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Gemeinsames Plumpsklo: So ärmlich lebte Familie Oelschläger in der DDR

Die Windeln trockneten sie überm Esstisch und heizten mit Kohleofen. Erinnerungen an die erste eigene Wohnung von Ute und Jörg Oelschläger in der DDR.

Herbst 1984: Wir beziehen stolz unsere erste eigene Wohnung im Erdgeschoss einer früheren Mühle, direkt am Mühlteich. Das dreistöckige Wohnhaus ist auf Bruchstein gegründet und nicht unterkellert. Uns gehören eine beheizbare Wohnstube mit ca. 20 m2, eine Küche und ein weiteres Zimmer, beide zusammen bringen es auf rund 7,5 m2. Das ist ein Riesenfortschritt. Bisher wohnten wir zu dritt in den sieben unbeheizten Quadratmetern meines Kinderzimmers.

Klo ohne Heizung

Verheiratete ohne Kind hatten in der DDR kaum eine Chance, eine Wohnung zu bekommen. Mit Baby stieg diese geringfügig. Um einen der begehrten Wohnungsbezugsscheine auf dem Amt zu ergattern, brauchte man entweder Beziehungen oder viel Eigeninitiative, um Eingaben zu schreiben oder ständig auf Behörden vorzusprechen. Als wir diese anderthalb Zimmer angeboten bekamen, hatten wir keine Chance, nein zu sagen, wohl wissend, dass einem Einzug viel Arbeit vorausgehen würde.

Wir hatten diese Wohnung nicht für uns allein. Zwei Zimmer, die von unserem Flur abgingen, gehörten einer alten Dame, der ehemaligen Hausbesitzerin. Sie wohnte bei ihren Kindern über uns, kam aber zum Schlafen herunter. Unsere Toilette befand sich im Eingangsbereich des Treppenhauses, und wir teilten sie uns mit der Nachbarin. Es handelte sich um ein sogenanntes PC (Plumpsklo) mit undichtem Fenster und ohne Heizung. Die darunter liegende Grube war undicht und durchfeuchtete die Wände dieser Hausseite. Unsere vier Fenster öffneten zwar zur Teichseite, die lud aufgrund der Wasserqualität aber nicht gerade zum Lüften ein.

Baumaterial war Mangelware

Nach der ersten Begehung stand fest, dass Elektrik, Wasser- und Abwasserleitungen neu verlegt und der lose Putz durch neuen ersetzt werden musste. Da Baumaterial Mangelware war, war ich oft zeitig früh am öffentlichen Fernsprecher in der Postfiliale und telefonierte die Baustoffversorgungen nach Material ab. Beim Putzabschlagen rieselte ein Fachwerkbalken aus der Wand, und wir standen in der Küche der freundlichen Nachbarin.

Dank der Hilfe von Freunden und unserer handwerklich begabten Eltern konnten wir endlich einziehen, als unsere Tochter ein halbes Jahr alt war. In das Schlafzimmer passte unser dreitüriger Schrank mit Aufsatz, unser Bett, ein Kinderbett und später noch eine Wiege. Bei offener Schranktür blieb kein Durchgang. Auch unsere Küche war ein Wunderwerk der Raumnutzung. Rechts von der Tür waren ein Glutos-Herd (Kohleofen mit Kochfläche), ein Gasherd, ein Minihandwaschbecken und zuletzt der totale Luxus: eine elektrische Duschkabine. Sie reichte an der Stirnseite bis an das Fenster heran.

Alles eng

Direkt unter dem Fenster war noch Platz für die Schleuder (später ein beliebter Besuchersitz) und daneben schloss sich die Spüle an. Diese ließ sich nur auf der rechten Seite öffnen, denn unmittelbar davor stand die halbautomatische Waschmaschine. Nahtlos folgten noch 1,50 m Küchenzeile mit Kühlschrank. In der Zimmermitte stand der Tisch mit zwei Stühlen an den Stirnseiten. Um etwas aus den unteren Küchenteilen zu entnehmen, musste der Tisch vor den Herd und danach zurückgeschoben werden. Im Winter benutzten wir eine Fünffachleine vom Fenster zur Tür. Da trockneten die Windeln bei Ofenhitze über uns und dem eventuellen Gast.

