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Flutwein als Belohnung?

Wie selbstlos muss Hilfe sein? Ein Kommentar.

Die Flutkatastrophe im Juli hat wohl die meisten von uns erschüttert. Menschen mussten schwere Verluste ertragen: Familienangehörige, Freunde, das Haus oder die Wohnung, die Lebensgrundlage, das Werk mehrerer Generationen … Neben all der Trauer steht das Staunen über die Hilfsbereitschaft: Helfer, die mit Schaufeln bewaffnet in Krisenregionen fahren, Berge an Sachspenden, Hilfsangebote in den sozialen Medien, kreative Spendenaktionen, bei denen viel Geld gesammelt wird.

Doch mittendrin kommen auch andere Gefühle ins Spiel. Da gibt es Konkurrenz unter den Helferinnen und Helfern: Warum darf das THW in die Region, private Helfer werden abgewiesen? Die Landwirte werden für ihre  Unterstützung gelobt, aber bedankt sich jemand bei den Feuerwehrleuten? Auch bei denen, die spenden, gibt es Enttäuschungen, weil die Opfer der Flut (erst mal) kein Interesse an den angebotenen Möbeln oder Kleidersammlungen haben. Und schließlich gibt es Diskussionen, welche Spenden „besser“ sind: Ist es okay, einen Reitverein finanziell zu unterstützen, damit er bald wieder Reitstunden für die Kinder anbieten kann? Sollte man nicht lieber für eine Familie spenden, die ihr Haus verloren hat? Und ist es richtig, als Gegenleistung für meine Geldspende drei Flaschen Flutwein zu bekommen? Ist es nicht besser, „einfach so“ zu spenden? Oder darf der Baumarkt, der den betroffenen Verein mit einem Gutschein unterstützt, verlangen, dass ein Werbeschild aufgehängt wird? Es ist kompliziert.

Wie kann „richtige“ Hilfe aussehen? Folgende Schlüsse habe ich für mich aus dieser Erfahrung gezogen:

  • Wer helfen will, schaut erst mal hin und fragt, welche Hilfe benötigt wird.
  • Wer helfen will, ist nicht beleidigt, wenn das Angebot der Hilfe gerade nicht passt.
  • Wer helfen will, erwartet keine Belohnung, Entschädigung oder Dank – freut sich aber darüber und nimmt es gern an.

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT. Sie lebt mit ihrer Familie in Bochum und engagiert sich in einem Reitverein, der im Juli überschwemmt wurde.

An meine Heldeneltern

ich bin irgendwo zwischen Anfang und Mitte 20, ausgewachsen, gesund und wohlgenährt, angemessen planlos – oder sagen wir: flexibel  – verheiratet, habe ein Studium absolviert und bin ganz offiziell angestellt. Meine Augen sind nicht viereckig und meine Hände weisen keine Herdplatten-förmigen Brandnarben auf. Ich kann Wäsche waschen, räume quasi eigenständig die Spülmaschine aus und weiß theoretisch, wie man einen Siphon säubert. Dass ich googeln musste, wie man das schreibt, kann ich euch nicht ankreiden. Es ist amtlich: Ihr habt einiges richtig gemacht.

