Nervige Gewohnheiten
Kleine Schwächen können große Konflikte auslösen. Doch erstreiten lässt sich Veränderung nicht. Jörg Berger hat einen ungewöhnlichen Tipp: Erst mal entspannen!
Meine Frau schaut, wie sie wohl manchmal ihre Schüler ansieht: etwas amüsiert, mitfühlend, aber mit einer Strenge, die kein Verhandeln duldet. Sie hat mich ertappt. „Moment“, denke ich, „ich bin hier zu Hause. Warum soll ich nicht in der Nase bohren, wenn es niemand sieht? Wo, wenn nicht zu Hause, darf ich mich mal gehen lassen? Was hat das außerdem mit dir zu tun? Ich sitze hier doch nur und lese. Schau einfach weg.“ Was eben noch gedankenlos war, kommt mir nun wie der tiefste Ausdruck meiner Freiheit vor: Dem mäandernden Jucken folgen, wohin es mich führt. Mich einer Stimulation hingeben, die das Lesen konzentrierter macht und mich in den geistigen Flow hebt. „Das willst du mir nehmen? Mit welchem Recht?“
Nervige Gewohnheiten lassen keinen Bereich des gemeinsamen Lebens aus: Warum hängt Matthias an seinen ärmellosen Strickjacken, die jede Anziehung ersticken? Warum erledigt Lisa immer noch schnell etwas, obwohl sie wissen müsste, dass sie dann zu spät kommt? Weshalb nur kaut Markus mit offenem Mund? Und aus welchem Grund shoppt und surft Katrin, statt ins Bett zu gehen, auch wenn sie am nächsten Tag so unausgeglichen ist? Manche Gewohnheiten nerven. Andere enttäuschen oder sie stoßen sogar ab. In aller Regel wissen wir, was den anderen stört. Doch trotz Liebe halten wir an unseren Gewohnheiten fest. Woran liegt das? Zunächst daran, dass Gewohnheiten zu Beginn der Beziehung anders wirken.
Was anfangs anzieht, stört später besonders
Im Verliebtsein erscheinen Gewohnheiten in einem anderen Licht. Lisa zum Beispiel war nie pünktlich. Doch Niklas hat gerne auf sie gewartet. Er kommt aus einem Elternhaus, in dem Regeln und Prinzipien alles waren. Lisas Lebensgefühl war Freiheit. Fast immer hat sie etwas Spontanes erlebt, was sie aufgehalten hat. Sie erzählte dann lachend darüber. „Verhängnisvolle Anziehung“, nennt die Paarpsychologie dieses Phänomen: Was anfangs anzieht, stört später besonders.
Außerdem lernt man den Partner in der Öffentlichkeit kennen oder empfängt ihn als Gast bei sich zu Hause. Gehen lässt man sich, wenn man wieder allein ist. Das ändert sich mit dem gemeinsamen Haushalt. Angelika war enttäuscht, als sie mit Markus auf seiner Betriebsweihnachtsfeier war – er zeigte tadellose Tischmanieren. „Warum muss er dann zu Hause mit offenem Mund kauen?“, hat sich Angelika gefragt. „Bin ich ihm weniger wichtig als die Kollegen?“
Manches zeigt sich erst mit der Zeit
Es gibt noch einen dritten Grund, warum Gewohnheiten irgendwann anders wirken. Ihre Folgen werden oft erst im Lauf der Jahre sichtbar. Justus zum Beispiel ist ein Gerechtigkeitsfanatiker. Sonja war schon immer etwas unbehaglich, wenn er Freunde entlarvt oder mit ihren Schwächen konfrontiert hat. Gleichzeitig hat sie seine Geradlinigkeit bewundert. Sonja und Justus haben sich im Studium kennengelernt. Ihr Freundeskreis war groß. Das ist heute anders, Freunde haben sich zurückgezogen. Richtig gute Freunde gewinnen Sonja und Justus immer seltener hinzu. Sonja erschrickt heute, wenn Justus mit seinem Gerechtigkeitsfimmel eine Freundschaft aufs Spiel setzt. Auch bei anderen Gewohnheiten gilt das Gesetz von Saat und Ernte: Mit der Zeit ziehen sie Folgen nach sich. Doch spätestens, wenn sie Folgen hat, müsste man eine Gewohnheit doch ändern?
Bei unseren eigenen Gewohnheiten ist uns bewusst, wie viel Aufmerksamkeit und Kraft uns eine Veränderung kosten würde. Bei den Gewohnheiten unseres Partners dagegen erscheint uns die Veränderung nur als Frage des guten Willens. Die Sozialpsychologie nennt das Akteur-Beobachter-Effekt (actor-observer-bias): Der Handelnde führt sein Verhalten eher auf die Umstände zurück. Er spürt die Einflüsse, die auf ihn wirken. Ein Beobachter jedoch sieht dessen Verhalten als Ausdruck seiner Absichten und seines Charakters.
Alte Wunden werden aufgerissen
Wenn wir uns also von unserer Partnerin oder unserem Partner eine Veränderung wünschen, heißt das zugleich, dass wir ein Stück der begrenzten Aufmerksamkeit und Willenskraft des anderen beanspruchen. Wir schicken unser Gegenüber in einen Kampf gegen den inneren Schweinehund, der viel lieber träge am Gewohnten festhält. Wir aktivieren außerdem emotionale Schemata, die mit der Gewohnheit verknüpft sind. Emotionale Schemata sind wunde Punkte, an denen wir empfindlich reagieren. Der eingangs erwähnte Widerstand meiner Frau hat bei mir sofort ein Kopfkino erzeugt: „Da kommt wieder jemand, dem jede Einfühlung und jedes Wohlwollen für mich fehlt.“ Dieser Film passt zwar nicht zu meiner Frau, er hat sich aber in meiner Kindheit so abgespielt. Mir reicht schon die Anmutung einer Rücksichtslosigkeit, um mein Kopfkino zu starten. Entsprechend abwehrend sind dann meine Reaktionen.