Im Wohnzimmer gleich links neben der Tür stand ein kleiner Dauerbrandofen, der Unmengen Braunkohlebriketts verschlang. Er warf die meiste Wärme an den ihm gegenüberliegenden alten Nussbaumschrank. Bei Einhaltung des Mindestabstandes zum Ofen war hinter dem Schrank gerade noch Platz für eine Liegefläche von zwei mal zwei Metern. Sie fungierte wahlweise als Couch, Kinderspielfläche oder Gästebett.

Rote bemalte Wasserrohre

Der Fußboden war kalt und trotz Teppich kaum als Spielplatz geeignet. Ein Laufgitter half bedingt. Im Wohnzimmer war noch Platz für eine Kommode, einen zweitürigen Schrank und einen ausziehbaren Tisch mit vier Stühlen. Abstellmöglichkeiten wie Dachboden oder Vorratskammer gab es nicht.

Der praktischen Enge haben wir versucht, mit Farbtupfern individuelle Gemütlichkeit zu geben. Zur weißen Wand bekamen die Türrahmen und Fenster eines jeden Zimmers eine andere Farbe. Grün im Schlafzimmer, Braun im Wohnzimmer und Rot in der Küche. Die Aufputzabwasserrohre in kräftigem Rot waren vielleicht nicht üblich, aber ein Blickfang, genau wie ein roter Gästehocker.

Dankbar für den heutigen Luxus

Diese erste eigene Wohnung haben wir geliebt, auch wenn wir unter der Enge oft gelitten haben. Familienveränderungen forderten ständige Anpassung. Ein Jahr nach unserem Einzug wurden uns Zwillinge geboren. Erst 1987, kurz vor der Entbindung von Kind Nr. 4, konnten wir in eine größere Wohnung umziehen. Und auch die war von Anfang an wieder zu klein …

Unser Trautext, Psalm 128, hat sich über die Jahre mehr als erfüllt. Wir wurden immer getragen und versorgt. Dankbar sitzen wir heute im eigenen Haus und haben so viel Platz wie nie. Die Türen halten wir noch immer offen, so wie schon damals in der Enge. Ein Teil der alten Holzmöbel hat alle Umzüge überlebt und erinnert uns an die Anfänge. Die Kinder sind aus dem Haus und Kindeskinder werden geboren. Wir bekommen Solarstrom vom Dach, Wärme von der Sonne oder aus dem Kamin. Das ist Luxus. Global betrachtet waren wir schon 1984 privilegiert und sind es heute noch viel mehr. Dessen sind wir uns bewusst, und dafür sind wir dankbar.

Ute Oelschläger ist verheiratet und Mutter von sechs erwachsenen Kindern. Sie ist Hausfrau mit floristischem Minijob und Zeit für kreative Hobbys und lebt in Borsdorf bei Leipzig.

Zwischen Mauerfall und Brexit

Viola Ramsden ist in der DDR aufgewachsen, hat als Jugendliche die Wendezeit erlebt und viele Jahre an verschiedenen Orten gewohnt – unter anderem in London. Nun ist sie wieder in ihre „Heimat“ zurückgekehrt und denkt darüber nach, wo sie eigentlich hingehört.

Ich bin ein Wendekind. Ein Zonenmädchen. Eine Vertreterin der „Dritten Generation Ost“. Damit gehöre ich zu den rund 2,4 Millionen Menschen, die ihre Kindheit zunächst in der DDR erlebten und anschließend im vereinigten Deutschland erwachsen wurden. Vor einiger Zeit las ich in der WELT, dass wir Zonenkinder mit unserer unablässigen Identitätssuche etwas verzweifelt wirkten. Auch ich habe mich auf die Suche nach Wurzeln und Identität begeben. Ich schreibe sogar regelmäßig darüber in meinem Blog. Doch verzweifelt fühle ich mich dabei kaum. Im Gegenteil: Das Nachforschen hat mich inspiriert, befreit und selbstbewusster gemacht.