Dass ich so gut gerate, war nicht immer zu erwarten. Sieben Jahre gab es nur Mama und mich. Wir waren ein Dream-Team. Und obwohl du alles warst, was ich brauchte, hast du mich immer mit Vorbildern und Vertrauensmenschen versorgt. Erst heute kann ich mir ansatzweise vorstellen, was du geleistet, geopfert und durchgemacht hast, damit ich nicht nur hatte, was ich brauchte, sondern nicht mal merkte, was mir fehlen könnte. Irgendwer hat mal gesagt: Wer Kinder hat, dessen Herz lebt außerhalb seines Körpers. Ich wünschte, du hättest dich weniger um mich gesorgt. Aber wenn ich nur beinahe so etwas wie dein Herz mit mir herumtrage, bin ich ein Licht in dieser Welt – stark, lebendig und liebevoll. Dafür kann ich mit deiner Schwäche manchmal nicht umgehen. Aber du lässt dir von mir den Spiegel vorhalten. Dafür respektiere ich dich. Und das gibt mir Hoffnung, dass Erwachsensein nicht heißen muss, so zu tun, als hätte ich das Leben verstanden.
Als der große Handwerker mit der tiefen Stimme und drei potenziellen Thronfolgern unsere kleine Welt betrat, war ich unentschlossen. Der soll mein Stiefvater sein? Wir haben lange nach einem alternativen Begriff gesucht. Fest steht: Mit „Stief“ werde ich mich nicht anfreunden. Das klingt nur cool, wenn man an der 50 kratzt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass du niemanden ersetzen willst, selbst dann nicht, als es etwas zu ersetzen gab. Du hast für mich gekämpft, versucht, mich zu verstehen, gemerkt, dass das nichts wird und mich einfach bedingungslos geliebt. Dein Stolz lässt mich aufrechter gehen. Deine Unterstützung lässt mich Berge versetzen. Dein Herz zeigt mir, was Jesus mit Barmherzigkeit gemeint hat.
Ihr habt mich ausgestattet mit einem tatsächlichen und einem ideellen Werkzeugkasten voller Selbstvertrauen, Macken und Werten, von denen ich einige bis aufs Blut verteidigen würde. Danke fürs Erziehen und danke für den Versuch, mich loszulassen. Beim nächsten Anlauf klappt’s bestimmt. Und irgendwie könnt ihr euch damit auch Zeit lassen.

In Liebe,

eure Tochter

 

Ann-Sophie Bartolomäus (23) ist Volontärin bei Family und FamilyNEXT. Sie lebt mit ihrem Mann in Witten und ist offen für Vorschläge, was das Stiefvater-Namens-Dilemma angeht.

Dankbar jammern

Die schwierige Frage nach dem Wohlergehen

Wenn mich jemand fragt, wie es mir oder uns geht, weiß ich oft nicht, was ich antworten soll. „Es geht uns gut. Wir sind bisher gesund geblieben, haben ein sicheres Einkommen und die Kinder kommen mit dem Homeschooling klar.“ Oder: „Es geht uns nicht so gut. Ich vermisse es, Freunde, Freundinnen und Verwandte zu treffen. Die Situation macht mir Angst. Und den Kindern fehlen ihre Freunde und ihr Sport.“

Jammern auf hohem Niveau? Ja, das ist es wohl. Die Frage ist ja: Womit vergleiche ich unsere Situation: Mit der Zeit vor Corona? Mit Menschen, die deutlich stärker durch Corona oder andere Dinge eingeschränkt werden? Oder gar mit Menschen, die nicht im reichen Europa leben und ganz andere Sorgen haben als die, wann endlich wieder Vereine und Restaurants öffnen dürfen?

Ich finde beides wichtig: Auch wenn es uns im Vergleich mit vielen anderen Menschen gut geht, dürfen wir benennen, was uns schmerzt und was uns fehlt. Es kann tröstlich sein, sich mit anderen auszutauschen, denen es ähnlich geht. Hier ist Ehrlichkeit wichtig. Wenn alle nur „Danke, gut!“ antworten, entsteht kein Austausch. Und wer nicht von seinen Herausforderungen und Problemen redet, findet auch keine Lösung dafür. Denn auch „Luxusprobleme“ können belasten und das Leben schwer machen.

Aber es ist auch wichtig, die eigene Situation in das Gesamtbild einzufügen und wahrzunehmen, wo wir stehen. Es ist hilfreich, auf das Gute zu sehen, das wir haben. Zu erkennen, womit wir gerade beschenkt sind und Gott dafür zu danken. Und sicher ist es so, dass an einem Tag eher das eine und am nächsten Tag das andere überwiegt. Lasst uns also dankbar jammern – und unsere Zuversicht auf Gott setzen!

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT und lebt mit ihrer Familie in Bochum.

 

„Mein Kind war dabei zu erlöschen“ – So erlebte Katharina die Krebserkrankung ihres Kindes

Für Katharina Weck ändert sich alles, als ihr Sohn Phileas an Leukämie erkrankt. Wie die Auseinandersetzung mit der Krankheit ihr Leben und ihren Glauben verändert hat.

