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Wie ehrlich sollten Partner miteinander sein? Das sagen die Experten

Ist die kleine Notlüge in der Beziehung erlaubt? Wann Ehrlichkeit zwingend notwendig ist und wann nicht, darauf gibt es keine leichte Antwort.

Paul [Name von der Redaktion geändert] hat seit mehreren Wochen eine Affäre. Seine Ehefrau und seine Familie liebt er, so sagt er. Sexuell fehlt ihm seit Jahren etwas in seiner Ehe. Trennen will er sich auf keinen Fall. Denn seine Familie steht für Paul an erster Stelle und er fühlt sich moralisch verpflichtet, zu seinem Ehegelübde zu stehen. Ehrlichkeit ist für ihn keine Option. Seine sexuellen Bedürfnisse permanent hintanstellen kann er aber auch nicht.

Auch Clara [Name von der Redaktion geändert] hat ein Geheimnis. Sie verschweigt ihrem Mann, dass ihre Konten jeden Monat überzogen sind, sie überall Schulden hat und ihre Kreditkarte glüht. Clara kauft Kleidung. Ihr Selbstwertgefühl ist nicht sehr hoch und sie kompensiert diesen Mangel mit einem kurzen Glücksgefühl, wenn sie eine neue Tüte mit Kleidung in ihren Händen trägt. Sie versteckt die neuen Sachen vor ihrem Mann. So lange, bis sie ihm ohne zu lügen sagen kann, dass ihre angeblich neuen Sachen doch schon etwas älter sind.

Die Frage nach Ehrlichkeit stellt sich in einer Beziehung oft erst, wenn einer oder beide Partner sich unehrlich verhalten. Wird die Beziehung die Wahrheit aushalten? Oder kann sie scheitern an Lüge und Verschwiegenheit? Wie Menschen diese Frage für sich beantworten, ist entscheidend dafür, wie offen sie gegenüber der Partnerin oder dem Partner sind.

Verletzende Wahrheiten besser verschweigen?

Was, wenn man genau weiß, dass die eigene Ehrlichkeit verletzend sein wird? Gerade bei Paul würde seine Ehrlichkeit sehr viel Schmerz auslösen. Es ist jedoch illusorisch, zu denken, Verletzungen in der Partnerschaft ließen sich vermeiden. „Dinge nicht anzusprechen kann genauso verletzend sein wie sie auszusprechen“, sagt Veronika Schmidt, klinische Sexologin und systemische Beraterin. Letztlich traue man dann dem anderen und der Beziehung Herausforderungen nicht zu. Durch Frustrationen und Belastungen würden wir stärker, die Beziehung brauche sie. Könne eine Beziehung das nicht aushalten, könne sie letztlich vielleicht auch langfristig nicht bestehen. „Wenn man ehrlich ist, so sollte man sich bewusst sein, dass der eigenen Ehrlichkeit ein schmerzhafter Weg folgt, den man mitzugehen bereit sein sollte. Ist man das nicht, könnte Schweigen vielleicht sogar angebrachter sein“, ergänzt die Beraterin.

Diesem Ansatz widerspricht Dr. Tatiana Gorbacheva, Professorin für Psychologie an der LEE University in Cleveland, Tennessee. Sie plädiert für ehrliche Beziehungen, weil es darin keine Zweideutigkeiten und dadurch hervortretenden Stress gibt. Sie ist der Meinung, dass das Eingestehen eines Fehlverhaltens, die Reue und die Konfrontation mit den Folgen der Verletzung des Anderen helfen kann, einander näherzukommen. „Im Allgemeinen sind Geheimnisse schädlich für Beziehungen und Menschen“, betont Dr. Tatiana Gorbacheva. Sie entzweiten Ehepartner und führten zu einer ungesunden Dynamik, weil einer etwas vor dem anderen verbergen müsse. Geheimnisse seien oft mit Scham verbunden. „Und: Man sagt auch ‚Du bist so krank, wie deine Geheimnisse‘.“

Paare sollten unveränderliche Fehler nicht ansprechen

Clara hat eine Schwäche fürs Shoppen. An ihrer Schwäche kann sie arbeiten. Oftmals aber ist es ähnlich wie bei Übergewicht, Rauchen, Zuckersucht, Bequemlichkeit, mangelndem Selbstvertrauen oder Unpünktlichkeit: Es sind Gewohnheiten, die sich in der eigenen Persönlichkeit manifestiert haben und die sich aus eigener Kraft kaum überwinden und verändern lassen.

Manche Makel lassen sich außerdem gar nicht ändern. Dazu können gehören: schlechter Orientierungssinn, Nervosität vor fremden Menschen, körperliche Schönheitsfehler und noch vieles mehr. Solch einen Makel dem Partner vorzuhalten, ist nicht nützlich, meint der Psychotherapeut Jörg Berger. Besser sei es, einen Weg zu finden, um den Partner anzunehmen. „Auch dass man darum ringt, muss der Partner nicht unbedingt erfahren. Denn wenn es sich bei seinem Makel um einen wunden Punkt handelt, könnte dies die Sicherheit in der Beziehung und das Gefühl des Geliebtseins erschüttern.“

Zwanghafte Ehrlichkeit

Wenn sich ein Paar dazu entscheidet, miteinander ehrlich alles zu teilen, müssen sie sich bewusst machen, dass das Leben zu kurz und zeitlich begrenzt ist, um tatsächlich alles miteinander teilen zu wollen. Auch gibt es eine Form der sogenannten „tyrannischen Intimität“, die beinah zwanghaft vom Gegenüber fordert, jeden Gedanken offenzulegen. „Man will ständig in den Kopf, die Gedanken und Gefühle des anderen eindringen. Das hat letztlich nichts mit Ehrlichkeit zu tun, sondern mit Kontrolle“, sagt Veronika Schmidt. Aus dieser Kontrolle resultiert oft, dass der oder die Andere noch eher versuchen wird, Dinge zu verheimlichen, weil die Person sich nicht vollständig ausliefern will.

Der Psychotherapeut Jörg Berger plädiert ebenfalls dafür, Respekt vor dem Geheimnis des Partners oder der Partnerin zu haben und nicht zu sehr in diese Intimsphäre einzudringen. „Es ist ein Geschenk, wenn Partner sich einander öffnen, sich in ihren tiefen Gedanken und Gefühlen mitteilen können. Doch Menschen tragen ihre schwersten Kämpfe in einer existenziellen Einsamkeit aus, an Orten, zu denen kein anderer Zutritt findet“, schreibt er in einem Artikel für die Zeitschrift Family: „Wenn man nach diesen Kämpfen in ein freundliches Zuhause tritt und eine Umarmung spürt, dann ist das Glück.“

Paare sollten sich grundsätzliche Fragen stellen

Die grundsätzliche Frage, die sich ein Paar laut Veronika Schmidt gemeinsam stellen sollte, ist: Wie ehrlich wollen wir sein? Ist das etwas, was wir gemeinsam als Wert festlegen wollen? Oder: Warum können wir voreinander nicht ehrlich sein? Und: Habe ich mich genug selbst reflektiert, um überhaupt ehrlich sein zu können? Die Antworten auf diese Fragen können Paare auf eine zukunftsorientierte und tragende Diskussionsebene bringen.

Von Priska Lachmann

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