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„Ich will nicht ins Heim!“ – So meistern Sie Demenz in der Familie

Menschen mit Demenz zu pflegen, ist für Angehörige oft eine große Belastung. Expertin Susanne Maußner über Herausforderungen und Grenzen.

Das Zusammenleben mit einem Menschen, der an einer Demenz erkrankt ist, stellt die Angehörigen vor große Herausforderungen. Am Beginn der Erkrankung kann Organisatorisches noch gemeinsam besprochen werden. Merkhilfen können zum Einsatz kommen, und der oder die Betroffene kann bei alltäglichen Verrichtungen mithelfen. Im Fortschreiten der Erkrankung wird die Planung und Durchführung von Alltagstätigkeiten, wie Einkaufen oder Termine vereinbaren, immer schwieriger, bis die Organisation des Tagesablaufs vollständig von den Angehörigen übernommen werden muss. Zu einer großen Belastung wird es, wenn der oder die Betroffene auch bei grundlegenden Tätigkeiten wie der Körperpflege nicht mehr allein zurechtkommt, zum Essen und Trinken motiviert werden muss, die Toilette nicht mehr findet und kontinuierlich begleitet werden muss. Kommt eine Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus hinzu, ist auch für die betreuenden Angehörigen nicht mehr ausreichend Schlaf möglich, und es kommt schnell zu körperlicher Überforderung.

Auch die emotionale Belastung wird unterschätzt. An Demenz Erkrankte sind sich lange ihrer Verluste und Einschränkungen bewusst. Durch die Auseinandersetzung mit der Erkrankung, Angst vor Abhängigkeit, Scham oder Trauer kann es bei den Betroffenen zu Persönlichkeitsveränderungen kommen, die bis zum vollständigen sozialen Rückzug führen können. Diesen Prozess zu begleiten, ist für nahe Angehörige oftmals mit genauso tiefen Emotionen verbunden wie für die Betroffenen selbst. Auch sie erleben mit, wie der geliebte Mensch sich verändert und nach und nach das Wissen und die Erinnerung an alles, was im Leben erlernt und aufgebaut wurde, verliert.

Auflehnung und Abweisung

Im Fortschreiten der Erkrankung werden die eigenen Defizite nur noch teilweise wahrgenommen. Die Einsicht, auf Hilfe angewiesen zu sein, verliert sich. Es kann zu Auflehnung und Abweisung kommen. Gut gemeinte Ratschläge und Hinweise, wie zum Beispiel dem Wetter angepasste Kleidung zu wählen, können zu Streit führen, da die Betroffenen sich durch Ermahnungen in ihrer Eigenständigkeit eingeschränkt fühlen. In manchen Fällen kann es sogar zu körperlichem Abwehrverhalten kommen. Es ist für die Betreuenden schwer, solche Konfrontationen nicht persönlich zu nehmen.

Betroffene brauchen zu ihrem Wohlbefinden ein Gefühl der Sicherheit und der Wertschätzung in gewohnter Umgebung mit vertrauten Menschen. Das bietet in der Regel das Leben in der Familie. Um die Erkrankten lange Zeit zu Hause begleiten zu können, ist es notwendig, dass die Angehörigen sich bewusst machen: Die Begleitung von Demenzkranken ist nur zu bewältigen, wenn die betreuenden Familienangehörigen ihre Kräfte einteilen und auch für das eigene körperliche und seelische Wohlbefinden sorgen. Im Alltag der stets wachsenden Verantwortung und der Übernahme von Alltagstätigkeiten verlieren sie häufig ihre eigenen Bedürfnisse und Belastungsgrenzen aus den Augen. Hier eine Balance zu finden, ist für die Pflege und Betreuung von großer Wichtigkeit.

Freunde informieren

Wird man mit der Demenzerkrankung eines Angehörigen konfrontiert, ist es empfehlenswert, vorausschauend zu planen. Ein erster Schritt ist, sich regelmäßig Zeit zur Erholung zu nehmen und für Aktivitäten, die Freude bringen. Um sich dies zu ermöglichen, ist es nötig, sich Unterstützung zu organisieren, wenn der oder die Betroffene nicht mehr allein bleiben kann.

Für alle Beteiligten ist es gut, mit der Erkrankung offensiv umzugehen. Nachbarn, Freunde und auch der weitere Umkreis sollten über die Krankheit, den Umgang mit den Betroffenen und die Belastung für die Angehörigen informiert sein. So wird es einfacher, um Hilfe zu bitten oder Hilfe anzubieten. Hilfreich kann auch ein Austausch mit Menschen sein, die sich in derselben Situation befinden. An vielen Orten gibt es dazu Selbsthilfegruppen.

Ein weiterer Schritt ist, sich über die Krankheit zu informieren, um zu wissen, was auf die Familie zukommen kann und welche Hilfen in Anspruch genommen werden können. Es ist für alle Beteiligten gut, frühzeitig zu planen und gemeinsam zu besprechen, was im individuellen Fall sinnvoll ist. Wenn die Betreuung zur Belastung wird, fehlt den Angehörigen häufig die Kraft, sich um organisatorische Dinge zu kümmern.

Frühzeitig Pflegeheim suchen

Gibt es am Ort das Angebot der Nachbarschaftshilfe? Gibt es einen Pflegedienst, der häusliche Betreuung anbietet? Oder die Möglichkeit der Tagespflege? Welche Pflegeheime sind auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz eingerichtet? Der Gedanke an diesen Schritt wird meist weggeschoben. Es ist jedoch sinnvoll, frühzeitig im Kreis der Familie zu besprechen, was geschehen soll, wenn die Pflege und Begleitung nicht mehr zu bewältigen ist. In vielen Fällen wird dieser Schritt im Verlauf der Erkrankung nötig, um die pflegenden Angehörigen vor einer gesundheitsbelastenden Überforderung zu schützen und auch den Erkrankten vor den Konsequenzen dieser Überforderung.

