Oktopus-Sehnsucht
Ingrid Jope hätte manchmal gern zehn Arme.
Mamaaaa!“ – Unüberhörbar dringt der Ruf aus der Richtung des stillen Örtchens an mein Ohr. Unser Dreijähriger hat sein großes Geschäft fabriziert. Während ich abwische, fordert er mich (als späte Nachwirkung des Ohne-Windel-Trainings) auf: „Du kannst sagen: Ich bin stolz auf dich!“ Ich muss schmunzeln, und anerkennende Worte kommen ganz von selbst über meine Lippen. Die Drittklässlerin hat eine Frage bei den Mathehausaufgaben. Noch bevor ich die Antwort geben kann, klingelt das Telefon. Der Handwerker schafft es nicht rechtzeitig und fragt, ob er zwei Stunden später kommen kann. Zu diesem Zeitpunkt bin ich allerdings mit den Kindern beim Zahnarzt vorgemerkt. Das Essen auf dem Herd riecht verdächtig angebrannt. Es klingelt an der Haustür. Eine Nachbarin bringt das Paket, das sie heute Vormittag für uns angenommen hat. Aus dem Kinderzimmer höre ich frustriertes Heulen. Das fast fertiggestellte Bügelperlen-Herz ist auf den Boden gefallen. Die Perlen sind auf dem ganzen Fußboden verteilt. Manchmal wünsche ich mir, Gott hätte sich Mütter mit zehn Armen und zehn Händen ausgedacht. Die fehlenden acht könnten doch während der Schwangerschaft dazuwachsen. Mit dieser Oktopus-Ausstattung könnte man gleichzeitig im Suppentopf rühren, mit der Arztpraxis telefonieren, bei den Hausaufgaben assistieren, den umgekippten Saft aufwischen und Bügelperlen aufsammeln. Oder wahlweise das Baby trösten, mit dem Kindergartenkind puzzeln und nebenbei noch ein berufliches Meeting per Telefonkonferenz bewältigen und die Einträge im Kalender machen. Ja, warum eigentlich nicht? Er muss sich etwas dabei gedacht haben. Darin, dass Gott uns keine zehn Hände zugedacht hat, steckt die Botschaft: Er wollte keine Multitasking-fähige, ständig beschäftigte Alleskönner-Super-Mutti. Er schenkt uns Zeit und Kraft und Liebe – aber eben nur für 24 Stunden an sieben Tagen pro Woche. Er schenkt uns so viel Kraft und Nerven, wie man mit zwei Händen und einem Herzen aufbringen kann. Wir dürfen Grenzen haben. Wenn wir alles könnten, was wir wollten und was andere in Form von Bedürfnissen und Wünschen an uns herantragen – Hand aufs Herz –, dann würden wir noch mehr hetzen und uns noch mehr in den Tag packen. In unserer Begrenzung liegt die Chance, dass wir lernen, gute Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen, dass wir den Wald der Erwartungen ausforsten und im Stehenlassen von Lücken barmherzig werden mit uns selbst und anderen. Nebenbei buchstabieren unsere Kinder, was es heißt, zu warten, Verständnis zu haben, nicht alle Wünsche erfüllt zu bekommen – auch wenn das manchmal ein mühsamer Weg ist. Und daran, dass ihre Eltern keine Alles- gleichzeitig-super-Könner sind, lernen sie, gut mit ihren eigenen Gaben und Grenzen zu leben. Alles in allem bin ich doch froh, dass ich keine Oktopus- Mutter sein muss.
Ingrid Jope ist Theologin und Sozialpädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wetter/Ruhr. Weitere Mutmach-Texte für Mütter sind in ihrem neuen Buch zu finden: „Mit dem Papst nach Bullerbü. Von Mamastress und Maxiglück“ (Brunnen)
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