Heimat im Erzgebirge

Meine (gefühlte) „Heimat“ ist das Erzgebirge. Hier habe ich meine relativ behütete Kindheit zu DDR-Zeiten verbracht und bin danach während der Pubertät im stressig-verwirrenden, kompliziert-ostdeutschen Chaos der Wendejahre groß geworden. Mein erzgebirgisches Elternhaus ist der Ort, an den ich seither immer wieder zurückkehre, auch wenn sich mein derzeitiger Wohnsitz mal wieder geändert hat.

Von Norddeutschland nach Jerusalem

Nach dem Abitur verschlug es mich als Praktikantin zuerst nach Norddeutschland und dann in den Ruhrpott, bevor ich als Studentin in Marburg und Cambridge lebte. Später verbrachte ich einige Zeit als Volontärin in Jerusalem und Berlin, ehe ich vor 13 Jahren nach London ging. Dort habe ich bis vor kurzem gelebt, geliebt und gearbeitet. Nun sind wir als Familie – mein britischer Mann, mein Kind und ich – nach Deutschland gezogen. Ein unstetes Erwachsenenleben, mit vielen Stationen, Zwischenstopps und noch mehr Adressen. Woran liegt das?

Unterwegs aus Abenteuerlust

Ich vermute, dass eine Mischung verschiedener Faktoren dazu beigetragen hat: die komplexen Erlebnisse und oft schwierigen Zusammenhänge der Wendezeit, mit denen wir ostdeutschen Jugendlichen konfrontiert waren, gepaart mit individueller Neugier, dem Globalisierungsprozess und sich daraus ergebenden Möglichkeiten sowie Abenteuerlust, Weltoffenheit und einer gewissen inneren Unruhe. Trotz aller Weltenbummelei empfinde ich meine ostdeutsche Herkunft auch heute noch als prägend. In meinem Blog denke ich immer wieder ausführlich darüber nach, wie und weshalb das so ist.

Unaufhörlicher Kulturschock

Der abrupte Wechsel von einer vertrauten Gesellschaftsordnung zu einem völlig neuen System fühlte sich in den 90er Jahren wie ein unaufhörlicher Kulturschock und Stresstest an. Allerdings hätte ich das zu dem Zeitpunkt so nicht artikulieren können. Damals musste man da einfach irgendwie durch. Überleben. Alles Neue so schnell wie möglich verstehen und sich zu eigen machen. Verletzungen wurden ignoriert und Hilfestellungen gar nicht erst erwartet.

Als „Ossi“ abgestempelt

Dieser intensive Umbruch hat bei allen Ostdeutschen tiefe Spuren hinterlassen. Ich selbst gehörte zu den Heerscharen junger Menschen, die den Osten verließen, weil sich anderswo bessere Chancen boten. Wie so viele bemühte ich mich um schnelle, bedingungslose Anpassung, um ja nicht als „Ossi“ abgestempelt zu werden. Ich wollte stattdessen als eigenständige Persönlichkeit mit individuellem Charakter, Fähigkeiten und Eigenarten gemocht und anerkannt werden. Meistens gelang das auch, aber doch war da immer das Gefühl, nicht ganz ich selbst zu sein und mit meinen spezifisch ostdeutschen Erfahrungen nicht wirklich verstanden zu werden.

Die Außenseiterin

Es gab Momente, in denen ich meinen Background bewusst verschwieg. Und so manches Mal fühlte ich mich inmitten von gleichaltrigen Westdeutschen als Außenseiterin. Denn natürlich galt das Westdeutsche immer als die (unausgesprochene) Norm, während ostdeutsche Befindlichkeiten als weniger gut, richtig, wertvoll, cool, bedeutsam oder lebenswert wahrgenommen wurden. Eine anstrengende Zeit, die aber auch mit vielen schönen, interessanten und unbeschwerten Jugenderfahrungen, neuen Freundschaften, Spaß und Gelegenheiten gefüllt war.