Im Anfangsstadium kann dabei der oder die an Demenz Erkrankte miteinbezogen werden. In dieser Zeit sind die Betroffenen noch in der Lage, die Belastung der Pflege einzuschätzen und zu überlegen, welche Hilfen für sie in Frage kommen. Man kann gemeinsam verschiedene Angebote besuchen und sich bei passenden Einrichtungen auf die Warteliste setzen lassen. Häusliche Hilfen oder Tagespflegen, die schon im Anfangsstadium einer Demenz kennengelernt werden, werden später besser akzeptiert.

Fremde Personen führen zu Verunsicherung

Im Fortschreiten der Erkrankung fühlen die Betroffenen sich durch unbekannte Menschen, Orte und Situationen unsicher und verängstigt. Häufig lehnen sie Unbekanntes ab. Fremde Personen in der Wohnung werden nicht als Hilfe angenommen. Zum Besuch einer Tagespflege oder zum Umzug in ein Pflegeheim lassen sie sich kaum überreden. Die Überlastung ihrer Angehörigen können sie nicht mehr einschätzen. Sie reagieren mit Vorwürfen auf die Suche nach Unterstützung. Das löst vor allem bei Ehepartnern ein schlechtes Gewissen aus und lässt sie lange versuchen, allein zurechtzukommen.

Erkrankten, die allein leben, kann eine Tagespflege oder ein Umzug ins Pflegeheim in positivem Licht aufgezeigt werden. Sie leiden unter dem Alltag, der nicht mehr bewältigt werden kann, und unter dem vielen Alleinsein. Ihnen kann die vollständige Versorgung im Pflegeheim vor Augen geführt werden sowie der tägliche Kontakt mit Menschen und das Beschäftigungsprogramm. Manchmal helfen diese Bilder, dem Umzug zuzustimmen. Wenn jedoch im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz die Defizite im Alltag nicht mehr realistisch eingeschätzt werden, finden Hinweise auf Hilfe und Kontakte oft keine Zustimmung.

Besondere Herausforderung: Partnerschaft mit Demenz

Bei Ehepaaren ist die Situation schwieriger. Die oder der Betroffene klammert sich an die Partnerin oder den Partner, die bzw. der Halt und Orientierung bietet. Ein Umzug ins Heim wird als Abschieben empfunden in einer Situation, in der dieser Mensch besonders auf Nähe und Unterstützung angewiesen ist. Und vielen ist nach jahrelanger Gemeinschaft das Versprechen, in guten wie in schlechten Tagen füreinander da zu sein, ein ernstgenommener Vorsatz.

Aber auch als betreuende Person hat man ein Recht auf Wertschätzung und Fürsorge. Da Demenzkranken dies nicht mehr möglich ist, müssen Betreuende sich in Selbstfürsorge üben und sich auch bewusst machen, dass Erkrankte der Selbstaufgabe und Überforderung ihres Gegenübers wohl nicht zustimmen würden.

Unterstützen als Kind

Wenn erwachsene Kinder die Demenzerkrankung eines Elternteiles erleben, ist es wichtig, den pflegenden Elternteil in der Betreuung zu unterstützen und die emotionale und körperliche Belastung sensibel zu beobachten. Es kann nötig werden, auf eine beobachtete Überlastung, gereizte Stimmung oder Ähnliches aufmerksam zu machen und behutsam auf mögliche Hilfen hinzuweisen. Hat der betreuende Elternteil den schweren Entschluss gefasst, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen oder gar den Umzug in ein Pflegeheim zu vollziehen, sollten Kinder dies nicht zum Vorwurf machen, sondern die Entscheidung unterstützen und mittragen. Ein solcher Entschluss wird in der Regel nur schweren Herzens gefasst.

Im Rahmen meiner Arbeit in einer Akutklinik erlebe ich immer wieder, dass pflegende Angehörige weit über ihre Kräfte hinausgehen, bis sie selbst mit einem Zusammenbruch in die Klinik kommen. Für Demenzerkrankte muss dann akut ein Pflegeheim gefunden werden, was selten zufriedenstellend ist.

Umzug trotz Widerstand

Ist bei Pflegenden die Belastungsgrenze überschritten, beobachte ich oft eine gereizte, ungeduldige Stimmung der Angehörigen und die verstörten Reaktionen der Betroffenen. In manchen Fällen kommt es sogar zu körperlichen Übergriffen gegenüber den Erkrankten. In der Regel ist das begleitet von einem zutiefst schlechten Gewissen der Angehörigen. Sie wissen, dass ihr Verhalten nicht angemessen ist. In solchen Fällen kommt es beiden Parteien zugute, den Umzug ins Heim auch gegen anfänglichen Widerstand umzusetzen.

Auch in meiner Familie habe ich mehrfach erlebt, dass der Umzug in ein Pflegeheim notwendig wurde. Meine Großmutter, die nicht dement, aber blind und pflegebedürftig war, hatte sich immer gegen einen Umzug ins Heim gewehrt. In ihren letzten Lebensjahren, die sie dann doch im Heim verbrachte, hat sie immer wieder erzählt, wie schön es sei, sich um nichts mehr kümmern zu müssen. Vor allem den Kontakt mit anderen hat sie sehr genossen. Dieselbe Erfahrung konnten wir bei der an Demenz erkrankten Mutter meines Lebenspartners machen. Es gab immer wieder Dinge, über die sie sich beschwert hat. Aber wir konnten beobachten, wie sie Ängste verlor, die sie allein in ihrer Wohnung hatte. Sie genoss das Umsorgtwerden und die ständige Ansprache – und vor allem den täglichen Kuchen zum Mittagskaffee.

