Ein toter Igel am Straßenrand. Symbolbild: Getty Imabes / Matteo86

„Der Igel schläft nur…“ – Darf ich mein Kind anlügen?

Eigentlich wollen Eltern die Wahrheit sagen und Kinder zur Ehrlichkeit erziehen. Trotzdem flunkern sie im Alltag immer wieder. Wann könnte eine Lüge gerechtfertigt sein?

Schon in den Zehn Geboten heißt es: „Du sollst nicht lügen.“ Und der Volksmund weiß: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ … Ich nicke mit dem Kopf und kann das nur richtig finden. Die Wahrheit ist doch die Basis für Vertrauen, und Ehrlichkeit ist eine wichtige Tugend, die ich auch meinem Kind vorleben will. Bei uns wird nicht gelogen!

Ich nicke also vor mich hin – und wenig später höre ich mich sagen: „Der platte Igel da am Straßenrand? Ähm … Dem geht’s prima, der schläft nur.“ Oh oh. Lüge ich mein Kind etwa an? Oder ist das nur ein „altersgemäßes Flunkern“ und völlig legitim?

Lügende Kinder: Schrecklich!

Wenn es hingegen um die Kinder geht, sind die meisten Erwachsenen sich einig: Lügen ist strengstens verboten, genau wie schummeln, betrügen, schwindeln und flunkern. (Platzt ein Kind am Kindergeburtstag aber lauthals damit heraus, dass Omas Geschenk ziemlich blöd ist – finden wir das schon wieder „zu ehrlich“.) Während wir bei den ganz Kleinen also noch von ihrer brutalen Ehrlichkeit überrumpelt werden, heben wir bei den etwas Größeren schon schimpfend den Zeigefinger, wenn wir sie beim Lügen erwischen.

Nur ein paar Psychologen findet man im Internet, die dem auch etwas Positives abgewinnen können: ‚Lügen lernen‘ sei ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung, lese ich. Ganz normal ab etwa vier Jahren. Ein Ausdruck für Empathie und Selbstkontrolle – also wichtig, um im Leben erfolgreich zu sein.

Ich muss zugeben: Das nimmt mir schon mal etwas den Druck und ich bin beruhigt. Wenn mein Kleiner mich mal anflunkert und mit schokoverschmiertem Mund beteuert, dass er heute noch „überhaupt keine Sokolade gegessen“ habe – dann ist das kein Hinweis darauf, dass er später mal ein notorischer Lügner wird. Ich schimpfe also nicht, sondern gehe auf Ursachen-Suche: Wieso flunkert ein Kind? Hat es sich das irgendwo abgeschaut – vielleicht sogar von den Eltern?

Flunkernde Erwachsene: Geht klar!

Genug Gelegenheit, sich das Schwindeln bei uns Erwachsenen abzuschauen und nachzumachen, hätten unsere Kinder mit Sicherheit. Haben Sie einer Freundin zum Beispiel schon mal bestätigt, dass die schrecklichfurchtbare Shopping-Ausbeute ganz wundervoll aussieht – einfach, weil sie sich so gefreut hat und Sie ihr nicht wehtun wollten? Oder haben Sie schon mal ein Treffen abgesagt, weil Sie leider, leider andere Verpflichtungen haben – und den Abend dann gemütlich auf der Couch verbracht?

Wir Großen flunkern, lügen und nutzen Fast-Wahrheiten, dass sich die Balken biegen. Warum? Weil Lügen uns das Leben in manchen Situationen einfacher macht. Wir wollen niemanden verletzen, wir wollen nicht anecken oder Ärger bekommen – also kommen wir mit kleinen, harmlosen Halb-Wahrheiten um die Ecke und freuen uns sogar noch, weil uns spontan eine tolle Ausrede eingefallen ist.

Und unsere Kinder? Die sind nicht blöd, sondern sehr sensibel – und merken alles! Wenn wir uns als Vorbilder unserer Sprösslinge sehen, sollten wir ihnen also keine widersprüchlichen Signale senden („Man“ darf nicht lügen – Mama lügt aber doch?) oder gar die Moral-Keule in Richtung Nachwuchs schwingen. Denn: Auch wir als Mamas und Papas flunkern und lügen unsere Kleinen an. Ist uns das eigentlich bewusst?

Lügen – oder „bloß“ flunkern?

Wenn ich darüber nachdenke, dass ich den toten Igel am Straßenrand gerade als „schlafend“ bezeichnet habe, nehme ich mich natürlich gleich selbst in Schutz. Ich sage mir: Das war ja keine Lüge in dem Sinne. Da habe ich ja nur geflunkert, nicht die grausame Wahrheit ausgesprochen und dem Kleinen eine Erklärung geliefert, die seinem Alter entspricht. Aber ich habe eben auch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Also: gelogen?

Ist die Igel-Lüge eine Lüge? Ich befinde mich in einem Dilemma und sage: moralisch nein, faktisch ja. Die wichtigere Frage scheint mir aber zu sein: Für wen und mit welcher Absicht wird gelogen und geflunkert? Ich glaube, genau das macht den ganz großen Unterschied: Lügen (oder flunkern) wir Eltern für oder gegen unsere Kleinen?