Es ist ein kühler Donnerstagvormittag, als ich mich auf den Weg zu Katharina Weck mache. Etwa eine halbe Stunde Bahnfahrt heraus aus Berlin an den Stadtrand, ein Fußmarsch durch die ruhige Nachbarschaft. 2015 ist Katharina mit ihrer Familie aus dem lauten Berlin-Kreuzberg nach Brandenburg gezogen. In ein gemütliches Häuschen mit einem Kirschbaum im Garten und einem großen Kamin im Wohnzimmer.

Katharina Weck kommt eigentlich aus Niedersachsen, sie ist leidenschaftliche Sozialpädagogin, verheiratet mit Christopher und hat drei Söhne: Phileas (7), Mio (4) und Sashi (drei Monate). 2017 erkrankte Phileas an Leukämie. Über die zwei Jahre Therapie und was das mit ihr und ihrer Familie gemacht hat, hat Katharina ein Buch geschrieben.

Plötzlich zerbrechlich

Bei einer Tasse Tee sitzen wir zusammen und unterhalten uns. Katharina fotografiert neben dem Schreiben auch viel. Sie zeigt mir ein dickes Fotobuch, in das sie die Zeit der Krankheit eingefangen hat, Bilder von einem wilden Jungen in einer kleinen Familie, einem Jungen, der plötzlich untypisch schlapp ist, irgendwann an Geräten im Krankenhaus hängt, neben seinem kleinen Bruder so zerbrechlich wirkt, müde in Decken eingekuschelt, aufgedunsen, wie er irgendwann wieder Farbe bekommt, wieder tobt, ihm die Haare wieder wachsen. Durch die Seiten des Fotoalbums blätternd bekomme ich einen kurzen Einblick und eine Ahnung, wie viel Zeit zwischen der ersten und der letzten Seite, zwischen der Diagnose und einem „es geht wieder aufwärts“ liegt.

Katharina Weck: Die Zeit, die wir hinter uns haben, andern zu erklären, ist manchmal ganz schwierig, darum habe ich auch das Fotobuch gemacht. Es war gut, es Phileas zum Beispiel in die Schule mitgeben zu können, damit andere sich das vorstellen konnten. Ich glaube, wir Menschen neigen oft zu einem „Ah, alles ist gut. Jetzt hat er ja wieder Haare, Schwamm drüber“ und so ist es halt einfach nicht gewesen. So ist es jetzt nicht und so war es damals nicht.

Die Fotos erzählen von dieser Zeit, aber auch deine einfühlsamen Texte. Wie kam es dazu, dass du ein Buch über eure Geschichte veröffentlicht hast?
Ich bin ganz eifrige Tagebuchschreiberin und vor kurzem habe ich alte Texte gefunden. Ich habe mir anscheinend schon als Jugendliche mit Lesen und Schreiben die Welt erklärt – und mit Fotografieren. Das gefällt mir, Geschichten erzählen mit Bildern, mit Texten. Aber ich habe nie gedacht, dass ich mal ein Buch schreibe. Das ist wirklich aus der Not heraus entstanden. Ich habe einen Text geschrieben und den habe ich gepostet und sehr viele Reaktionen bekommen. Ab da habe ich immer wieder in den Momenten, in denen ich nicht mehr denken konnte, alles aufgeschrieben. Ab und zu habe ich das dann veröffentlicht und daraus sind Gespräche mit Leuten in ähnlichen Situationen und dadurch ein ehrlicher Austausch entstanden. Als ich dann alles nochmal geordnet und weitergeschrieben habe, war das auch Teil des Verarbeitens. Ich merke, vorbei ist das aber noch lange nicht. Gerade die Kinder fangen jetzt erst damit an, die Todesangst sitzt noch ganz schön tief in Phileas‘ Zellen.

Man kann sich nicht nicht verändern

Am Anfang, kurz nach der Diagnose, hast du geschrieben, dass ihr euch von der Krankheit nicht verändern lassen wollt …
Ja (überlegt), also das geht nicht (lacht). Also man kann sich nicht nicht verändern. Man bleibt nicht dieselbe Person, wenn man durch so etwas geht. Es war einfach so ein natürlicher Impuls, als wir die Diagnose bekommen haben, um das durchzustehen. „Du kriegst uns nicht klein, du scheiß Krebs.“ Daran habe ich mich auch lange festgehalten, indem wir trotzdem Dinge getan haben, die früher normal waren. Aber um so schlimmer es wurde, desto weniger ging das. Am Anfang war uns das noch nicht so klar.