Das Pflegeheim kann Erlösung sein

Weitaus schwerer war der Umzug meines Vaters auf eine geschlossene Demenzstation. Sehr lange hat sich meine Mutter zu Hause um ihn gekümmert. Die Unterstützung von uns Kindern, den Enkeln und Freunden war zwar eine Entlastung. Sie reichte aber nicht mehr aus, als mein Vater nicht mehr sprechen konnte und voll versorgt werden musste, aber körperlich so agil war, dass er keine Minute alleingelassen werden konnte. In der offenen Tagespflege musste ständig auf ihn geachtet werden, da er jede Gelegenheit zur Flucht nutzte.

Meine Mutter hat sich lange gegen den Umzug gewehrt. Sie wollte sich nicht auf diese Weise von ihrem Mann trennen. Aber es war spürbar, dass ihre Kraft und Geduld am Ende waren. Als deutlich wurde, dass ihre Gesundheit massiv angegriffen war, gab es keinen anderen Weg mehr. Die ersten beiden Wochen im Heim waren für alle Beteiligten schwer, auch für das Pflegepersonal. Dann hat mein Vater sich langsam eingelebt. Er hat in den zwei Jahren dort an den meisten Tagen einen zufriedenen Eindruck gemacht.

Mehr Geduld und Liebe möglich

Ich konnte die Erfahrung machen, dass das Vergessen des früheren Lebens in der letzten Phase der Demenz auch positive Seiten haben kann. Mein Vater schien das Heim als sein Zuhause anzusehen. Auch bei Spaziergängen außerhalb des Heimes war das Zurückkehren in seine Gruppe für ihn etwas spürbar Vertrautes. Zu vielen Pflegekräften hat er Vertrauen gefasst, hat sie als Kontaktpersonen angenommen. Meine Mutter hat ihn täglich besucht. Sie konnte ihm wieder mit Geduld und sehr liebevoll begegnen. Und er hat sich sichtbar gefreut, wenn sie zu Besuch kam. So kann manchmal der Besuch einer Tagespflege oder ein Umzug ins Pflegeheim von allen Beteiligten angenommen werden und das gestörte Miteinander in einer überforderten Situation wieder entspannen.

Susanne Maußner ist Krankenschwester, Aromapraktikerin nach AiDA und Demenzbeauftragte an einer Klinik in Aalen. Sie hat zwei erwachsene Söhne.

Buchtipp:
Susan Scheibe: Ratgeber Demenz. Praktische Hilfen für Angehörige (Verbraucherzentrale)

Demenz: „Wo ist Thomas?“ – Immer wieder fragt er Sybille nach seinem verstorbenen Sohn

Sybille Funk* begleitet ihren dementen Schwiegervater beim Sterben. Und muss ihm dabei immer wieder die Nachricht überbringen, dass sein Sohn tot ist.

„Wo bleibt Thomas? Warum kommt er nicht?“ – Die Worte klingen in mir nach, als ich das Pflegezimmer kurz verlasse und eine nie gekannte Schwere bleibt zurück.

Thomas, nach dem mein sterbender, demenzkranker Schwiegervater fragt, ist sein Sohn – mein Mann. Doch Thomas ist schon viele Jahre tot. Wieder und wieder werde ich ihm dies neu erklären müssen.

Die Enkel erkennt er bis zuletzt

Die Demenzerkrankung hat meinen Schwiegervater verändert. Was sich erst schleichend abgezeichnet hat, wurde nach und nach zu Gewissheit, bis die Betreuung in einem Pflegeheim unausweichlich war.

In den Jahren im Pflegeheim erkannte er mich immer, ebenso seine Enkelkinder. Obwohl mein Sohn im Ausland lebt und nur einmal im Jahr in Präsenz bei ihm vorbeischauen konnte, hielten wir die Erinnerung an ihn mit kurzen Videogrüßen wach. Die Freude war jedes Mal groß und zugleich war es herzbewegend, wenn mein Schwiegervater ihm lächelnd zuwinkte.

Fotoalben als Erinnerung

Mit der Erinnerung an kürzliche Besuche von Bekannten war es manchmal schwieriger. Doch spielerisch konnten wir es mit einer Fragerunde eingrenzen und freuten uns gemeinsam, wenn wir die Personen herausgefunden hatten. Meine Tochter besuchte ihren Opa gern, wenn sie vom Studienort zu Besuch war, blätterte mit ihm manchmal in Fotoalben und erinnerte sich mit ihm an schöne Ereignisse. Seit dem frühen Tod ihres Papas hatte sie eine besondere Beziehung zu ihrem Opa.

Immer wieder Trauer

Als ich nach der wochenlagen ersten Corona-Lockdown-Phase mit Maske bei ihm ins Zimmer trat, ging ein Lächeln über sein Gesicht und er begrüßte mich mit Namen. Die nächste Frage katapultierte mich schmerzhaft in die Vergangenheit zurück: „Wann kommt Thomas?“ Mit Tränen in den Augen versuchte ich, ihm behutsam zu vermitteln, dass sein Sohn bereits vor vielen Jahren gestorben ist. Es tat so weh, seinen erneuten Schmerz zu erleben und mich mit ihm noch einmal auf diesen Trauerweg zu begeben.

Der letzte Wunsch bleibt unerfüllt

Und nun stehe ich hier vor dem Pflegezimmer und kann dem Sterbenden diesen einen letzten Wunsch nicht erfüllen. „Wo bleibt Thomas?“ Diese Frage stellt er immer wieder. Aus seiner Sicht kann ich ihn so gut verstehen – können wir doch selbst seinen Enkel per Facetime zum Verabschieden ins Zimmer holen, weil ein Heimflug in Corona-Zeiten nicht möglich ist. Wieso also nicht seinen eigenen Sohn?

