht weg zu sehen. Passt es zu uns als Familie, andere Menschen zu beschimpfen? Warum gehen wir anders damit um?

5 Glauben am Esstisch

Unsere Gespräche haben sich verändert. Wir reden nicht mehr so viel darüber, wer wann wo hingeht und warum. Wir checken stattdessen die Fakten von dubiosen Behauptungen in YouTube-Clips, schauen gemeinsam Musikvideos an, diskutieren über Armut und Ungerechtigkeit. Den Esstisch als Begegnungsraum auch nach Corona zu behalten, ist mein Wunsch, auch wenn mein Schulkind bald nicht mehr neben mir über seine Aufgaben jammert.

„Der Online-Kindergottesdienst war unser Sonntagsritual. Ich war so bewegt von den Gesprächen darüber mit den Kindern. So was gab es sonst nie!“, berichtet Britta. In Familien sind die Esstischzeiten wertvoller geworden. Der geteilte Schmerz über Homeschooling-Hilflosigkeit, das 1000-Teile-Puzzle, die Basteleien, die Post an andere oder eine Gebetsrunde hat viele Familien neu formiert.

Nur Mut!

Liebe Mitfamilien, bleiben wir einander nah, auch wenn wir uns nach Freiräumen sehnen! Wir haben es geschafft, eine Krise als Team zu bewältigen.

Ich empfinde es so, dass meine Kompetenz als Mutter in den Herausforderungen gewachsen ist. Ich habe eine Stärkung meiner Elternkompetenz wahrgenommen, im Umgang mit meinen Teenagern und jungen Erwachsenen. Ich lerne den Einfluss der Medien neu einschätzen und lasse mir wieder öfter von den Inhalten berichten. Ich halte Glaubenszweifel und Gebetsfrust aus und füge meine persönlichen Fragen ein.

Krise hin oder her – wir bleiben Eltern. Aus Liebe zu den Kindern werden wir aus den Herausforderungen Gutes ziehen. Wir bleiben dran!

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

 

Wie bedeutend ist der Marshmallow-Test?

Ist Selbstkontrolle für die Entwicklung von Kindern wirklich so wichtig? Ein Gastkommentar von Peter Schulze:

Der Psychologe Walter Mischel und sein Team boten in den 60er Jahren Kindern im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments Süßigkeiten an und stellten sie dabei vor die Wahl, diese entweder sofort zu essen oder darauf zu verzichten und später eine zweite Süßigkeit zusätzlich als Belohnung zu erhalten. Im Ergebnis warteten einige Kinder mit der Aussicht auf die Belohnung, während andere die Süßigkeit sofort aßen. Interpretiert und veröffentlicht wurden die Ergebnisse mit Blick auf die Fähigkeit, etwas aufschieben zu können und Selbstkontrolle zu üben und dadurch eher langfristige als kurzfristige Ziele zu erreichen. Später wurden diese Kinder nochmals eingeladen, und es stellte sich heraus, dass diejenigen, denen im Experiment die Selbstkontrolle gelungen war, zielstrebiger und erfolgreicher in Schule und Ausbildung waren.

Diese scheinbaren kausalen Zusammenhänge hatten nach der Veröffentlichung Einfluss auf weitere wissenschaftliche Untersuchungen sowie auf pädagogisches Denken und Handeln. Die Bedeutung der Selbstkontrolle hat inzwischen längst in Erziehungsratgebern Einzug gehalten, wird von dem Neurowissenschaftler Joachim Bauer sogar als „eines der bedeutendsten Ziele, zu denen Kinder und Jugendliche hingeführt werden sollten“ bezeichnet. Walter Mischel selbst veröffentlichte 2014 das Buch „The Marshmallow Test: Why Self-Control Is the Engine of Success“, das 2015 unter dem Titel „Der Marshmallow-Test: Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit“ auf Deutsch erschien.

Im Mai dieses Jahres veröffentlichte der amerikanische Psychologe Tyler Watts mit seinem Team einen Artikel, in dem die Ergebnisse des Marshmallow-Tests in Frage gestellt werden. Anhand einer Studie mit über 600 Teilnehmern zeigen sie auf, dass der Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle im Kindesalter und späterem Erfolg maßgeblich von den sozialen Hintergründen der Eltern und weniger als vermutet von der Fähigkeit zur Selbstkontrolle bestimmt ist. Mischel und sein Team hatten in ihren Untersuchungen verhältnismäßig kleine Stichproben gewählt, die diese Zusammenhänge nicht repräsentativ erfassen konnten.

Von den nun neuen Ergebnissen berichten zahlreiche Nachrichtenmedien schnell mit Überschriften wie „Ist der Marshmallow-Test sinnlos?“ (Süddeutsche Zeitung) oder „Warum der bekannte Marshmallow-Test einem großen Fehler unterliegt. Selbstkontrolle entscheidet bei Kindern nicht über Erfolg“ (news.at) und verunsichern sofort wieder Eltern und Pädagogen.