Foto: Katharina Weck

Foto: Katharina Weck

Und langsam habt ihr es dann realisiert …
Ja, anfangs dachte ich, wir brauchen das nicht, wir gehören nicht auf die Kinderonkologie, in das alles. Irgendwann habe ich dann aber gemerkt, ich kann hier nicht unverändert herausgehen. Denn diese Todesangst, die sich bei Philli in den Zellen abgespielt hat, die liegt jetzt auf meinem Herzen, das habe ich auch jetzt noch. Es wird weniger, und dennoch gibt es immer wieder Momente, in denen alles wackelig ist. Geliebte Menschen leiden zu sehen, das ist super schlimm. Aber beim eigenen Kind, da ist das noch mal etwas Besonderes. Das Kind, das man auf die Welt gebracht hat, das man liebt, dem geht es plötzlich unglaublich schlecht und ist dabei zu erlöschen. Und ihm dann Sachen zumuten zu müssen, durch die es ihm noch schlechter geht, aber die er braucht, um zu überleben, das verändert einen. Und lässt einen alles überdenken. Manches sehe ich jetzt schwärzer, aber manches hat sich auch zurechtgerückt.

„Schlimm ist, sein Kind zu verlieren“

Du schreibst, dass du lernen musstest, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Meinst du das?
Genau, das mussten wir lernen. So anstrengend der normale Alltag jetzt wieder ist, schlussendlich schlafe ich abends zufrieden ein. Weil ich weiß, das ist nicht schlimm, schlimm ist, sein Kind zu verlieren. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass ich sogar das irgendwie akzeptiert hätte. Ich hätte ihn vielleicht loslassen müssen, so schrecklich das ist. Ich habe verstanden: Das Leben ist so, und der Glaube ist auch keine Garantie, dass schreckliche Dinge nicht auch passieren. Auch wenn Phileas nicht gestorben ist, trauern wir in gewisser Weise, weil er einen Teil seiner Kindheit verloren hat und die ganze Familie eine schreckliche Zeit hatte.

Irgendwann warst du in den zwei Jahren an einem Tiefpunkt. Du beschreibst im Buch, wie du im Wohnzimmer auf dem Boden liegst und nicht mehr aufstehen kannst. Dann schilderst du weiter: „Der Boden, an dem ich jetzt bin, ist auch der, der mich trägt.“ Da war noch keine Heilung in Sicht, und trotzdem fühltest du dich am tiefsten Punkt getragen?
Genau. Es gab kein „jetzt ist alles wieder gut“. Bisher bin ich durchs Leben recht einfach durchgekommen, habe die Dinge angepackt. Aber während der Erkrankung habe ich gemerkt: Im Grunde bin ich niemand, und das, was ich kann und mache und tue, das zählt im Grunde nichts. Jetzt, wo wieder etwas Normalzustand da ist, da packt man natürlich wieder Sachen an und das ist auch gut so. Aber diese Art zu glauben, das Wissen, das ist geblieben. Zum Beispiel bekomme ich jetzt oft die Rückmeldung: Du bist so stark. Nein! Im Gegenteil, ich war ganz schwach, verzweifelt. An dem Punkt musste ich alles abgeben.

Eine Extrem-Erfahrung von Loslassenmüssen …
Ja, ich habe gemerkt, ich kämpfe. Aber irgendwann musste ich sortieren: Wohin fließt das bisschen Kraft, das ich noch habe? Ich habe gemerkt, ich stecke so viel Kraft da hinein, ihn bei mir zu halten, das war irgendwann einfach nicht mehr möglich. Niemand konnte mir sagen, es wird alles gut. Da lag ich irgendwann auf dem Boden und habe gemerkt, ich kann ihn nicht retten, ich muss ihn loslassen. Und vertrauen. Nicht, dass Gott ihn heilt, sondern, dass Gott da ist, egal was passiert.