Neue Heimat: London

So richtig zu mir selbst gefunden habe ich erst während meiner Zeit in London. Denn hier war das Westdeutsche nicht mehr der Normalfall. Inmitten einer kosmopolitischen Metropole wurde ich als eine von vielen verschiedenen Ausländerinnen wahrgenommen. Mein Kollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis rekrutierte sich aus einer Mischung von Menschen aller Kontinente mit den verschiedensten kulturellen und ethnischen Hintergründen, Hautfarben, Religionen und Eigenschaften. Uns alle verband dabei die Erfahrung, sich als Migranten in einem anderen Land zurechtfinden zu müssen. So fühlte ich mich in London schon bald wie zu Hause, und dieses Gefühl hielt über viele Jahre an.

Nicht mehr willkommen

Doch dann erlebte ich eine weitere politische Wende: den Brexit. Nach dem Referendum vor über drei Jahren fühlte ich mich in meiner englischen Wahlheimat nicht mehr willkommen. Die Grundlage, auf der ich mir als EU-Bürgerin dort ein Leben aufgebaut hatte, war plötzlich verschwunden. Hinzu kam die Familiengründung. Bereits seit Jahren hatte ich meine Ursprungsfamilie immer mehr vermisst. Dieses Gefühl verstärkte sich nach der Geburt unseres Kindes zusehends. Die Familie meines Mannes lebt noch weiter weg, in Südafrika. So entschieden wir uns, gemeinsam nach Deutschland zu gehen.

Ungläubiges Staunen

Da wir vorerst einmal zurück in meinen erzgebirgischen Heimatort gezogen sind, bin ich gerade recht intensiv damit beschäftigt, mein Verhältnis zur „Heimat“ neu auszuloten. Es ist eine merkwürdig vertraute Erfahrung, nach einem halben Leben in der Ferne mit einem Mal wieder da zu sein. Momentan herrschen dabei zwei Empfindungen vor. Zuerst eine Art ungläubiges Staunen und Glücksgefühl, dass wir als Familie jetzt hier sein können. Eine riesige Freude darüber, dass mein Sohn sich inmitten der größeren Familie so unglaublich wohl fühlt. Es ist wunderschön zu erleben, wie viele Leute sich über unsere Rückkehr freuen. Ich genieße es, so viel Zeit wie möglich mit Menschen zu verbringen, die ich so lange vermisst habe. Das Gefühl, gewollt zu sein, tut gut! Die andere Komponente ist der Umzug von einer Großstadt aufs Land. Da sind die Gefühle gemischter. Zwar ist es schön, den Stress und die Isolation hinter sich zu lassen, und ich schätze die idyllische Umgebung. Aber ich vermisse die Vielfalt von Menschen und Möglichkeiten.

Wurzeln sind wichtig

Meine ostdeutsch-erzgebirgischen Wurzeln sind für mich mit der Zeit immer wichtiger geworden. Da finden sich viele wesentliche Erfahrungen und Werte, die mich durchs Leben begleiten und leiten: eine Grundeinstellung von Bodenständigkeit und Echtheit, die mich dazu ermutigt, mir selbst treu zu bleiben und mich nicht vom Schein unwichtiger Dinge blenden zu lassen. Dazu kommt jene rigorose Flexibilität, aus den Umständen das Beste zu machen. Eine Eigenschaft, die vor allem während der vielen Jahre im Ausland unentbehrlich schien. Wertvoll sind mir zudem Familien- und Gemeinschaftssinn sowie das stetige Suchen nach tiefen und authentischen Beziehungen. Zu DDR-Zeiten erlebte ich in unserem Dorf ein Umfeld, in dem die meisten Menschen mit ähnlichen finanziellen und sozialen Umständen zurechtkamen. Wohl auch deshalb ist für mich heute eine unstrittige Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung meiner Mitmenschen von zunehmender Bedeutung – inklusive diverser ethnischer, kultureller und religiöser Hintergründe, sowie unabhängig von Geschlecht, sozialem Status, finanziellen Mitteln und sexueller Orientierung.