Als Christ kann man solchen Erkenntnissen und neuen Fragestellungen mit all ihren Unsicherheiten vielleicht entspannter begegnen. So steht doch schon im 1. Brief an die Korinther im 13. Kapitel: „Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. […] Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. […] Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Die Liebe ist es also, die maßgeblichen Einfluss auf unser Denken und Handeln hat. Wenn wir aus dieser Liebe unsere Kinder erziehen, stehen die Chancen gut, dass sich Begabungen und Fähigkeiten entfalten und dass sie ihren eigenen Weg im Leben finden und gehen werden. Natürlich dürfen und sollen wir in unserem Handeln auf dieses Stückwerk unseres Wissens zurückgreifen und somit auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse, aber wir müssen uns stets bewusst sein, dass dieses Stückwerk wahrscheinlich immer wieder revidiert oder aktualisiert werden muss. Wenngleich auch Bibelübersetzungen immer wieder revidiert werden, so haben die Kernaussagen jedoch Bestand und überdauern die Zeit. Ihnen dürfen wir als Christen vertrauen, und so bleiben Glaube, Liebe und Hoffnung ein viel festeres Fundament als alle Erziehungsratgeber, auf das wir uns auch in Zukunft verlassen dürfen.

Peter Schulze ist Berufsschullehrer (Sozialpädagogik/ev. Religion) und arbeitet als abgeordnete Lehrkraft an der Fakultät Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden.

Erben und weitergeben

Manche Werte „vererben“ sich von Generation zu Generation. Manchmal muss man sich aber bewusst für oder gegen einen Wert entscheiden, der in der Herkunftsfamilie wichtig war.

Es gibt wohl kein wertvolleres Geschenk, als der nächsten Generation gute Werte mitzugeben. In der Kindheit vermittelte Werte prägen den Menschen ein Leben lang. Besonders als Eltern haben wir einen sehr großen Einfluss auf das Werteempfinden unserer Kinder. Andererseits sind wir selbst von den Werten in unserer Herkunftsfamilie geprägt. Das w irft für mich Fragen auf: Welche Werte habe ich aus meiner Herkunftsfamilie mitbekommen? Welche Werte haben mein Leben bisher geprägt? Und gibt es Werte, die ich ablehne? Als Christin ist es mir wichtig, unseren Kindern nicht irgendwelche Werte zu vermitteln, sondern solche, die aus Gottes Sicht gut sind. Wenn ich das Wertefundament meiner eigenen Herkunftsfamilie genauer unter die Lupe nehme und daraufhin prüfe, stelle ich fest: Ich habe sowohl gute christliche Werte erfahren als auch solche, die gesellschaftlich nicht als schlecht gelten, aus Gottes Sicht aber nicht in Ordnung sind. Es gibt Werte, die ich bewusst oder unbewusst übernommen habe. Aber es gibt auch welche, die ich ganz bewusst nicht übernehmen möchte. Werte, die ich ablehne und auf die ich schon bei kleinsten Bemerkungen, die manchmal im Familienleben fallen, extrem allergisch reagiere.

VERGEBEN UND VERZEIHEN
Wenn ich zum Beispiel an Situationen zurückdenke, in denen „kleine“ Notlügen innerhalb der Familie in Ordnung waren, sträuben sich mir heute noch die Haare. Ich habe für mich entschieden, dass in unserer Familie diese Art von gesellschaftlich akzeptierten Notlügen keinen Platz hat. Ich lehne es rigoros ab, weil es für Gott keine kleinen, großen, guten oder bösen Lügen gibt. Ich weiß, dass der eigentliche Grund dahinter oft Angst, Bequemlichkeit oder Stolz ist. Und genau deshalb wollen wir in unserer Familie absolute Ehrlichkeit leben, in dem Wissen, dass wir gnädig miteinander umgehen, wenn wir uns gegenseitig Fehler eingestehen. Das hat einen weiteren Wert zur Folge: Vergeben und Verzeihen. Wie oft habe ich als Kind darunter gelitten, wenn es Streit in der Familie gab, eine Person sich beleidigt zurückzog und stundenlang wortlos in meiner Nähe war. Solche Situationen waren f ür m ich u nerträglich. Fast immer habe ich den ersten Schritt zur Versöhnung gemacht. Wie sehr wünschte ich mir, dass einmal der andere diesen ersten Schritt wagen würde. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich mir in meiner eigenen Familie eine aktive Versöhnungskultur wünsche. Kein Familienmitglied darf durch sein Beleidigt- Sein Macht auf den anderen ausüben. Jeder sollte seinen eigenen Stolz erkennen und überwinden lernen, um sich beim Gegenüber zu entschuldigen. Natürlich darf das nicht als Floskel und ohne jegliches Mitgefühl oder Schuldeingeständnis geschehen. Die Situation muss offen und ehrlich besprochen werden. Es kostet zwar immer wieder Kraft, in solchen Situationen den Kindern zu erklären, warum Versöhnung wichtig ist. Bei kleineren Kindern hilft es, eine passende Geschichte zu erzählen oder vorzulesen und darüber ins Gespräch zu kommen. Vor einiger Zeit bin ich auf das sehr hilfreiche Buch „Werte für Kinder“ von Bärbel Löffel-Schröder (Gerth Medien) gestoßen, auf das ich in gegebenen Situationen zurückgreifen kann. Zum Weiterdenken Welche Werte waren in meiner Herkunftsfamilie wichtig? Welche Werte habe ich übernommen? Welche Werte sind mir nicht so wichtig? Welche Werte sind mir wichtig, die in meiner Herkunftsfamilie keine Rolle spielten?