Danke-Tagebuch hilft

Aus dieser Erfahrung heraus ist für dich auch eine neue Überschrift über dein Leben entstanden: Eucharisteo. Was bedeutet das?
Das wurde inspiriert von der Autorin Ann Voskamp. Sie empfiehlt in ihren Büchern ein Danke-Tagebuch zu führen. Aufzuschreiben, was gut am Tag war, egal, wie voll der mit Mist war. Eucharistie, das Abendmahl, in dem man bittet, aber auch für das dankt, was man hat. Diesen Ansatz fand ich gut, dachte aber gleichzeitig: Wofür soll ich an so einem schrecklichen Tag dankbar sein? Und dann musste ich an den Kuchen der Nachbarin denken und an andere Gesten. Irgendwann hat sich das entwickelt, dann habe ich in den schlimmen Stunden in der Klinik, wenn Phileas im Krankenhaus alles vollspuckte und die Krankenpflegerin alles aufwischte, plötzlich Dankbarkeit verspürt, bei all dem Krebs in unserem Alltag. Und ich konnte meinen Sohn mit Dankbarkeit in den Arm nehmen, mit einem weichen Herzen. Das ist für mich Eucharisteo: Nicht für das Offensichtliche dankbar zu sein, sondern die Fähigkeit zu erlangen, in schlimmen Situationen die kleinen guten Momente zu finden, um zu überleben. Ich glaube, das war der Grund, dass wir nicht kaputtgegangen sind.

Foto: Katharina Weck

Foto: Katharina Weck

Am Schluss des Buches stellst du dir die Frage, was ist, wenn der Geist vom Krebs bleibt und ob es schlimm ist, wenn er bleibt. Wie meinst du das?
Alle vier Wochen müssen wir weiter mit Phileas zur Blutuntersuchung. Da sehen wir auch die ganzen Kinder, die gerade mittendrin sind. Das bleibt also präsent. Da bleibt man irgendwie genügsam und demütig. Ich meine, so oft vergesse ich das auch. Immer wieder sind der Krebs und diese Angst für uns ein Thema. Um die Wut darüber nicht in mich hineinzufressen, ist Eucharisteo immer wieder sehr notwendig. Zu sehen, wie viele Privilegien wir natürlich trotzdem haben. Dennoch ist dieses Leben eben nicht der Himmel und auf der Welt ist vieles ungerecht. Trotzdem ist Gott da. Ich weiß nicht, ob das Verarbeiten irgendwann vorbei ist. Darum möchte ich schon jetzt nicht daran verbittern, sondern es annehmen. Und mutig bleiben.

„Den Mut mussten wir bewusst zurückholen“

Zum Thema mutig bleiben. Oder den Mut wieder- aufnehmen: Irgendwann habt ihr die Entscheidung getroffen, dass das Leben weitergeht. Und jetzt schläft hier euer acht Wochen alter kleiner dritter Sohn, während wir uns unterhalten.
Ja (lacht). Dieser Schritt hat mir riesige Angst gemacht, das kannte ich vorher nicht von mir. Aber wir wollten dieselben bleiben, ja klar (überlegt). Der Mut kam nicht von alleine wieder. Wir mussten ihn bewusst packen und zurückholen. Niemand konnte mir den geben. Ich bin zu Gott gekrochen und habe mir die Zeit genommen, Gott wieder zu vertrauen.
So ein Zeichen davon, dass der Mut wieder ergriffen werden musste, liegt jetzt in der Wippe neben uns (lacht). Von einem Ausnahmezustand in den nächsten, da könnte man schon sagen bescheuert (lacht) und es war auch nicht einfach, auch die Schwangerschaft nicht, da ich eigentlich so erschöpft war.

Es war wahrscheinlich gerade erst alles dabei, wieder normaler zu werden, da holt die Erschöpfung einen erst richtig ein, oder?
Total! Aber wir haben dann auch gesagt, was nützt es zu warten, bis wir hier fertig sind. Es kann sein, dass wir hier nie fertig werden. Es wäre schön zu sagen: „So, der Krebs ist vorbei, jetzt kann es weitergehen.“ Aber wer weiß, wann es vorbei ist, wann wir wirklich sagen können: „Jetzt sind wir da fein raus.“ Unser kleiner Sashi ist jetzt nicht unsere Hoffnung, das legen wir ihm nicht auf die Schultern. Aber er ist ein Neuanfang, und den zwei großen Brüdern gefällt ihre Rolle. Phileas tut es gut, dass er jetzt nicht mehr der ist, um den sich alles dreht. Es gibt momentan viele kleine Momente, die so wertvoll sind.