Zu spät Mutter

Natürlich gibt es in meiner Prägung auch Aspekte, die mein heutiges Leben weniger positiv beeinflussen. Da ist zum Beispiel jener Begriff des ostdeutschen „Gebärstreiks“, weil junge Frauen nach der Wende eine Zeit lang kaum noch Kinder zur Welt brachten. Auch ich war damals komplett damit beschäftigt, mich in meinem neuen Umfeld zurechtzufinden. Später investierte ich meine Energie vor allem darin, mir im Ausland ein Leben aufzubauen. Hinzu kamen einige komplizierte Beziehungserfahrungen. So verging viel Zeit, bevor ich damit anfing, bewusst in ein gemeinsames (Familien-)Leben zu investieren. Nun genieße ich das Mamasein und das Zusammenleben in unserer liebevollen Kleinfamilie sehr. Manchmal wünschte ich mir jedoch, dass ich damit schon etwas eher hätte beginnen können.

Zukunftsangst

Auch das in der Pubertät durchlebte Chaos der Wendejahre hat seine schwierigen Spuren hinterlassen. So kommt es immer wieder vor, dass ich mit Zukunftsangst kämpfe. Ganz besonders habe ich das durch den Brexit gespürt. Die dadurch ausgelöste politische Unsicherheit mit nicht absehbaren Folgen für mein eigenes Leben hat mich unendlich gestresst. Zum Schluss bleibt die Frage: „Wo gehöre ich hin?“ Die Antwort darauf verweist jedoch auf keinen Ort, sondern auf Beziehungen, die mich über die Jahre hinweg begleiten. Das ist vor allem meine Familie, aber auch die Beziehung zu Gott, die mich durch meinen christlichen Glauben weiter trägt. Denn wo immer ich auch gerade bin, kommt mein Glaube mit, ist mein Gott schon da.

Viola Ramsden ist Marketing-Managerin im Erziehungsurlaub sowie Gesprächstherapeutin und Bloggerin unter Myostblog. Sie lebte in den letzten 13 Jahren in London und wohnt momentan mit ihrer Familie im Erzgebirge

Der friedliche Kampf: Das schreibt der Nikolaikirchen-Pfarrer über die DDR-Demos 1989

Am 3. Oktober feiern wir den Tag der Deutschen Einheit. Tausende DDR-Bürger gingen im Herbst 1989 für ihre Freiheit auf die Straße. Vor seinem Tod schrieb Christian Führer, der damalige Pfarrer der Nikolaikirche, wie er diese Tage erlebt hat.

Teil 1: Hintergrund – Montag, 9. Oktober 1989

Wie zur Warnung trifft sich gerade heute Honecker mit der chinesischen Staatsdelegation des stellvertretenden Ministerpräsidenten Yao Yilin in Berlin. Die chinesische Gewaltlösung vom „Platz des Himmlischen Friedens“ scheint so nah wie nie. In Leipzig wird währenddessen über die Betriebe offiziell davor gewarnt, in die Innenstadt zu gehen, da man sich so als Staatsfeind zu erkennen gäbe. Im Volkspolizeiamt lautet die offizielle Devise für die Sicherheitskräfte: „Das Ziel des Einsatzes besteht in der Auflösung rechtswidriger Menschenansammlungen und (…) in der dauerhaften Zerschlagung gegnerischer Gruppierungen sowie der Festnahme der Rädelsführer.“ In den Krankenhäusern werden Blutkonserven gesammelt und Betten frei gemacht. Betriebskampfgruppen werden zusammengezogen und mit Gummiknüppeln bewaffnet. Hinter der „Runden Ecke“, wie die Stasizentrale im Volksmund heißt, nehmen Schützenpanzer Stellung.

Balkone werden abgesperrt

Schon am frühen Nachmittag besetzen 600 SED-Parteikader (ohne Parteiabzeichen) den Innenraum der Nikolaikirche, bevor Pfarrer Christian Führer die Balkone der Kirche absperrt – für die »Werktätigen«, die bis 17.00 Uhr arbeiten müssen, wie er bei der Begrüßung der Neulinge das Montagsgebet erklärt. Aber auch die Thomaskirche, die Michaeliskirche und die Reformierte Kirche bereiten sich auf die Friedensgebete vor.

