Ein romantischer Abend. Symbolbild: unsplash / Jonathan borba

Zwischen Geborgenheit und Abenteuer

Was ist überhaupt aufregender Sex? Christa und Dr. med. Wilf Gasser machen Paaren Mut, diese Frage für sich zu klären. Denn nur wenn beide wissen, was sie suchen, haben sie auch die Chance, fündig zu werden.

Sex mag uns als eine körperliche Angelegenheit erscheinen, aber entscheidend ist das, was sich im Kopf abspielt. Erfahrungsgemäß reden Paare zu wenig darüber, was hier abgeht – obwohl schon das offene Gespräch über Sex in der Paarbeziehung erotische Spannung aufbauen könnte. Doch was wünsche ich mir eigentlich? Mancher Austausch scheitert schon daran, dass die Ehepartner das selbst nicht so genau wissen. Vielleicht wussten sie es einmal, aber die Beziehung hat sich verändert und das Leben findet unter anderen Bedingungen statt. Deshalb hier ein paar gedankliche Leitplanken, die helfen, den eigenen Wünschen und Sehnsüchten auf die Spur zu kommen.

DAS SEXUELLE VERLANGEN ZWISCHEN „HOME“ UND „ABENTEUER“

Das sexuelle Verlangen umfasst zwei fast widersprüchliche Pole. Auf der einen Seite suchen wir Vertrautheit, Verlässlichkeit, Sicherheit, Annahme und Bindung. Auf der anderen Seite wollen wir Aufregung, Kick, Gewagtes und Neues. Bei vielen Menschen liegt das sexuelle Verlangen eher auf der einen oder anderen Seite, oder es kippt im Verlauf der Zeit auf eine der beiden Seiten. Und sicher spielt in dieser Frage auch unser Geschlecht eine Rolle sowie Veränderungen, die sich mit zunehmendem Alter ergeben.

Wir Männer haben vielleicht testosteron-bedingt eher den Wunsch nach einem intensiven, raschen Erregungsaufbau und einem ausgeprägten Kick. Der Abenteuer-Pol liegt uns naturgemäß recht nahe. In unseren Träumen spielen oft auch sexuelle Spielarten wie Oralsex und diverse Stellungen eine Rolle, und bereits die Gedanken daran können Erregungsgefühle auslösen. Unser Verlangen ist stark auf den Orgasmus ausgerichtet. Eine sexuelle Begegnung ohne Höhepunkt ist für die meisten Männer undenkbar. Was aber keinesfalls heißt, dass der „Home“-Aspekt für uns nicht auch für eine langfristig erfüllende sexuelle Beziehung wichtig wäre.

Wir Frauen verbinden Sex gerne mit „Home“ – einem Ort, an dem wir uns wohl und sicher fühlen. Wir können es genießen, wenn die sexuelle Begegnung zu einer Wellness-Erfahrung wird. Vertrautheit, Zuwendung und Liebe öffnen uns für die Möglichkeit einer sexuellen Begegnung. Vielleicht sogar für die Möglichkeit von Abenteuer. Aber nicht selten sind unsere Männer irritiert, weil wir Frauen nicht mit gleicher Begeisterung Abenteuer-Ideen einbringen oder weil es für uns nicht immer so einfach ist, uns auf ihre Wünsche einzulassen.

SEX MAL ANDERS ODER GANZ VERTRAUT

In den Träumen von Abenteuern hat alles Platz, was auf dem Boden einer vertrauensvollen Beziehung entsteht, und unter Wahrung von Würde und Achtung des Gegenübers ausgelebt oder humorvoll auch als untaugliche Idee verworfen werden kann. Ein erotisches Gespräch zum Beispiel oder das gemeinsame spielerische Entdecken von Dingen, die bisher nicht zum Repertoire gehörten. Statt Sex immer zum Abschluss des Tages kurz vor Mitternacht, warum nicht mal zu ganz anderen Zeiten? Oder mal ein Ortswechsel vom Bett auf das Sofa oder auf den Küchentisch? Oder mal ein Schäferstündchen in der Natur?