Vielen Dank, für deine Offenheit. Und auch, wenn du nicht möchtest, dass man sagt wie stark du bist, empfinde ich deine Ehrlichkeit über dein Nicht-Stark-Sein als Stärke. Danke für das Interview!

Nach dem Interview unterhalten wir uns fast nochmal genauso lange darüber, warum Krankheit und Leid oft nur am Rand stattfindet, obwohl es sich fast in allen Leben abspielt. Warum wir diesen Teil so gerne auf Krankenhäuser und andere Ecken verdrängen, heraus aus dem alltäglichen Bewusstsein und unseren Gesprächen. Katharina erzählt, wie ihr Buch oft unter dem Thema Trauer aufgelistet wird. Es enthält auch eine ordentliche Portion Trauer, aber genauso auch eine große Portion Hoffnung. Und wir stellen fest, dass ein Teil dieser Hoffnung auch dadurch entsteht, dass wir unsere schweren und schmerzlichen Geschichten teilen. Katharina trägt mit der Geschichte von ihr und ihrer Familie dazu bei, den Blick zu öffnen für die Welt einer Familie mit der Diagnose Leukämie. Die Fotos, die vor mir liegen, und Katharinas Worte schaffen es Kloß-im-Hals-Schweres auszudrücken und gleichzeitig die hoffnungsvollen Momente festzuhalten.

Das Interview führte Marie Jäckel. Sie studiert in Berlin Politik und Soziologie.

„Danke“ – Die Trainingsfelder

In den letzten fünf Ausgaben ging es an dieser Stelle darum, welche Schritte Sie gehen können, um ein dankbarer Mensch zu werden. Im abschließenden Teil der Family- Serie zur Dankbarkeit wird es ganz praktisch: Wer ein dankbarer Mensch werden will, braucht Trainingsfelder. Von Martin Gundlach

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Was für ein Jahr!

Das hatten wir nicht geahnt, als wir vor zwei Jahren begannen, das „Jahr der Dankbarkeit“ zu planen. Der Flüchtlingsstrom hat Deutschland in 2015 voll erreicht. „Flüchtlinge“ ist das Wort des Jahres geworden, nicht „Dankbarkeit“. Ich habe aber im Lauf dieses Herbstes schon oft gedacht: Die beiden Worte und die beiden Bewegungen passen in ganz besonderer Weise zueinander. Denn an vielen Stellen sehen wir: Wer dankbar ist für sein eigenes Leben, der kann auch die Tür öffnen für Menschen, die aus schwierigen Lebensverhältnissen zu uns kommen. An ganz vielen Orten im Land wird gerade deutlich, dass Großzügigkeit und Freundlichkeit stärker sind als Habgier oder gar Hass. Ich freue mich riesig, dass es so ist, und hoffe, dass es so bleibt. Wenn ich jemals stolz darauf war, in diesem Land zu leben, dann jetzt.

Wir haben nach den ersten drei Monaten im „Jahr der Dankbarkeit“ einen schönen Zwischenstand zu verzeichnen: Der Start im September in der Schweiz, im Oktober in Deutschland ist gelungen, unzählige Veranstaltungen sind gelaufen, viele Magazine und Internetanbieter haben über das Thema und über die Initiative berichtet.

Aber auch 2016 ist noch das Jahr der Dankbarkeit. Vieles, was geschieht, kann man auf der Internetseite www.jahr-der-dankbarkeit.net finden — oder vor Ort. Denn viele Gemeinden, die vor Weihnachten keinen Nerv für irgendwelche Aktionen hatten, rücken erst im Frühjahr das Thema „Dankbarkeit“ in den Fokus.

Jetzt aber erst mal ein paar ruhige Tage zur Weihnachtszeit. Ich hoffe, dass euch beim Eintauchen in die Weihnachtsgeschichte ebenso Dankbarkeit wächst wie beim Rückblick auf das vergangene Jahr. Vielen Dank allen, die das „Jahr der Dankbarkeit“ in irgendeiner Form gefördert haben. Gesegnete Weihnachten!

 

Martin Gundlach

Chefredakteur Family und Vorsitzender im Vorstand vom „Jahr der Dankbarkeit“