Ein tiefer Schmerz begleitet meine Tochter und mich in den nächsten Tagen am Bett des Opas und Schwiegervaters. Wieder und wieder gehen wir mit ihm erneut in die Anfangsphase der Trauer um den früh verstorbenen Sohn. Wir trauern noch einmal neu gemeinsam um den geliebten Menschen – bis zum Ende. Als mein Schwiegervater nach vier Tagen für immer ein einschläft, hoffe ich, dass er seinen Frieden bei Gott gefunden hat und seinen Sohn wiedersehen darf.

Ich würde es wieder tun

Manche fragten mich, warum wir nicht einfach gesagt hätten, Thomas würde noch kommen. Doch das wäre nach meiner Einschätzung nicht fair gewesen. Auch ein dementer Mensch hat das Recht, dass wir ehrlich zu ihm sind. Wichtig ist, ihn nicht allein zu lassen, sondern ihm immer wieder zu vermitteln, dass wir das gemeinsam bewältigen, dass wir für ihn da sind.

Ob ich es noch einmal so machen würde? Ja!

*Der Name wurde von der Redaktion geändert. Die Autorin ist der Redaktion bekannt.

Sex im Alter: So kriegt Ihr Liebesleben in der Menopause wieder Schwung

Schwindet mit der Jugend auch die Erotik? Das muss nicht sein. Sexualtherapeutin Veronika Schmidt erklärt, wie die Lust sich mit dem Alter verändert.

Für viele Paare ist die Zeit der weiblichen Meno- und der männlichen Andropause ein Aufbruch in eine unbeschwerte sexuelle Lebensphase: Die Kinder sind ausgeflogen, es besteht keine Sorge, schwanger zu werden, und man hat zeitliche Freiräume für neue Experimente. Paare in der zweiten Lebensphase haben manchmal so viel Sex, wie schon seit Jahren nicht mehr, und genießen ihn sehr.

Wer dagegen froh ist, mit dem Einsetzen der Menopause einen Grund zu finden, die unbefriedigend erlebte Paarsexualität einzustellen, der wird es vermutlich tun. Bei Frauen ist der Grund oft die fehlende Lust oder Schmerzen beim Sex, beim Mann die Angst vor Erektionsstörungen.

Was ändert sich in den Wechseljahren?

Unbestreitbar halten die biologischen Umstellungen der Wechseljahre ein paar körperliche, psychische und sexuelle Herausforderungen bereit. Verschiedenste Veränderungsprozesse finden ab der Lebensmitte statt. Spätestens mit 45 Jahren ist der hormonelle Rückbau im Körper bei beiden Geschlechtern spürbar. Bei den Frauen fallen die Östrogenwerte, bei den Männern etwas weniger drastisch das Testosteron. Frauen müssen sich mit dem veränderten Aussehen und dem Ende der Fruchtbarkeit abfinden, Männer damit, nicht mehr so leistungsfähig zu sein wie zuvor.

Was kann man gegen Schmerzen tun?

Die Abnahme des Östrogens bei der Frau kann zum Problem werden. Die Vagina ist dadurch weniger elastisch, die Scheidenwand wird dünner. Auch lange Sexpausen lassen die Vagina enger werden, weil sie nicht mehr regelmäßig durchblutet wird. Es kann zu kleinen Rissen und damit zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr kommen. Ist das der Fall, ist Selbstliebe aus gesundheitlichen Gründen angezeigt, um mit sich selbst wieder Sicherheit zu gewinnen. Denn die Fähigkeit, sexuell erregt zu sein und lustvoll zu genießen und einen Höhepunkt zu erleben, bleibt bei Frauen auch nach der Menopause unverändert. Ob allein oder zusammen mit dem Partner, die Erregungsphase sollte ausgiebig, lustvoll und lang sein. Frau und Mann sollten sich Zeit nehmen, sich neu erkunden, sich streicheln, experimentieren, was sich erregend und gut anfühlt. Denn sich selbst gut fühlen ist eine wichtige Voraussetzung für Zärtlichkeit und Sex mit dem Partner.

Diese Salben können helfen

Erst durch genügend Erregung und durch die dadurch verstärkte Durchblutung sondern die Vaginawände genügend Flüssigkeit ab. Sollte dieser Feuchtigkeitsfilm nicht mehr ausreichend sein und damit die Penetration unangenehm werden, helfen spezielle Gleitmittel für die Bedürfnisse der empfindlichen Vagina (zum Beispiel „Pjur Woman softer formula“). Auch regelmäßige Pflege des weiblichen Geschlechts, außen und innen, wird in und nach der Menopause wichtig. Die reife Haut will nicht nur im Gesicht besonders gut gepflegt sein. Es gibt unzählige Vaginal-Pflegemittel, auch in Form von Ovulas. Manchmal braucht es auch eine von der Gynäkologin verschriebene Hormonsalbe. Doch für die Frau ist es genauso wichtig, sich in dieser Lebensphase ausreichend Zeit für Bewegung, Ernährung und ihre eigenen Interessen zu nehmen.

Wie verändert sich der Penis im Alter?

Bei Männern verändert sich der Hormonhaushalt ebenfalls, doch viel langsamer. Die Libido kann abnehmen. Erektionen entwickeln sich langsamer, es braucht mehr Reize und Stimulation dazu. Die Sensibilität des Penis nimmt im Alter ab, er verliert an Elastizität, wird etwas kürzer, verliert ein wenig an Umfang. Dabei handelt es sich um normale altersbedingte Umbauprozesse: der Penis verliert Muskelzellen und gewinnt an Bindegewebe.