„Home“ heißt dagegen: Wir pflegen Vertrautes, wir schaffen eine Atmosphäre, in der sich beide wohl und sicher fühlen. Wir geben dem Raum, was uns guttut und uns zueinander bringt.

Erotische Spannung braucht langfristig unbedingt beide Pole: Home und Abenteuer. Es muss nicht immer ein Gleichgewicht herrschen, aber wenn wir auf der einen oder anderen Seite ein andauerndes Übergewicht haben und das Thema immer auch mit realen oder vielleicht nur vermeintlichen Vorwürfen verbunden ist, führt dies meist bald zum Verlust des Interesses an sexuellen Begegnungen. Zumindest bei demjenigen Partner, dessen Bedürfnisse zu wenig Beachtung finden …

Deshalb unser Tipp: Sprecht als Paar über die Illustration unten. Zuerst über den großen Bogen, in welchen langfristig gelingende Sexualität eingebettet ist. Hier sind die Stichworte dazu:

Verbindlichkeit: Maximale Intimität braucht maximale Verbindlichkeit
Exklusivität/Treue: Was sind eure Vorstellungen und Maßstäbe?
Balance von Geben und Nehmen, Schenken und Empfangen
Wie geht es unserem „Wir-Gefühl“? Wie erlebe ich Verbundenheit in der Sexualität?
Lasst euch dann auf das Spannungsfeld von Home und Abenteuer ein. Dabei ist es hilfreich, wenn beide zunächst mal für sich überlegen: Welche Punkte in der Illustration sind mir besonders wichtig? Man kann die Stichwörter auch auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten.

Dass diese Auseinandersetzung mit euren Erwartungen und Enttäuschungen euch möglicherweise auch sehr persönlich in Frage stellt, ist völlig normal! Sie ist aber die Voraussetzung für eine wachsende Intimität.

DAS PROBLEM MIT DEM TRÄUMEN

Es ist toll, wenn ihr über eure Wünsche und Träume ins Gespräch kommt. Gleichzeitig möchten wir euch davor warnen, sie zum Nonplusultra zu machen. Träume sind schön und sehr oft die Triebfeder für menschliches Handeln und für großartige Leistungen. Der Mensch ist ein mit Vorstellungskraft und Fantasie begabtes Wesen, und dies kommt nirgends so zum Tragen wie in der Sexualität. Schwierig wird es allerdings, wenn eure Träume und Vorstellungen gewissermaßen zum einzigen Maßstab werden. Was ihr in der Realität erlebt, ist dann nie wirklich gut genug. Wenn ihr zum Beispiel den gemeinsamen Orgasmus als das ultimative Beispiel von gutem Sex betrachtet, seid ihr jedes Mal enttäuscht, wenn ihr es wieder nicht schafft, obwohl ihr eigentlich für so vieles dankbar sein könntet.

Beim Thema Sex träumen manche lieber von der unerreichbaren sprichwörtlichen Taube auf dem Dach, statt die weniger spektakuläre Realität zu genießen. Die Enttäuschung ist damit vorprogrammiert. Und daraus entsteht dann leicht eine Schuldzuweisung an den Partner oder die Partnerin. Man klagt an oder fühlt sich angeklagt. Beides ist ein Lustkiller!

GOTT ALS COACH?

Versucht euer Gespräch über Home und Abenteuer damit abzuschließen, dass ihr je einen Punkt für mögliches Wachstum definiert. Und falls ihr mit Jesus bekannt seid und das gemeinsame Gebet möglich ist, dann empfehlen wir euch analog zum christlichen Tischgebet ein regelmäßiges „Bett-Gebet“. In unseren schwierigen Lern-Jahren (wohl nicht ganz zufällig auch die Kleinkind-Jahre …) haben wir recht treu vor intimen Begegnungen gebetet und Gott als Coach in unser Schlafzimmer eingeladen. Zugegeben, es war gewöhnungsbedürftig, ihn zum Thema „aufregender Sex“ so persönlich ins Spiel zu bringen!

