Wenn ich nochmal erziehen könnte …
Stefanie Diekmann reflektiert, was sie als Mutter gut gemacht hat. Und was sie ändern würde, wenn sie nochmal neu anfangen könnte.
Vor mir turnt ein kleiner Mensch im Kinderwagen herum. Gleich wird er sich aus den Gurten herausgewunden haben. Der Kassenbereich eines Drogeriemarktes ist leider kein Ort für diese Expeditionen. Der Vater greift beherzt und auch entnervt zu. Seufzend fährt er sich durch die Haare. Diese Bewegung kenne ich von mir. Und auch das Seufzen. Am liebsten würde ich distanzlos ein paar ermutigende Worte hinüberrufen.
ZUCKER UND MONSTERPUPPEN
Unsere Kinder sind groß. Ich war gern mit ihnen unterwegs. Ein zusammengeliebtes Expeditionsteam. Jeder Tag war für mich voller intensiver Momente: turnende Kinder im Kinderwagen, Zahn-Putz-Kämpfe, Haare raufen wegen einer schier endlosen To-do-Liste. Mit vollem Eifer haben mein Mann und ich unsere Kinder erzogen. Angefeuert von Büchern, Magazinen, Elternkursen, einem Schwung handfester Tipps zur Beherrschung des Chaos und Hinweisen, wie Kinder zu prägen und zu handhaben sind. Während ich in der Schlange im Drogeriemarkt stehe, realisiere ich: Die Bedürfnisse unserer Kinder haben in den Regeln, die auf diesen Grundlagen entstanden sind, nicht immer Platz gefunden. Auch wenn mehr als offensichtlich war, dass unsere Kinder ganz unterschiedlich auf Ansprache oder Körperkontakt reagierten. Ich wollte alles so richtig machen. Und das war so anstrengend. Wie oft ich am Tag gedacht habe: „Wehret den Anfängen! Das darf nicht, das auch nicht und am besten gleich für alle drei.“ Mir fallen Debatten um Zucker, dubiose Hörspiele oder Monsterpuppen ein, bei denen ich immer noch motiviert meinen Weg gehen würde. Mir fallen auch Kraftfresser ein, die ich heute leichter nehmen würde: Schwimmkurs, Kleid-Drama am Sonntag, schnell durch den Tag kommen, eincremen. Das Chaos zähmen und beherrschen – muss das wirklich sein?
LANGSAMER LEBEN
Ich denke an ein Zitat von Søren Kierkegaard: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.“ Was würde ich anders machen? Den Eifer würde ich behalten wollen, aber meinen Tag langsamer leben. Mich mehr im Moment verorten. Den Geruch meines gerade aufgestandenen tapsigen Kleinkindes aufsaugen, das Plappern des Kindergarten-Mädchens oder die Sport-Reportagen des Teen-Boys … Ich war so schnell unterwegs und oft getrieben von dem Wunsch, so viel zu wuppen wie die anderen Familienteams.
Unsere Kinder waren sehr laut und wild. Der Esstisch war ein Boot in Seenot, das schwere Sofa wurde durch das Wohnzimmer geschoben und diente als erdachtes Tierheim. Das fiel mir nicht schwer und ich habe es sehr genossen: Trubel, Kreativität und ihr eigenständiges und versunkenes Spiel. Was ich nicht gut konnte: meine Erschöpfung bemerken und rechtzeitig Grenzen ziehen durch Aufräumen, ruhigere Spielphasen oder Mahlzeiten. Mein Agieren im „Ich kann nicht mehr“-Modus hat meinen Kindern wenig Vorbild ermöglicht, um eigene Kraftphasen abzugrenzen. Heute sehe ich bei meinen erwachsenen Kindern, wie sie einer Sache über Gebühr Kraft schenken. Ich habe die Chance verpasst, ihnen vorzuleben, leidenschaftlich zu sein und Grenzen zu setzen.
DIE KRAFT DES KINDES STRAHLEN LASSEN
Schwer zu tragen waren Gedanken wie: Mein Kind ist nicht ganz einfach, unpassend, fordernd. Die ersten Begegnungen damit haben mich umgehauen. Bewertungen zu unseren Kindern habe ich geschluckt. Angenommen, dass ich diese Rückmeldungen verarbeiten muss. Dass ich dafür zuständig bin, dass mein Kind vermeintlich normaler, lieber und angepasster wird.
Wenn ich heute mit Eltern arbeite, versuche ich, die Kraft des Kindes strahlen zu lassen. Ich erinnere mich, wie Menschen mit solchen positiven Rückmeldungen mir als Mutter gutgetan haben und meine Offenheit für einen Prozess der Reflexion viel größer war als nach einem schroffen, negativen Kommentar über mein Kind. Mit dem Vertrauen, dass mein Kind Entwicklungsmöglichkeiten hat, können wir zusammen besser Themen ansehen, die Aufmerksamkeit brauchen. Eine Zurechtweisung, eine Festlegung durch Fremde, Familie oder Schule würde ich heute weniger zulassen.
VORWÄRTS LEBEN
Das Zitat von Søren Kierkegaard besteht aus einem weiteren Satz, der mich aus meiner Erinnerungsreise ins Heute zurückholt: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts.“ Vorwärts … Aber ist nicht das Prägen längst beendet?
Wir sind mit unseren drei erwachsenen Kindern in der Phase, wo sie Geschichten aus ihrer Kindheit erzählen, die ich ganz anders bewertet habe. Manchmal finde ich es wunderschön, manchmal erschreckt mich ihre Wahrnehmung. Nicht selten haben wir als Eltern unsere Kinder schon gefragt: Haben wir zu streng gehandelt? Was hättest du dir gewünscht, als du nicht zum Zahnarzt wolltest? War es okay für dich, mit zehn Jahren allein durch Deutschland mit dem Zug zu fahren? In diesen Runden haben wir uns immer wieder auch auf den Weg der Vergebung gemacht. Wir leben davon, dass Gott Neuanfänge liebt, und konnten den anderen dabei aus der Last eines Fehlers entlassen. So bleibt in vielen Themen zwar eine „Retroliebe“, wie Wehmut auch heißen könnte. Der Schmerz über Fehler darf durch Vergebung weniger werden.
Vorwärts leben heißt für mich, aus den Beobachtungen des Gestern zu lernen. Heute kann ich achtsamer meine Begegnungen leben und meinen Kindern zuhören, wenn sie ihre Weltsicht teilen. Das Expeditionsteam Familie ist nicht vorbei, es hat nur eine andere Art, die Welt zu entdecken. Wir leben derzeit an drei Standorten, bald vier. Manches wird mir Kraft rauben und mich explodieren lassen, manches kann ich gut füllen. Wir haben uns verletzt, ermutigt, gesegnet und gestärkt. Und wir werden es auch für die nächste Etappe tun. Anders und neu.
Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern.
Fragen für eine Austauschrunde mit den großen Kindern
- Was war/ist an unserer Familie besonders?
- Was hat dir gutgetan?
- Welchen Moment erinnerst du als Geborgenheit?
- Welchen als Herausforderung?
- Das würde ich heute in eurer Erziehung anders machen …