Störungen können auftreten, die entweder hormonell bedingt sind oder aufgrund von Durchblutungsstörungen zutage treten. Ursachen können aber auch Krankheit, Medikamente und Versagensängste sein. Auch für den Penis gibt es pflegende Produkte. Seinen Penis täglich liebevoll zu umsorgen, stärkt den wertschätzenden Bezug zu ihm und die Akzeptanz des Älterwerdens.

Der Orgasmus ist ein Jungbrunnen

Frauen, die regelmäßig Paar- oder Solosex praktizieren, werden viel weniger mit Scheidentrockenheit zu kämpfen haben. Durch die Kontraktionen im Orgasmus wird zudem der Beckenboden in Bewegung gehalten, was Inkontinenz entgegenwirkt. Das gilt auch für den Mann und seinen Beckenboden. Ebenso profitieren der Penis und seine Schwellkörper, wenn sie regelmäßig anschwellen können, wenn regelmäßig Erektionen stattfinden und die Erregung entladen werden kann in einer Ejakulation. Die ist nicht nur für die Schwellkörper gut, sondern erwiesenermaßen auch günstig als Gesundheitsvorsorge der Prostata. Der Orgasmus als solches ist zudem mit seinem ausgeschütteten Hormoncocktail ein eigentlicher Jungbrunnen und bietet dermaßen viele gesundheitliche Vorteile, dass man nicht darauf verzichten sollte.

Trotz biologischer Veränderungen können wir in der späteren Lebensphase lustvollen, befriedigenden Sex erleben. Vorausgesetzt, es gelingt uns, uns die gemeinsame Sexualität in erweiterten Dimensionen vorzustellen. Frauen und Männer mit einem erfüllten Sexleben werden viel weniger damit zu kämpfen haben, dass sich ihr Körper verändert. Sie werden ihr Selbstbewusstsein und das gute Selbstgefühl behalten oder sogar entwickeln können.

Beim Sex kommt es plötzlich auf etwas anderes an

Junger Sex ist meist schnellerer Sex und mehr auf die Optik festgelegt, späterer Sex eher langsamer und auf die Empfindung gerichtet. Leidenschaftlich und genussvoll können beide sein, denn das hängt von den eigenen erotischen und sexuellen Fähigkeiten ab, besonders von der Wahrnehmungsfähigkeit. Wer in der sexuellen Anziehung nur auf jung und straff steht, hat spätestens jetzt ein erotisches Problem, hat es verpasst, in sinnliche Reize zu investieren. Denn die Haut fühlt sich in jedem Alter gut an, die Vagina immer noch erregend und ein Penis ebenso. Wer in die Wahrnehmung statt in die Optik investiert, für den bleibt das Gegenüber und der Sex interessant. Definieren wir uns in unserem Leben jedoch über Attraktivität und Leistung, werden wir das Älterwerden als Verlust sehen und damit hadern.

In einer kanadischen Studie wurden Paare mit über 35 Jahren Beziehungsdauer gefragt, was für sie guter Sex ist. Für sie treten Erektion und Orgasmus in den Hintergrund, während Intimität, Aufrichtigkeit und Sich-verbunden-Fühlen zur Hauptsache werden.

Wie funktioniert Sex im Alter?

Der Slow-Sex ist für langjährige Paare attraktiver. Zusammenliegen, genau wahrnehmen, die Sinne öffnen, das macht es aus. Je langsamer wir sind, umso mehr können wir wahrnehmen. Je zarter wir sind, umso feiner können wir unsere Empfindungen auseinanderhalten und unser Erleben vertiefen. Gleichzeitig sollten wir einander ehrlich mitteilen, was uns hemmt und hindert und einander fragen: Was stimmt für dich heute, was brauchst du? Denn zufriedene Paare haben gelernt, dass der andere nicht die eigenen Wünsche erfüllen muss.

In dieser Lebensphase sollten wir den Weg zum Höhepunkt ebenso sehr genießen wie den Orgasmus selbst. Das ermöglicht ein Genießen der dadurch entstehenden Gefühle von Zärtlichkeit und Intimität. Stiller Sex ist ein langsames Sich-ineinander-Bewegen und Sich-Räkeln, weniger penetrieren als vielmehr ein Streicheln der Vagina von innen und dabei von ihr gestreichelt werden.

Neue Möglichkeiten

Neben der Penetration können auch ganz andere Sachen beim Sex viel Spaß machen. Es stehen neben dem Penis noch viele weitere „Werkzeuge“ zur Lusterfüllung zur Verfügung. Zunge, Lippen, Händen und Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Es gibt keine speziellen Sextechniken für das Alter. Es braucht nicht mehr und nicht weniger als das Wissen über die Empfindungen, die Wahrnehmung und die Langsamkeit. Entscheidend ist, dass wir über die Jahrzehnte die Gewohnheit am Leben halten, uns körperlich zu begegnen. Die Sexpraktiken, die in meinem Buch „Alltagslust“ beschrieben sind, führen geradewegs in diese Form des stilleren Sex.

Körperliche Veränderungen haben auch ihr Gutes. Bei Frauen tritt mehr das Testosteron in den Vordergrund, weshalb sie „kantiger“ auftreten und mehr zu ihren Interessen stehen. Bei den Männern bewirkt der Testosteronabfall, dass ihre emotionale und soziale Seite mehr zum Zug kommt. Das Älterwerden bietet völlig neue Chancen und Gewinne, gerade für Frauen. Nun kann man sich fragen: Welche Träume, Ambitionen und Möglichkeiten habe ich noch? Jetzt muss ich nicht mehr allen gefallen wollen. Man kann es wagen, sich zu exponieren, weil man „nichts mehr zu verlieren hat“.

Veronika Schmidt arbeitet als Paar- und Familienberaterin und Sexualtherapeutin in eigener Praxis in Schaffhausen am Rhein. Sie bloggt unter liebesbegehren.ch

War’s das schon?

