#stayathome: Alte Themen neu entdeckt

Täglich lese ich Nachrichten von Bekannten, Freunden und Fremden, die mir Ideen präsentieren, wie ich die Corona-Zeit optimal nutzen könne: renovieren, sortieren, Sport machen, lesen, Sprachen lernen … Und mein Inneres verkrampft sich.

Ich stelle mir schon die Gespräche nach der Krise vor: „Und? Wie hast du diese Auszeit genutzt?“ Ich: „Ich habe gearbeitet. Es waren volle Tage, irgendwie wie immer.“

Mein Gegenüber wird mich mustern und ungläubig nachfragen: „Aber irgendwas musst du doch getan haben. Ich habe die gesamte Garage aufgeräumt und meine Todo-Liste geleert. Ich habe Nähen gelernt und per Video Sauerteig angesetzt. Und du?“ Ich: „Ich habe gemacht, was ich immer tue. Ich habe täglich versucht, Menschen zu ermutigen!“

Ja, ich weiß, jede Krise ist eine Chance: Homeoffice bedeutet auch weniger Zeiten im Stau. Kurzarbeit bedeutet auch Zeit für Omas Garten. Ich freue mich für jeden, der aktiv an Dingen arbeiten kann, die sonst unerledigt geblieben sind.

Ich sehe für mich auch viele davon, oh ja. Aber mein Tag ist damit ausgefüllt, die Ängste anderer zu mildern, Ideen zu entwickeln und Worte zu finden, damit Nähe entsteht. Ich bin ein Kümmerer. Nachts liege ich wach und spüre mein Herz klopfen. Spüre: Jetzt ist viel los in Familien, bei Selbstständigen. Ich möchte so gern aktiv sein und etwas tun. Mein Haus öffnen und Waffel-Feste feiern …

Das ist meine sehr dringende Todo-Liste. Ich entlarve meinen inneren Antreiber. Was bin ich wert, wenn ich weniger erledige? Weniger sichtbar arbeite und weniger Rückmeldungen bekomme? Die alte „Wer bin ich?“-Frage lugt um die Ecke. Jetzt haben Fragen Raum, die mich erinnern: Es geht um mich. Ich stoße auf alte Bitterkeiten, die durch unliebsame Erfahrungen ausgelöst wurden. Und ich nehme Sehnsüchte und Hoffnungen wahr.

Ich erlebe nach den ersten Tagen der Krise neu an mir, dass ich die Berichterstattung im TV nicht gut verarbeiten kann. Ich lasse mir die Sachlage von meinen Jugendlichen zusammenfassen. Dafür habe ich erstaunlich viel Essbares im Haus, was zu leckeren Dingen werden kann. Ich vermisse es, dass viele Menschen um mich herum sind und erkenne, dass ich mich selbst langweilig finde. Eine Erkenntnis, die mich trifft und beschäftigt.

In allem zu erleben, dass meine nahe Familie sich ebenfalls selbst neu entdeckt und andere Bedürfnisse hat, ist nicht überraschend. Wir stellen uns einander neu vor und suchen Gemeinsamkeiten. So darf ein gestreamter Krimi am Morgen sein, wie auch die Teezeit am Nachmittag. Wir üben täglich neu, im Gespräch zu bleiben.

Werden wir uns das irgendwann auch fragen: Was hast du innerlich sortiert? Wo bist du über dich erstaunt, erschrocken oder begeistert gewesen? Wie ging es dir mit alten Themen, die auf einmal wieder auftauchten?

Ich gehe heute noch sehr motiviert an meine Küchenschränke und halte es aus, dass in mir noch weitere Themen auf Sortierung warten. Ja, diese Krise hat viele Facetten: alte Themen und neue Herzenserkenntnisse.

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

 

 

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