„Wir sind das Volk“

Um 17.00 Uhr versammeln sich 10.000 Besucher in den vier völlig überfüllten Kirchen zum Montagsgebet. Bischof Johannes Hempel ruft in allen vier Kirchen die Besucher persönlich zum Gewaltverzicht auf und die Berichte aus Dresden machen Mut. Draußen warten Menschenmengen. Gemeinsam ziehen sie mit den Kerzen in der Hand zum Karl-Marx-Platz und von dort den Ring entlang. Sprechchöre skandieren „Wir sind das Volk“, „Gorbi, Gorbi“ und „Wir sind keine Rowdys“, daneben erschallen Lieder wie „We shall overcome“. Die 8.000 Einsatzkräfte kapitulieren angesichts der friedlichen 70.000. Den möglichen massiven Schusswaffeneinsatz will keiner anordnen. Selbst Einsatzleiter Helmut Hackenberg bekam von Egon Krenz keine klare Antwort. Erst als die Demonstranten schon den ganzen Innenstadtring ausfüllten, kam die Bestätigung der Leipziger Linie des Nichteingreifens, solange keine Gewalt von der Demo ausgeht. Mit Kerzenketten und dem Ruf „Keine Gewalt“ wird versucht, vor den sensiblen Punkten wie der Stasizentrale Provokationen auch aus der Demo heraus zu verhindern, was wie ein Wunder gelang.

Ein Lichtermeer

In Dresden lauschen derweil 20.000 Menschen in und vor den Kirchen den Berichten der Bürgervertreter der „Gruppe der 20“ über die Ergebnisse ihrer Gespräche mit Oberbürgermeister Berghofer am Morgen.

In Berlin bricht bei den 3.000 Besuchern in der Gethsemanekirche spontaner Jubel aus, als sie von dem friedlichen Verlauf in Leipzig hören. Der Platz rund um die Kirche wird zum Lichtermeer und auch hier ziehen sich die Sicherheitskräfte zurück. Lediglich in Halle gehen sie mit gewohnter Brutalität gegen 2.000 Demonstranten rund um die Marienkirche vor, wo sie eingekesselt massenhaft zu den „Zuführungspunkten“ gebracht werden.

Viel Gebet

Neben Leipzig, Berlin, Dresden und Halle finden Veranstaltungen in Magdeburg, Jena, Markneukirchen und Meerane statt, „die ihrem Charakter nach gegen die staatliche Ordnung in der DDR gerichtet waren“, wie ein Lagebericht am nächsten Tag meldet. Für einen friedlichen Verlauf der Montagsdemonstrationen haben an diesem Abend viele Gemeinden in der DDR gebetet.

Teil 2: Christian Führer berichtet

Was mich bis heute am meisten bewegt: Mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ war die Bergpredigt Jesu auf den Nenner gebracht! Aus dem Volk geboren, nicht von einem Pfarrer oder Bischof formuliert. Und sie haben nicht nur „Keine Gewalt!“ gedacht oder gerufen, sondern haben die Gewaltlosigkeit konsequent auf der Straße praktiziert. Menschen, die in zwei unterschiedlichen atheistischen Weltanschauungsdiktaturen aufgewachsen waren. Bei den Nazis mit Rassenhass und Kriegsvorbereitungen. An die Stelle Gottes war die „Vorsehung“ getreten. Bei den Realsozialisten mit Klassenkampf und Feindbild und atheistischer Propaganda: „Euren Jesus hat’s nie gegeben und euer Gefasel von Gewaltlosigkeit ist gefährlicher Idealismus. In der Politik zählen Geld, Armee, Wirtschaft, Medien. Alles andere kannst du vergessen!“ Dass die so erzogenen Menschen im Geist Jesu der Gewaltlosigkeit draußen auf der Straße handelten– Carl Friedrich von Weizsäcker sagte zu mir: „Das ist ein erschütternder Vorgang.“ Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wenn je etwas das Wort „Wunder“ verdient, dann das. Ein Wunder biblischen Ausmaßes!