In der Midlife-Krise drängen wichtige Lebensthemen an die Oberfläche. Was hilft Paaren, damit klarzukommen? Wie kommen sie gut durch die Krise? Von Michael Hübner

Wolf Biermann beschrieb die Midlife-Krise schon 1977 in dem Lied „Das kann doch nicht alles gewesen sein“. War’s das wirklich schon?, fragt sich der Dichter. „Das bisschen Sonntag und Kinderschreien“? „Die Überstunden, das bisschen Kies, und abends in der Glotze das Paradies“? Müsste nicht eigentlich noch etwas Entscheidendes kommen oder wurde es bereits verpasst?

Midlife-Krise ist nachgewiesen

Zuerst wurde die Midlife-Krise belächelt. Mittlerweile ist sie allerdings wissenschaftlich belegt. Sie ist weder eine Krankheit noch Einbildung. Weder ist man „unmöglich“, noch kann man sich „einfach zusammenreißen“. Sie kann jeden in der sogenannten Lebensmitte treffen, also zwischen 45 und 55. Manche beziffern ihren möglichen Beginn sogar schon auf Mitte 30. Den einen treffen die typischen Gedanken dieser Krise wie ein plötzlicher Schock. Andere beschleicht langsam ein nagender Zwiespalt: Weiter so? Oder: Soll das schon alles gewesen sein?

Schlafstörungen, sexuelle Unlust, …

Weil wichtige Lebensfragen jahrelang verdrängt wurden, können sie mit Macht dann plötzlich und unerwartet aufbrechen. Sowohl Männer als auch Frauen sind betroffen und die Krise läuft bei Paaren eben nicht synchron. Hormone auch im männlichen Körper flachen langsam ab. Das kann sexuelle Unlust und Erektionsstörungen zur Folge haben. Aber unsere Hormone beeinflussen eben auch unser Fühlen, Streben und Verhalten. Männer und Frauen sind plötzlich sehr reizbar, leiden unter Schlafstörungen, fühlen sich abgeschlagen und müde.

Torschlusspanik macht sich breit

Manche Ehepartner stürzen sich in dramatische Abenteuer, getrieben von Minderwertigkeitsgefühlen. Torschlusspanik macht sich breit. Man will noch einmal alles haben und erleben, worauf man bisher verzichten musste: das heiß ersehnte Cabrio, die große Reise, sexuelle Abenteuer. Plötzlich zieht ein Familienvater in das Haus seiner Nachbarin, eine Frau verliebt sich in den Gruppenleiter oder in den Chef …

Leben aneinander vorbei

Wieder andere wechseln überstürzt den Job, wollen im Ausland das große Geld machen oder bestellen einen Termin beim Schönheitschirurgen. Und das Erschreckende: Dies alles geschieht nicht selten am Partner vorbei. „Ich habe plötzlich einen ganz anderen Menschen vor mir!“, sagen mir Eheleute in der Beratung. „Er spricht anders“, „Sie kleidet sich anders, macht alles anders“. Unerkannt bleibt, dass beide schon lange aneinander vorbei lebten. Sein Einfluss auf das Verhalten des anderen ist jetzt gleich Null. Der andere scheint nicht mehr erreichbar. Deutlich wird: Auf der Suche nach Erfüllung soll alles kompromisslos und schnell gehen.

Wie kommt es, dass es manchen Ehen gelingt, sich durch die Stürme der Midlife-Krise hindurch in ruhigere Gewässer zu retten, während andere daran zerbrechen? Fünf entscheidende Eckpunkte sollen dazu genannt werden. Ich möchte sie an dieser Stelle als lange hilfreiche Erfahrung aus der Eheberatung weitergeben:

1. Machen Sie sich die biologischen Zusammenhänge bewusst.

Die Midlife-Krise hat zunächst mit unseren körperlichen Abläufen zu tun. Panik um die zerrinnende Zeit, das tiefe Bewusstsein um die Unumkehrbarkeit der Vergangenheit fordert uns jetzt, die Verantwortung für diese Lebensphase, diese Krise zu übernehmen und die eigene Einstellung, nicht die des anderen, zu überdenken.

2. Vermeiden Sie Machtkämpfe!

Nichts führt so sehr in die Sackgasse jeder Beziehung wie Machtkämpfe. Woran sind Machtkämpfe zu erkennen? Es geht bei ihnen um Sieger oder Verlierer, richtig oder falsch, besser oder schlechter, oben oder unten. Das Denken kreist dabei darum, den anderen von der eigenen Richtigkeit und dessen Unrichtigkeit zu überzeugen. Man will ihn auf diesem Weg um jeden Preis verändern. Diese Haltung führt meist ins Gegeneinander, nicht ins Miteinander. Es entsteht ein „Ehekrieg“. Aus ihm auszusteigen, heißt, zu deeskalieren, „den Anker zu werfen“, dem anderen mitunter, wo es irgend geht, mit Nachdruck auch recht zu geben. Vor allem aber geht, es darum, dass jeder von sich selbst redet, von seinen eigenen Überzeugungen, seinem Empfinden und Erleben, seinen Gefühlen und seinen Wünschen, ohne sich über den anderen zu stellen oder ihn verändern zu wollen.

Erst nur Mauern

An dieser Stelle ein Blick in unsere Ehe: 2010 erzählte mir meine Frau von einer Idee. Sie würde gerne mit mir zusammen ein Sabbatical nehmen und ins Ausland gehen. Wenn ich nicht mitwollte, würde sie auch allein gehen. Fassungslos sah ich zunächst nur Unmöglichkeiten: Wie sollten wir das ohne schwere finanzielle Verluste meistern? Das Haus musste weiter abgezahlt, die Rente eingezahlt, der Arbeitgeber überzeugt, die Arbeit verteilt, den Mitarbeitern diese Planung klargemacht werden. Nein, nein, nein.