Ich (Wilf) erlebte es als befreiend, im Gebet um eine leidenschaftliche und eine die Herzen verbindende sexuelle Begegnung zu bitten. Ich empfand als Mann auch eine gewisse Furcht vor der egoistischen und gierigen Seite der Sexualität. Unser „Bett-Gebet“ hat mir geholfen, mich mit meiner männlichen Triebkraft und hormonbedingten Leidenschaft zu versöhnen.

WOHER DIE „AUFREGUNG“?

Wenn ihr nachhaltig aufregenden Sex sucht, spielt es eine Rolle, aus welcher Quelle sich eure Träume nähren. Generell können wir Menschen uns darauf konditionieren, Erregung durch Reize wie zum Beispiel pornografische Bilder, Fetische oder bestimmte Handlungen zu suchen. Diese Reize sind zwar wirksam und führen zumindest einseitig zu einer gewissen Erregung. Aber sie sind ohne jeglichen Bezug zu einer realen Person, beziehungsweise die andere Person ist austauschbar.

Die gute Nachricht ist, dass wir lernen können, unseren Träumen eine Ausrichtung auf einen anderen liebevollen Menschen zu geben. Wir können uns angewöhnen und können es einüben, unsere „sexuelle Aufregung“ aus einer realen Beziehung heraus zu suchen. Wir können lernen, uns ohne Lust und ohne jegliche Erregung auf eine sexuelle Begegnung einzulassen. Und müssen dann aber wissen – beziehungsweise müssen es vielleicht auch erst lernen –, wie wir erotische Brücken bauen und so Erregung aufbauen können. Eine kleine Übung kann dabei helfen (siehe Tipp).

Wir laden euch ein, miteinander im Gespräch zu bleiben und euch einander unvoreingenommen zu begegnen. Selbst wenn das manchmal nicht ganz einfach ist – langfristig könnt ihr nur gewinnen!

 

TIPP: NACKTHEITS-ÜBUNG

Eine kleine und beliebig wiederholbare Übung kann euch helfen, euch auf eine partnerschaftliche Sexualität auszurichten. Sie kann aber auch eine Einstiegshilfe sein, wenn ihr euch für eine sexuelle Begegnung entschieden habt, aber noch keine Spur von erotischen Gefühlen vorhanden ist. Diese unscheinbare und auf den ersten Blick wenig aufregende Übung kann sich wie ein kleiner Spatz in der Hand zur Taube wandeln. Probiert die Übung doch mal aus und sprecht darüber, wie es euch dabei ergeht. Und sollte euch die Übung fast zu einfach scheinen, probiert es trotzdem! Ihr könnt nur gewinnen.

1. Schritt: Nackt nebeneinander liegen: Was macht das mit mir?
Beide Partner ziehen sich im warmen Zimmer nackt aus und machen es sich nebeneinander bequem, ohne sich zu berühren. Nun schließt eure Augen und entspannt euch. Nehmt euch für diesen ersten Schritt mindestens 10 Minuten Zeit. Beide horchen in sich hinein. Was macht das mit mir? Wie fühle ich mich? Wie fühlt sich die eigene Nacktheit an? Fühle ich mich wohl in meiner Haut? Wie fühlt sich die Nacktheit des Partners, der Partnerin an? Welche Gefühle löst dies bei mir aus?

2. Schritt: Einander berühren
Legt Arme und/oder Beine über- oder ineinander, aber ohne, dass ihr euch aktiv streichelt oder stimuliert. Nehmt euch dafür wieder 5-10 Minuten Zeit. Was macht dies mit mir? Wie fühlt es sich an? Fühle ich mich wohl dabei?
Austausch: Was habe ich am meisten genossen? Was war schwierig?

 

Christa und Dr. med. Wilf Gasser sind seit 1983 verheiratet. Sie haben drei erwachsene Kinder und acht Enkel und wohnen in einer kleinen Gemeinschaft in der Nähe Berns. Sie arbeiten als Sexualtherapeuten und bieten Seminare für Paare an: www.wachsende-intimität.ch. Der Artikel basiert auf einem Kapitel aus ihrem Buch „Der Traum vom guten Sex – Druck und Freiheit in der sexuellen Begegnung“.