GUTES ÜBERNEHMEN
Natürlich wurden in meiner Herkunftsfamilie nicht nur Werte gelebt, die ich heute ablehne, sondern auch gute Werte, die ich gerne weitergeben möchte wie Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit. Gerade in unserer schnelllebigen digitalen Zeit beobachte ich, dass die Verbindlichkeit immer mehr abnimmt. Wie schnell ist per WhatsApp ein Treffen abgesagt, das Kind vom Training entschuldigt oder eine Verspätung angekündigt, weil spontan etwas dazwischengekommen ist. In meiner Kindheit wurden Termine, Trainingszeiten, Verabredungen eingehalten, auch wenn man manchmal lieber eine andere Option gewählt hätte. Dadurch habe ich gelernt, dass Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit wichtig sind, um Vertrauen zu stärken und dem anderen Respekt entgegenzubringen. Und ich erwarte diese Verbindlichkeit auch von meinen Mitmenschen, weil sie die Basis für ein gutes Miteinander ist. Unseren Kindern leben wir diesen Wert bestmöglich vor und erinnern sie immer mal daran. Die Gastfreundschaft ist ein weiterer Wert, der in meiner Herkunftsfamilie über mehrere Generationen hochgehalten wurde. Jederzeit konnten unverhofft Gäste kommen – ob zum Essen oder Übernachten. Ich habe die Anwesenheit von Gästen immer als wertvoll und bereichernd empfunden. Deshalb möchten auch wir als Familie offen und herzlich Gäste begrüßen, ohne dass es für uns in Stress ausartet. Die Gäste sollen sich wie zu Hause fühlen und nicht den unbehaglichen Eindruck haben, dass wir ihretwegen unseren Familienalltag, das Haus oder die Essensplanungen auf den Kopf stellen. Das verstehe ich unter wertvoller Gastfreundschaft. Dabei beobachte ich, dass unsere Kinder sich außerordentlich freuen und wissbegierig alles aufsaugen, was sie in dieser Zeit von den Gästen hören und sehen.

MEGA-WERT
Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, gute Werte zu leben und an die nächste Generation weiterzugeben. Jedoch können sämtliche Werte nichts bewirken und keinen positiven Einfluss auf unser Umfeld und unsere Familie haben, wenn nicht über allem ein Mega-Wert liegt. Und zwar der Mega-Wert schlechthin, der nur in Gott in seiner vollkommenen Ausprägung zu finden ist: die Liebe.

Carolin Schmitt arbeitet als Wirtschaftsingenieurin und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Karlsdorf/Baden. Sie veröffentlicht von Zeit zu Zeit ihre Gedanken auf dem Blog www.morethanpretty.net.

 

 

Zum Weiterdenken
– Welche Werte waren in meiner Herkunftsfamilie wichtig?
– Welche Werte habe ich übernommen?
– Welche Werte sind mir nicht so wichtig?
– Welche Werte sind mir wichtig, die in meiner
– Herkunftsfamilie keine Rolle spielten?

Alles nur Idioten?

„Der Hauptgrund für Stress ist der tägliche Kontakt mit Idioten.“ Dieser Spruch springt mir heute  bei Facebook ins Auge. Er wurde bereits tausendfach geteilt und mit „Gefällt mir“ versehen.

Sprüche wie dieser sind beliebt. Und beruhen wahrscheinlich schon auf echten Erfahrungen. Aber die Haltung, die dieser Spruch vermittelt, macht mich traurig. Wenn ich in den Menschen um mich herum erst einmal Idioten sehe – bin ich dann überhaupt noch in der Lage, vorurteilsfrei auf sie zuzugehen? Bin ich dann noch offen zu verstehen und nachzuvollziehen, warum mein Mitmensch sich so verhält, dass es mich nervt oder stresst?

Zum Glück ist mir heute auch ein anderer Spruch bei Facebook begegnet: „Verurteile keinen Menschen, bevor du nicht eine Meile in seinen Schuhen gegangen bist.“

Das ist ungeheuer schwierig und anspruchsvoll. Und viel aufwändiger, als „Idioten“-Sprüche bei Facebook zu teilen. Aber das ist eine Haltung, in der ich leben möchte. Und ich würde mir wünschen, dass auch meine Mitmenschen sich die Mühe machen, mal in meine Schuhe zu steigen. Auch wenn die manchmal ganz schön ausgelatscht sind und manchmal ziemlich eng …

Bettina Wendland

Family-Redakteurin