Das Kind schützen

Eine Lüge, die für mich grundsätzlich in Richtung „pro Kind“ geht, ist die klassische Notlüge. Wie der Name schon sagt, nutzen wir sie in Not-Situationen, wo uns die Worte, die Kraft oder das Wissen für die tatsächliche Wahrheit fehlen. Mit einem Kind anatomisch korrekt über den Tod eines lieben Menschen zu sprechen, das würde empathischen Eltern im Traum nicht einfallen. Auch eine Antwort, die dem Alter des Kindes angepasst wurde – und dadurch nicht mehr so ganz der Erwachsenen-Version der Wahrheit entspricht – gehört für mich in diese Kategorie. In Situationen, in denen die elterliche „Lüge“ mehr Nutzen als Schaden anrichtet, wird die kleine Kinderseele geschützt. Ich finde deswegen: Manchmal gibt es Situationen, da dürfen wir lügen.

Für oder gegen das Kind?

Ein bisschen kritischer ist das schon mit der anderen Art von Flunkerei: den Bequemlichkeitslügen. Wer am Ende des Tages einfach keinen Nerv mehr hat, erzählt den Kindern überzeugend, dass die Batterie vom nervtötend lauten Feuerwehrauto leider leer ist. Meine Freundin lobt ihre Große für das zauberhaft gemalte Bild, das eigentlich eher furchteinflößend aussieht. Und ich erzähle dem Kleinen mittags lang und breit, dass jetzt alle anderen auch einen Mittagsschlaf machen.

Und obwohl das alles Momente sind, in denen wirklich keine Not-Situation vorliegt – steckt nicht auch hier manchmal eine durchaus „positive Absicht“ hinter der Lüge? Ich glaube nämlich: Es gibt Bequemlichkeitslügen, die wir gegen unsere Kinder verwenden, aber eben auch solche, die wir für unsere Kinder erzählen. Meine Alle-machen-Mittagsschlaf-Lüge zum Beispiel, die nutze ich ja immerhin, um damit ein wenig Erholung und Stressabbau beim kleinen Schläfer zu erzielen. Und auch meine Freundin, die mit Komplimenten ein Papierkorb-würdiges Kunstwerk der Tochter bestaunt und beklatscht, will mit dieser Bequemlichkeitslüge ihre kleine Künstlerin positiv bestärken und ihr eine Freude machen. Gelogen: Ja. Eher aus Bequemlichkeit als aus tatsächlicher Not: Ja. Aber mit bester Absicht und eben für das Kind.

Lüge aus Bequemlichkeit

Bequemlichkeitslügen gegen das Kind? Hier wird es für mich kritisch – denn hier steht die Bequemlichkeit der Eltern so im Mittelpunkt, dass eigentlich nur die eigenen Bedürfnisse zählen und das Wohl des Kindes in den Hintergrund tritt. Wer etwa dem Nachwuchs erzählt, dass freche Kinder von der Polizei mitgenommen werden, der hat damit wohl keine positiven Ziele für das Kind im Hinterkopf. Der einzige Grund für diese Art der Lüge: Wir Erwachsenen haben gerade keine Lust, keine Zeit oder keinen Nerv für die Wahrheit. Mit solchen Drohungen schüchtern wir unsere Kinder zudem ein, um lange Diskussionen, ein am Boden liegendes Drama-Kind oder endlose Erklärungen bequem und schnell abzukürzen. Der Preis: Wir riskieren das unerschütterliche Vertrauen, das unsere Kinder in uns haben.

Der Akku vom lauten Spielgerät ist leer, in der Schokolade ist leider Alkohol oder Kaffee drin, und: „Wenn du nicht sofort kommst, dann fahren wir ohne dich los“? Alles gelogen. Ganz ehrlich: Es ist verständlich, dass uns in manchen Situationen einfach keine Kraft mehr bleibt oder uns die Zeit im Nacken sitzt und solche Lügen mal nützen. Aber: Ich finde, diese Lügen dürfen und sollten eine seltene Ausnahme bleiben. Wir sind schon „groß“ – uns sollte etwas Besseres einfallen, als dass wir aus reiner Bequemlichkeit oder Hektik unsere ganzen Moralvorstellungen von Ehrlichkeit, Vertrauen und Vorbildfunktion über Bord werfen.

Was ist die Absicht?

Gibt es also „erlaubte“ und „verbotene“ Lügen? Ich denke vielmehr, es gibt Lügen für das Kind und Lügen gegen das Kind. Notlügen sollen schützen – wir verfolgen damit positive Ziele und wollen mit der Flunkerei unseren Kleinen etwas Gutes tun oder es vor Schlechtem bewahren. Ganz ähnlich ist es übrigens für mich auch mit der Rede über Christkind und Osterhase. Wir bringen damit Kinderaugen zum Strahlen, schenken ihnen den Glauben an Wunder. Wer würde da so streng sein und von „Lüge“ sprechen wollen? Ist die Intention hinter einer Aussage positiv, gehen wir den Flunker-Weg für unser Kind. Bequemlichkeitslügen lassen sich also manchmal tatsächlich nutzen, um etwas Gutes für ein Kind zu bewirken – manchmal haben wir aber einfach keine Lust auf oder Kraft für die „ehrliche Variante“.

Und genau dabei dürfen wir uns kritisch hinterfragen: Ist es mir das wert? Ist das für mich eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung, in der authentische Ehrlichkeit nur dann an der Tagesordnung ist, wenn Mama oder Papa gerade Lust dazu haben? Nehme ich für ein bisschen Zeitersparnis, Nervenschonung und aus Unlust in Kauf, dass ich mein Kind anlüge?

Simone Oswald arbeitet als Lehrerin und freie Texterin. Mit ihrer Familie in Niederbayern.