„Wie leises Gift…“

Andere meinen, wir seien eine richtige „Vorzeigefamilie“: Wir haben ein schönes, selbst renoviertes Haus mit Garten, Hund und Kater. Eine gute Ehe und zwei Töchter (17 und 19), die fleißig lernen. Alle vier sind wir in eine lebendige Kirchengemeinde integriert und übernehmen jeweils kleinere Ehrenämter. Doch dieses Bilderbuchidyll bekam einen Riss, als unsere Jüngste vor vier Jahren nach einer ärztlichen Untersuchung ihr Gewicht zu hoch fand und eine Diät begann …

ZURÜCKGEZOGEN
Nach einem halben Jahr sprach eine Freundin mich an, dass Anneli (Name geändert) so abgenommen habe. Sie sagte, ich solle mal genauer hinschauen. Nicht dass sie noch eine Essstörung bekommt. Anneli verzichtete zu dieser Zeit total auf Süßes und joggte regelmäßig. Ich fand es gut, dass sie plötzlich Sport machte. Doch ich merkte, dass sie immer schmaler und stiller und unglücklicher wurde. Ich sprach sie auf ihr Essverhalten an. Sie meinte, dass sie gewisse Dinge nicht mehr essen könne. Nach und nach verweigerte sie immer mehr. Sie aß nun weder Eis noch Kuchen, mochte keine Schokolade oder Limo mehr! Dazu kam, dass sie sich immer mehr zurückzog. Sie bekam keine Besuche von Freundinnen mehr, wollte sich mit niemandem verabreden. Ein paar Monate zuvor war sie die Lebhafteste in unserer Familie gewesen. Unser Haus war oft voll mit ihren Freunden. Doch nun wirkte sie traurig, war in sich gekehrt und bekam keine Besuche mehr. Nach einigen Gesprächen willigte sie schließlich ein, mit mir zu einer Ernährungsberatung zu gehen. Sie hörte aufmerksam zu und nickte, konnte aber keinen der gut gemeinten Tipps umsetzen. Stattdessen aß sie immer weniger und nahm ständig ab. Wir gingen zum Arzt, informierten uns im Internet und hatten schließlich die Diagnose: Anorexia nervosa – Magersucht!

TRAURIGER GEBURTSTAG
Anneli begann eine ambulante Therapie. Wir wussten, dass es auch Kliniken gibt, die diese Krankheit stationär behandeln. Doch in meinem Kopf sperrte sich alles gegen einen Klinikaufenthalt. Dort konnte man frühestens mit 14 Jahren hin. „Davon sind wir weit entfernt“, dachte ich. Annelis 14. Geburtstag war ein trauriger Tag: Sie war freudlos und depressiv und wog nur noch 34 Kilo. Der Arzt wollte sie in eine Klinik einweisen. Ich heulte, denn das wollte ich auf keinen Fall. Wir versuchten immer wieder, Anneli zum Essen zu bringen: mit Liebe und Zuneigung, mit Gesprächen und Gebeten, mit Strenge … Nichts half! Als sie nur noch 31 Kilo wog, musste sie ins Krankenhaus. Sie kam auf die Kinderonkologie. Ich konnte es kaum ertragen: Da sind kleine Kinder ohne Haare, die kämpfen tapfer ums Überleben, und meine Tochter isst nichts mehr! Ich weinte verzweifelt wie noch nie in meinem Leben. Ich verstand diese Krankheit nicht. „Iss doch endlich!“, dachte ich nur.

LANGE WOCHEN
Vom Krankenhaus kam Anneli direkt in eine Spezialklinik für Essgestörte. Dort konnte man sie etwas aufpäppeln und stabilisieren. Es war eine anstrengende Zeit für uns alle: Zu Hause kamen wir zu dritt zwar zurecht, aber Anneli fehlte uns sehr. An den Wochenenden mussten wir weit fahren, um sie zu besuchen. Und wir lebten mit der Angst, dass Anneli noch viele Jahre so leiden muss und vielleicht nie geheilt wird. Umso glücklicher waren wir, als sie nach 13 Wochen endlich nach Hause kam. Doch damit war die Geschichte nicht zu Ende. Wir bemühten uns sehr, alles zu tun, damit sie zu Hause wieder zurechtkam. Aber irgendetwas machten wir falsch: Innerhalb von sechs Wochen nahm sie fünf Kilo ab. Wir mussten sie wieder in eine Klinik bringen. Dort blieb sie für 16 lange Wochen. Die Magersucht ist wie leises Gift in unsere harmonische Familie getröpfelt und hat uns alle bis zur Erschöpfung gefordert. Unsere Ehe wurde stark geprüft. Wir hatten nur noch Vorwürfe und böse Worte füreinander. Unsere ältere Tochter hat sich in dieser Zeit zurückgezogen, sie war oft bei ihrem Freund und hielt sich – wie wir damals meinten – aus allem raus. Immer lebten wir zwischen Hoffen und Verzweifeln. Ständige Überlegungen quälten mich: Was mache ich falsch? Wieso trifft es uns? Es gab kein einschneidendes Erlebnis wie einen Umzug oder eine Trennung oder andere Auslöser. Deshalb klagte ich mich selbst an: Bin ich als Mutter an ihrer Erkrankung schuld?