Zwischen Angst und Hoffnung

Als nach dem Friedensgebet alle aus der Kirche herausgekommen waren, setzte sich die Menschenmenge langsam in Bewegung. Die Kinder hatten sie zu Hause gelassen, weil es lebensgefährlich war. Zwischen Angst und Hoffnung bewegte sich der Zug Meter um Meter vorwärts auf dem Ring.

Mit allem gerechnet außer Kerzen und Gebeten

„Wir sind das Volk!“– das bedeutete auch: „Ihr ‚Volks‘-Polizisten, für wen steht ihr eigentlich hier? Für die paar Greise in Berlin – oder was?“ Wo das Volk steht, brauchst du bei 70.000 niemandem zu erklären. Die Staatsmacht war total überrascht und verunsichert. „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten“, so der Volkskammerpräsident Horst Sindermann. Dafür hatten die Offiziere keinen Einsatzbefehl. Als der Zug der Menschen unangefochten den Innenstadtring passiert hatte und wieder am Ausgangspunkt angekommen war, herrschte eine ungeheure Erleichterung, dass nicht geschossen worden war. Keine zerstörte Schaufensterscheibe. Keine Sieger und Besiegten. Keiner verlor das Gesicht. Keiner büßte sein Leben ein.

Christian Führer (1943–2014), war 1989 Pfarrer in der Nikolaikirche in Leipzig. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Das Wunder der Freiheit und Einheit“, erschienen bei SCM Hänssler und der Evangelischen Verlagsanstalt.

Mauerfall

In den Osterferien werden wir nach Thüringen fahren. Für meine Kinder ist das selbstverständlich. Schon zweimal waren wir auf der Ziegenalm und sie freuen sich schon, im nächsten Jahr wieder dort zu sein. Für mich ist es immer wieder besonders, dass das so selbstverständlich ist — das und vieles andere auch: Dass wir in der Redaktion eine Jahrespraktikantin aus dem Erzgebirge haben. Dass ein Berlin-Besuch nicht das Gefühl von zwei Welten hinterlässt, wie ich es als Schülerin erlebt habe. Dass Menschen im Osten Deutschlands ganz selbstverständlich ihren Glauben leben können. Und dass ich ihnen in Italien begegne.

Ich staune immer noch und immer wieder, dass die Mauer gefallen ist. Ich freue mich über dieses Wunder, an dem Gott und viele mutige Menschen beteiligt waren. Und ich finde es wichtig, das nicht zu vergessen. Deshalb erzähle ich meinen Kindern von den zwei deutschen Ländern, die es mal gab. Leider ist die Auswahl geeigneter Kinderbücher überraschend gering. Wenn man bedenkt, wie viele Fußball-Bücher zur WM erscheinen, wundere ich mich, wie wenige Wende-Geschichten für Kinder es gibt.

Zwei Bücher möchte ich empfehlen: Hanna Schotts „Fritzi war dabei“ beschreibt die Ereignisse 1989 in Leipzig – ein Kinderroman mit wahrem Hintergrund, geeignet ab acht Jahren.

http://www.klett-kinderbuch.de/index.php?id=382

Die Kindernachrichten logo! schaffen es immer wieder, Kindern (und Erwachsenen) schwierige Zusammenhänge einfach zu erklären. Diesen Anspruch hat auch das Sachbuch „Wie war das mit der Mauer?“von logo!-Redakteurin Verena Glanos, geeignet für Kinder ab neun Jahren.

http://www.luebbe.de/Buecher/Kinder/Details/Id/978-3-414-82402-8

Und wie ist das in eurer Familie? Welche Rolle spielt für euch der Mauerfall? Ich freue mich über Rückmeldungen und Kommentare.

Und wer sich selbst noch mal intensiver mit den Ereignissen 1989 beschäftigen möchte: Der Verlag SCM Hänssler hat eine sehr informative Website mit vielen persönlichen Einblicken dazu zusammengestellt: http://www.scm-haenssler.de/microsites-2014/25-jahre-mauerfall.html

Bettina Wendland, Family-Redakteurin

25 Jahre Mauerfall

„Das Jahr 1989 hat mein Leben geteilt – in Vorher und Nachher.“

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