Was ist eigentlich riskant?
Oft entsteht der Eindruck, ein erfülltes Leben sei immer auch mit Risikobereitschaft verbunden. Ist das so? Gedanken von Carolin Schmitt.
Die Redewendung „No risk, no fun“ war in meinen Jugendjahren ein geflügeltes Wort, das immer dann zitiert wurde, wenn jemand etwas Neues ausprobieren wollte. Ein anderes Sprichwort besagt: „Wer wagt, gewinnt!“. Aber stimmt das tatsächlich? Können wir nur Spaß haben, wenn wir etwas riskieren? Gewinnt nur derjenige, der auch etwas wagt? Wieso haben sich diese Redewendungen in unserer Sprache und in unserem Denken so eingenistet, dass wir sie glauben, ohne sie überprüft zu haben? Sicher gibt es Beispiele, die diese Aussagen bestätigen. Aber was bedeutet eigentlich „riskant leben“ oder „ein Risiko eingehen“? Schaut man ins Wörterbuch, so wird Risiko definiert als „möglicher negativer Ausgang bei einer Unternehmung, mit dem Nachteile, Verlust, Schäden verbunden sind“. Aber behaupten die oben zitierten Redewendungen nicht genau das Gegenteil? Dass man nur gewinnen kann, wenn man ein Risiko eingeht?
ÄNGSTLICH UND LANGWEILIG
Mir fallen in diesem Zusammenhang Geschichten ein, die wohl jeder kennt: die befreundete Familie, die Haus, Job und Freunde aufgibt, um als Missionare in ein fremdes Land zu gehen. Der Kollege, der ein Jahr unbezahlten Urlaub nimmt, um die Welt zu bereisen. Die Freundin, die ihren sicheren Job kündigt, weil sie den Traum der Freiberuflichkeit realisieren möchte. Der Onkel, der viel Geld in die Gründung von StartUps investiert. Bei all diesen Geschichten komme ich mir klein und unbedeutend vor. Mein Leben erscheint mir langweilig, eintönig und grau – so wie ich es eigentlich nie haben wollte. Ich fühle mich schlecht und frustriert: Alle anderen haben ein aufregendes Leben, sind mutig und vertrauen bei ihren Entscheidungen einfach auf Gott. Ich dagegen bin ängstlich und langweilig. Und anscheinend fehlt mir das nötige Gottvertrauen, um aus meiner Routine und meinem gewöhnlichen Leben auszusteigen. Warum bin ich nicht in der Lage, riskant zu leben und Abenteuer zu wagen?
RISIKOBEURTEILUNG
Aber wer bestimmt überhaupt, was riskant ist? Hängt die Risikobeurteilung nicht immer vom Standpunkt des Betrachters ab? Es kann doch sein, dass ich ein Vorhaben als extrem riskant einordne, der betroffene Akteur aber zu einer ganz anderen Einschätzung kommt. Je nachdem, welche Erfahrungen ich bisher gemacht habe oder mit welchen Stärken und Schwächen ich von unserem Schöpfer ausgestattet wurde, wird mein Risikoempfinden anders aussehen als das meines Gegenübers. Umgekehrt werden andere meine Lebenssituationen und Entscheidungen in die Sparte „riskant“ einordnen, bei denen ich keinerlei Risiko oder Wagnis erkenne. Das heißt doch, dass letztendlich ein riskanter Lebensstil nur deshalb als riskant bewertet wird, weil wir – die Betrachter – diese Wertung vornehmen. Mir scheint, dass wir durch unsere Gesellschaft und manche Medien so geprägt sind, dass nur noch große und für alle sichtbare Lebensgeschichten als riskant und sinnerfüllend bewertet werden. Oft wird suggeriert, dass das Leben nur lebenswert ist, wenn wir etwas riskieren, neue Dinge wagen und uns auf die Suche nach dem noch besseren Erlebnis begeben. Aber was ist mit den vielen kleinen Begebenheiten in unserem alltäglichen Leben, denen wir meist gar keine Beachtung schenken? Sie werden als langweilig abgetan, ignoriert oder schneiden im Vergleich nur unterdurchschnittlich ab.
MUTIG ODER NAIV?
Mir fällt die Rentnerin ein, die ihren pflegebedürftigen Mann jahrelang pflegt – auf die Gefahr hin, unter dieser Belastung selbst zu zerbrechen. Oder der junge Mann, der im Knast saß und es nun wagt, zu heiraten und eine Familie zu gründen – in dem Wissen, dass er wahrscheinlich aufgrund seiner Vorstrafe nie einen festen Job finden wird. Oder die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, die ihr Studium zu Ende bringen möchte, obwohl sich die Finanzen permanent am unteren Limit befinden. Und was bewegt den Freund, der es nach mehrfach gescheiterten Firmengründungen trotzdem wieder wagt, eine neue Geschäftsidee zu entwickeln? Wie sieht es mit der Familie aus, die Pflegekinder aufnimmt und neben Beruf und eigenen Kindern Zeit und Liebe investiert – in der Hoffnung, diesen Pflegekindern einen besseren Start in die Zukunft zu ermöglichen? Es gibt noch viele solcher Geschichten, die ich an dieser Stelle nicht alle aufzählen kann. Wahrscheinlich bewertet jeder diese Geschichten unterschiedlich. Von riskant, mutig, abenteuerlustig über naiv und dumm werden hier die Urteile ausfallen. Aber wann ist etwas riskant? Und wann ist etwas gefährlich oder dumm und naiv? Dieses Urteil hängt stark vom Standpunkt des Betrachters ab.
MIT DEM HERZEN SEHEN
Auch die Motivation der Menschen spielt eine Rolle. Manche gehen ein Risiko ein, um sich selbst oder anderen etwas zu beweisen oder um Anerkennung zu bekommen. Andere wagen etwas im tiefen Vertrauen auf Gott, obwohl Außenstehende es als „dumm und unüberlegt“ abstempeln. Lebensgeschichten zu vergleichen und zu bewerten ist hinfällig, keine Geschichte ist mit der anderen vergleichbar. Gott hat jeden von uns mit anderen Erfahrungen, Begabungen und Lebensumständen ausgestattet. Und Gott allein kann ein Urteil über unser Leben fällen. In diesem Zusammenhang fallen mir die Worte meiner Französischlehrerin ein, die sie mir in der 5. Klasse ins Poesiealbum geschrieben hat: „On ne voit bien qu‘avec le coeur. L‘essentiel est invisible pour les yeux.“ Ich glaube, dass Antoine de Saint-Exupéry in seinem Buch „Der kleine Prinz“ mit diesen Worten eine tiefe göttliche Wahrheit ausdrückt: Gott sieht unser Herz und lässt sich nicht von Äußerlichkeiten blenden. Ich möchte immer mehr versuchen, mir diese Wahrheit ins Bewusstsein zu bringen, um so mein Leben, mein Umfeld und meine Mitmenschen offen wahrzunehmen und nicht zu beurteilen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Carolin Schmitt arbeitet als Wirtschaftsingenieurin und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Karlsdorf/Baden.
Sie leitet die KinderKirche ihrer Gemeinde und veröffentlicht ihre Gedanken auf dem Blog www.morethanpretty.net.
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