Plötzlich Möglichkeiten

So etwa ging es mir, bis ich über die Sache betete. Langsam gelang es mir, nicht mehr zu „mauern“. Lagen darin nicht auch Chancen? Jetzt konnte ich ihr Fragen stellen: „Warum möchtest du das gerne machen? Wie hast du dir das genau vorgestellt? Was bedeutet das für uns beide? Wie können wir das zusammen gestalten?“ Und schließlich, Stück für Stück, öffnete Gott, fast wundersam, alle Wege in diesem Gestrüpp der Undenkbarkeiten. Möglichkeiten in Kenia eröffneten sich. Rückblickend entstand gerade daraus für viele ein großer Segen bis heute, zum Beispiel unsere Hilfsorganisation „TS-Care“ für notleidende Familien in den Slums von Nairobi, und unser gerade erschienenes Ehebuch („Der Kick für die Partnerschaft“).

3. Wer jetzt überlegt handelt, wird es später nicht bereuen.

Wie immer kommt es nicht auf die Tatsachen an, die wir erleben, sondern darauf, wie wir mit diesen Tatsachen verantwortlich umgehen (nach Epiktet, Handbüchlein der Moral, S. 11). Paare können sich jetzt durch Worte, Verhalten, Rückzug oder Trennungsgedanken gegenseitig zutiefst verletzen. Eine „Aufbruchsstimmung“ muss allerdings nicht zur Katastrophe werden. Wir können diese Zeit als Herausforderung erleben. Wir können neue Wege einschlagen. Sie „kann als zweiter Frühling empfunden werden, als willkommener Neustart, als Drücken des ‚Reset‘-Knopfs für das eigene Leben“, so Redakteurin Kristina Kreisel bei FOCUS Online. Durch solche Krisen können Paarbeziehungen eben auch ganz neu reifen.

Jetzt geht es darum, beim anderen um eine gemeinsame Horizonterweiterung, um Veränderungen im Kleinen zu werben. Manche Paare suchen ein neues verbindendes Hobby oder machen gemeinsam Sport, gehen miteinander tanzen oder planen interessante Reisen.

Über sexuelle Vorstellungen reden

Ungesunde Umstände und Angewohnheiten können und sollten jetzt geändert werden. Vielleicht geht es auch darum, sexuelle Vorstellungen zu besprechen und in der Ehe auszuleben. Beginnen Sie die gemeinsamen Umgestaltungen im Kleinen und durchbrechen Sie eingefahrene Routinen wieder mit mehr Abenteuerlust. Reden Sie zusammen darüber, wie Ihr Leben aussehen könnte, wenn die nächste Lebensphase in 5, 10 oder 20 Jahren beginnt.

Auch gute Beziehungen und Freundschaften sind für jedes Paar elementar. Ein Paar, das sich nicht isoliert, sondern gut eingebettet weiß in eine Gemeinschaft, lebt gesund. Ich habe es oft erlebt, dass Paare es geschafft haben, gerade durch solch eine Krise zu einer gesunden, guten Änderung und Erneuerung ihrer Beziehung zu kommen.

4. Liebe ist eine Entscheidung!

Kämpfen Sie immer um das gemeinsame Wir! Mag sein, dass auch in Ihrer Ehe die „Schmetterlinge im Bauch“, Verliebtheitsgefühle und Romantik auf der Strecke geblieben sind. Auf Grundlage einer immer wieder neuen Entscheidung füreinander können Sie dennoch immer wieder entstehen.

5. Die beste Prophylaxe: Rituale

Wenn Sie längst vor der Krise hohen Wert auf Beziehungsriten gelegt haben, werden Sie langfristig positive Folgen ernten. Nehmen Sie sich regelmäßig Zeit für eine gemeinsame Tasse Kaffee. Auch der feste Termin für ein wöchentliches, etwa halbstündiges Ehe-Meeting unter dem Vorzeichen: „Wir wollen unser Projekt Ehe miteinander zum Ziel führen“, ist vielen gestressten Paaren zur Hilfe geworden. Impulse für solche Gespräche haben wir in unserem Buch zusammengestellt. Planen Sie ein jährliches Wochenende zu zweit, den Besuch eines Eheseminars oder -vortrags und natürlich regelmäßige gegenseitige Überraschungen und Freuden.

Und: Gehen Sie immer den ersten Schritt auf den anderen zu! Zeigen Sie einander Ihre Liebe im Alltag und strahlen Sie den anderen öfter mal wieder an, wenn er den Raum betritt.

Dr. (UNISA) Michael Hübner ist verheiratet mit Utina. Die beiden haben fünf erwachsene Kinder. Er ist Leiter der Beratungsstelle Therapeutische Seelsorge, Neuendettelsau.

Von Opa lernen …

… möchte Sandra Geissler. Denn wie ihr Schwiegervater von seinem Leben erzählt, ist für sie vorbildhaft.