GEMEINSAM HELFEN
Damit unsere Ehe nicht weiter leidet, sind wir irgendwann zur Eheberatung gegangen. Dort konnte man uns mit Paargesprächen nachhaltig helfen. Zusätzlich verbrachten wir eine Woche mit drei Paaren und den beiden Ehe-Therapeuten an der Ostsee. Diese intensive Ehe-Zeit hat uns gezeigt, dass wir zusammengehören und unserem Kind nur gemeinsam helfen können.Ein wichtiger Anker für mich waren Freundinnen, mit denen ich beten kann. Oft hatte ich keine Worte für Gott, nur pure Verzweiflung! Wenn ich aber wusste, die anderen beten für uns, hat mich das sehr getröstet. Auch meine Schwester ist mir in dieser harten Zeit zu einem Anker geworden. Während eines Gebets sah ich ein inneres Bild: Anneli lag fast tot auf einer Bahre. Doch dann kam Gott und hauchte ihr wieder seinen Odem, seinen göttlichen Atem ein, und Anneli öffnete ihre Augen. Ich habe mich an diesem Bild festgeklammert. Das war eine eindrückliche und intensive Verheißung. Ich vertraue darauf, dass dieses Bild von Gott kam und er mir damit versprochen hat, Anneli zu helfen.

KEIN ENDE DES TALS IN SICHT
In unserer Gemeinde behandelten wir einige Wochen lang den Psalm 23. Wir lasen dazu das gleichnamige Buch von Jörg Ahlbrecht. Als ich das Kapitel um den 4. Vers las – „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir“ – habe ich bitterlich geweint. Es war noch lange kein Ende des dunklen Tals in Sicht. Doch zu wissen und manchmal auch zu spüren, dass Gott neben mir geht und mich stützt, ist eine so tröstende Hoffnung, dass ich mich auch an diesem Bild festklammere. Außerdem habe ich mich über die Erkrankung informiert, habe Sachbücher und Erfahrungsberichte gelesen. Der Feind ist nicht so gefährlich, wenn man ihn kennt. Das hilft mir, zwischen Anneli und der Essstörung zu unterscheiden. Wenn sie uns wieder einmal belügt oder austrickst, weiß ich: Das ist nicht Anneli, sondern die Essstörung in ihr.

OFFENHEIT UND KLARHEIT
Ich musste lernen, alle Kontrolle über Anneli loszulassen. Ich muss vertrauen, dass die Therapeutin den richtigen Weg mit ihr geht, dass die Kliniken das Richtige tun, dass Anneli lernt, sich wieder „normal“ zu ernähren, dass sie von Gott gehalten und geliebt ist, dass ich als Mutter kaum noch Einfluss habe. Außerdem muss unsere Familie jetzt lernen, unangenehme Dinge anzusprechen und auszudiskutieren. Unser obers-tes Familiengebot ist nicht mehr Harmonie, sondern Offenheit und Klarheit. Seit ich weiß, dass diese Art der Essstörung hauptsächlich in konfliktscheuen, harmoniesüchtigen Familien vorkommt, hat das Wort Harmonie bei mir einen negativen Beigeschmack bekommen. Und eine weitere Erkenntnis möchte ich teilen: Es ist absolut sinnlos, nach dem Warum zu fragen. Diese Frage hat mich immer nur in Sackgassen und dunkle Räume geführt. Sie bringt überhaupt nichts, sie hilft nicht, sondern verbittert nur. Ich schaue lieber nach Veränderungen und stelle fest, dass ich weicher geworden bin, gnädiger und verständnisvoller für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Unser Miteinander in der Ehe ist aufmerksamer geworden, wir können wieder lachen und lassen uns nicht zu sehr von Annelis Launen anstecken. Und wir besprechen unsere Kritik aneinander nicht im Affekt, sondern in Ehegesprächen, im geschützten Rahmen, wenn der „Dampf“ abgelassen ist. Unser Blick ist nicht mehr nur noch auf Anneli gerichtet, sondern auch auf uns und unsere große Tochter. Inzwischen wissen wir, dass sie unglaublich unter der Situation gelitten und ihre Traurigkeit vor uns verborgen hat, um uns Eltern nicht noch mehr Sorgen zu machen. Jetzt ist Anneli 17 und seit vier Jahren erkrankt. Im Schnitt dauert diese Krankheit sechs bis sieben Jahre! Wir sind noch lange nicht durch, haben aber einen Weg gefunden, uns damit zu arrangieren. Wir lernen täglich weiter: Gott zu vertrauen, Anneli das Essen zuzutrauen, wieder Pläne zu machen, das Leben zu genießen.

Die Autorin möchte anonym bleiben.