Der Wunsch nach Veränderung kann auch andere emotionale Schemata aktivieren: einen emotionalen Mangel (der vielleicht sogar von der Gewohnheit gelindert wird), Selbstwertverletzungen, die Erfahrung von Überforderung und viele mehr. Als Therapeut freue ich mich, wenn kleine Verhaltensänderungen ein emotionales Schema aktivieren: „Super, dann schlagen wir jetzt zwei Fliegen mit einer Klappe! Sie verbessern an diesem Punkt Ihr Leben und gleichzeitig lindern wir eine Wunde von früher.“ Aber in einer Therapie kommt der Wunsch nach Veränderung nicht von außen und man ist nicht allein in der Herausforderung.
Gewohnheiten aus Liebe annehmen
Was kann man der Person raten, die sich vom anderen eine Veränderung wünscht? Zuallererst: Einen Streit um eine Veränderung, der lange vergeblich war, kann man sich sparen – einfach, weil er nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Das klingt nicht nach einer Weisheit, die große Lebenserfahrung erfordert. Doch die Entscheidung, vergebliche Kämpfe aufzugeben, hat schon Ehen gerettet. Auch in weniger kritischen Situationen würde ich raten: „Versuche erst mal, innerlich dahin zu kommen, dass du die nervige Gewohnheit aus Liebe annehmen kannst.“ Wer glaubt, kann das auch zu einer Übung seines Glaubens machen – beten, bis sich die partnerschaftliche Liebe für eine göttliche Liebe öffnet, die alles verzeiht und alles trägt, die einlädt, die aber niemanden zwingt.
Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Partnern, die aus Liebe ihren Wunsch nach Veränderung opfern, und Partnern, die sich zum Opfer machen. Vor den Folgen einer schlechten Gewohnheit darf und sollte man sich schützen. Dann finden die Dinge, die ein Partner im Wohnzimmer verstreut, ihren Platz in einer Box in dessen Arbeitszimmer. Dort entdeckt er, was er im nun ordentlichen Wohnzimmer nicht mehr findet. Dann muss eine Partnerin ertragen, wenn ihr Mann ein offenes Wort an Freunde richtet: „Ich liebe Sybille und ihr Herz für Tiere. Aber wenn sie so ausufernd über Tierschutz spricht, dürft ihr sie ruhig mal stoppen. Das mache ich zu Hause auch. Das soll unsere Freundschaft nicht belasten.“
Mit etwas Positivem beginnen
Wer entspannt ist und eine annehmende innere Haltung gewonnen hat, kann kaum etwas falsch machen, wenn er oder sie den Wunsch nach Veränderung ausspricht. Wenn es überhaupt einen Tipp braucht, dann: Beginnen Sie mit einem positiven Satz. Rechnen Sie mit einer Stressreaktion Ihres Partners und lassen Sie sich von dieser nicht ablenken. Bleiben Sie bei dem, was die Gewohnheit Ihres Partners für Sie bedeutet, und bei Ihrem Wunsch nach Veränderung. Lassen Sie den anderen frei darin, ob er Ihrem Wunsch folgt oder nicht.
Das könnte dann so klingen: Ihr Wunsch: „Markus, ich mag es sehr, dass du so locker und entspannt bist. Es gibt gerade nur eine Ausnahme, wo das nicht so ist: Wenn du den Mund beim Kauen offen hast. Irgendwie ist das eklig für mich.“ Die Stressreaktion: „So esse ich doch immer. Warum stört dich das plötzlich? Es hat sich noch niemand darüber beschwert.“ Ihre gelassene Fortsetzung: „Ist auch kein Drama. Vielleicht habe ich meine Gefühle da selbst nicht ernst genommen. Vielleicht wollte ich dir auch keine Vorschriften machen. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich so einen Ekelschauer bekomme, wenn ich dich ansehe und dir dabei in den Mund gucke …“
Selbst etwas ändern
Warum nicht eine Schwäche abstellen? Unser „Ich liebe dich!“ und „Du bist mir wichtig!“ behalten nur dann ihre Kraft, wenn wir gelegentlich einen Liebesbeweis bringen. Vielleicht ist unsere nervige Gewohnheit eine gute Gelegenheit dazu. Am besten beginnt die Veränderung dann mit Selbstannahme: „Auch mit meiner Gewohnheit bin ich okay. Ich muss nicht perfekt sein. Ich lebe – wie jedes Menschenkind – davon, dass meine Eigenarten ertragen und meine Fehler vergeben werden. Meine Motivation für meine Veränderung ist einfach: mehr zu lieben.“
Am herausforderndsten bei der Veränderung ist vielleicht die Erfahrung des Kontrollverlustes: „Ich will zwar, aber ich kann manchmal nicht. Ich versuche es, aber ich schaffe es nicht immer. “ Das kann verunsichern, entmutigen, enttäuschen oder beschämen. Aber warum sollten wir dieser grundlegenden Erfahrung des Menschseins ausweichen? Dann heißt es: dranbleiben. Billiger als durch diese Erfahrung hindurch ist Veränderung oft nicht zu bekommen. Aber es lohnt sich – als Liebesbeweis und als Charakterschule.
Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis.
Zur Vertiefung
Unter psychotherapie-berger.de/gewohnheiten findet sich ein Onlinekurs zum Thema.