„Der Opa kommt!“, tönt ein lauter Schrei durchs Haus. Irgendeiner entdeckt ihn immer, lange bevor er auch nur in die Nähe unserer Türklingel gelangen kann. Und schon rast die gesamte Kinderschar wie eine wildgewordene Büffelherde zur Haustür. In kürzester Zeit weiß die ganze Nachbarschaft Bescheid: Der Opa kommt! Es dauert immer eine Weile, bis sich die tumultartigen Zustände wieder gelegt haben, bis jeder ausgiebig gedrückt und durch feste Klopfer auf den Rücken auf seine Vollständigkeit hin überprüft wurde. Dann erst kann sich der ersehnte Gast endlich bis ins Wohnzimmer vorarbeiten und auf seinem Stuhl verschnaufen. Meistens hat er für jeden eine Kleinigkeit dabei. Eine Handvoll Schlümpfe von 1980 vielleicht, die er irgendwo in den Tiefen seines Hauses entdeckt hat, einige alte Matchboxautos, ein paar Schokokugeln oder eine Tüte Gummibärchen zum Teilen. Mein Schwiegervater ist 88 Jahre alt, und man merkt es ihm langsam ein wenig an. Doch immer noch ist er stark wie eine alte Eiche, groß, gewaltig und ein bisschen polterig. Er lacht gern und laut, ist diskussionsfreudig und herzlich. Nur das mit dem Hören funktioniert nicht mehr richtig, was den Lärmpegel in unserem eh schon immer lauten Haus in ungeahnte Höhen treibt. Man stelle sich fünf Kinder vor, die gleichzeitig versuchen, sich einem schwerhörigen Opa verständlich zu machen …

GESCHICHTEN AUS ALTEN ZEITEN

Hat der Opa dann endlich sein Plätzchen gefunden, sein Stückchen Kuchen verzehrt, die zweite Tasse Kaffee vor sich und ein Enkelchen auf dem Schoß, dann kommt meist der Moment, den meine Kinder lieben. Der Opa fängt an zu erzählen. Von seinen Weltreisen als junger Mann, ganz ohne All Inclusive und ausgebauter Infrastruktur, von den Nächten in Heuschobern oder in freier Wildbahn, von den Abenteuern, die er mit seinen Brüdern erlebt hat, von der Liebe seiner Eltern und von seiner Zeit als junger Familienvater. Die Kinder hängen an seinen Lippen, wenn der Opa erzählt, und sie erfahren Geschichten aus fernen Ländern und alten Zeiten, von der Oma, die sie nie kennenlernen konnten, von Tagen, an denen ihr Papa ein kleiner Junge war und wieviel Blödsinn er mit seinen Brüdern angestellt hat. Oft sitze ich da und staune, wie sehr meine Kinder sich von den alten Geschichten fesseln lassen. Noch mehr aber bestaune ich diesen Mann, der mit fast neunzig Jahren so ganz im Reinen ist, mit sich und der Welt, der nicht schimpft und nicht hadert, weder mit der Vergangenheit, noch mit dem Jetzt. Nach zwei Stunden verabschiedet sich der Opa wieder und unter lautem Hupen und wildem Winken fährt er davon. Wir winken und brüllen alle hinterher. Bis zum nächsten Mal.

NICHT DAS SCHWERE ZÄHLT

Oft schon haben mein Mann und ich nach solchen Stunden mit dem Opa überlegt, dass dieser Mann auch eine ganz andere Geschichte seines Lebens erzählen könnte. Die Geschichte einer Kriegskindheit, vom Hunger und einem zerbombten Zuhause. Von der Granate, die ihm beim Spielen einige Finger kostete. Von den Mühen, vier nicht gerade einfache Jungs auf den rechten Lebensweg zu bringen und der großen Trauer um seine viel zu früh verstorbene Frau. Von der Einsamkeit in einem nun längst zu großen, leeren Haus, den Beschwerlichkeiten des Alters und den alten Freunden, die nicht mehr sind. Aber so erzählt er die Geschichte nicht. Er erzählt seine Geschichte anders. Es ist nicht so, als wäre das alles nicht gewesen. Er negiert das Schwere nicht, es gehört dazu und ist Teil seiner Erzählungen. Aber es ist nicht das, was zählt. Was zählt, ist das wilde, schöne Leben in all seinen Facetten. Die Freude an diesem Leben, an Familie und zehn Enkelkindern, an Reisen und an guten Erinnerungen, an ungewöhnlichen Problemlösungen und überstandenen Krisen. Er feiert dieses Leben, das vergangene und das gegenwärtige, indem er es bejaht. Und er vergrault es nicht, indem er hadert. Der Opa behält das Gute und schaut gespannt nach vorne. Denn 95 wolle er auf jeden Fall werden, sagt er.

DAS WILDE, SCHÖNE LEBEN

So möchte ich die Geschichte meines Lebens auch einmal erzählen können, wenn ich eine Oma geworden bin. Und wenn ich es recht bedenke, dann muss ich gar nicht so lange warten. Ich kann direkt damit loslegen, jeden Tag auf ein Neues. Das Leitthema meines Lebensbuches sollen nicht die schweren und traurigen Kapitel sein, auch wenn sie natürlich auch zu meiner Geschichte dazugehören. Das Leitthema soll das wilde, schöne Leben sein in all seinen Facetten, die guten Begegnungen und das Abenteuer Familie, die Liebe, die ich erfahren und schenken durfte, die Dankbarkeit für die guten Momente und das große Glück in den kleinen Dingen. So möchte ich mein Leben feiern, das mir geschenkt wurde, mit allem, was dazu gehört, jeden Tag. In diesen Wochen ist es schwer für unseren Opa. Viele seiner alten Weggefährten sterben, er kämpft mit den Lücken, die sie hinterlassen. Und entschließt sich wieder einmal bewusst für das Leben. Plant ein paar kurze Reisen, lässt die Hörgeräte neu einstellen und lädt sich bei uns zum Kaffee ein. Wir freuen uns. Denn das Leben in all seinem Reichtum zu feiern, anstatt nur seine dunklen Seiten zu lesen, ist manchmal eine Frage des eigenen Entschließens. Das ist das Erbe, das der Opa seinen Enkeln hinterlassen wird. Das ist das Erbe, das ich meinen Enkeln irgendwann schenken möchte.

Sandra Geissler lebt mit ihrer Familie in Nierstein und bloggt unter 7geisslein.wordpress.com.

Zum Dossier-Thema „Das Leben feiern“ gibt es weitere Artikel in der Family 01/2019.