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11 bis 15 – Mehr als nur traurig

Elternfrage: „Meine Tochter (12) wirkt seit mehreren Wochen total niedergeschlagen und zieht sich immer öfter in ihr Zimmer zurück. Ist sie depressiv?“

Wenn Kinder oder Teenager ständig niedergeschlagen wirken, dann besorgt das die meisten Eltern – zu Recht! Denn Kinder sind grundsätzlich eher fröhlich und entdeckungsfreudig, auch wenn es natürlich Unterschiede im Naturell gibt, so wie bei Erwachsenen auch.

Wenn Ihre Tochter Ihnen ungewöhnlich traurig erscheint, sollten Sie genauer hinschauen. Denn auch Kinder und Teenager können eine Depression entwickeln. Folgende Checkliste hilft Ihnen bei der Einschätzung des Problems:

  • Wie lange ist das schon so? Wenn die Stimmung zwei Wochen oder länger schlechter ist als sonst, dann wird es ernst.
  • Gibt es bestimmte Stressfaktoren, die kurz vor dem Stimmungstief aufgetreten sind, und lassen sich diese eventuell mildern? Werden sie sehr bald von selbst enden (zum Beispiel in der Prüfungsphase), sodass eine Besserung realistisch ist? Wenn das der Fall ist und Sie keine akute Gefährdung sehen, kann es sich lohnen, ein bis zwei Wochen abzuwarten.
  • Zeigt Ihr Kind körperliche Auffälligkeiten wie weniger oder mehr Appetit, Schlafprobleme, Müdigkeit, Schmerzen,…? Auch das können Anzeichen einer Depression sein.
  • Hat Ihr Kind das Interesse an Aktivitäten oder Themen verloren, für die es sich sonst begeistert hat?
  • Zieht sich Ihr Kind zunehmend zurück und vermeidet Kontakte?
  • Spricht es vom Wunsch zu sterben?
  • Ist Ihr Kind neben der Betrübtheit auch gereizt oder genervt?
  • Spricht Ihr Kind sehr schlecht über sich selbst, zeigt es Probleme im Selbstbewusstsein?
  • Benennt es vielleicht sogar den Wunsch, lieber tot zu sein? Wenn das der Fall ist, sollten Sie sofort handeln und sich an die nächste Kinder- und Jugendpsychiatrie wenden (notfalls auch erfragen unter der Telefonnummer 112).

Wenn ein oder mehrere Kriterien erfüllt sind, dann sollten Sie besonnen, aber entschlossen reagieren. Erklären Sie Ihrem Kind, dass Sie sich Sorgen machen, weil Sie spüren, dass es ihm nicht gut geht. Und dass Sie wollen, dass es ihm besser geht und Sie sich deswegen um Hilfe kümmern.

Holen Sie sich professionelle Hilfe zum Beispiel bei einer Praxis für Kinderund Jugendlichenpsychotherapie. Dort gibt es meist lange Wartelisten, man kann die Wartezeit aber gut mit Terminen in einer Erziehungsberatungsstelle (Adressen finden Sie unter dajeb.de) überbrücken. Dort gibt es Angebote, sowohl für das Kind allein als auch für die Eltern oder die ganze Familie, je nachdem, was sich als passend herausstellt.

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin (neuewege.me).

Wochenbettdepression: Auch Papas kennen den Babyblues

Wenn Väter nach der Geburt ihres Kindes an einer Wochenbettdepression erkranken, steht die Welt doppelt Kopf.

Der ganze Stolz der Familie ist da, ein Grund zum Feiern! Es ist schon befremdlich, wenn diese Freude getrübt wird – wenn schon, dann höchstens durch ein Stimmungstief der Frau. Aber der Mann? Sein Körper hat sich nicht verändert und muss sich folglich nicht zurückbilden. Darf, kann er überhaupt an einer Wochenbettdepression erkranken? Er kann – und das geschieht gar nicht so selten. Das Team des Forschers James Paulson wertete 43 internationale Studien aus. Das Ergebnis ist überraschend: Rund 10,4 Prozent der Väter sind während der Schwangerschaft und innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt von einer Depression betroffen, am häufigsten drei bis sechs Monate nach der Geburt.

Überforderung

Ist das wirklich so verwunderlich? Die Zeit mit einem Baby ist wunderschön, aber auch sehr anstrengend. Das Gleichgewicht der jungen Familie gerät aus dem Lot. Schlafmangel und Unvorhersehbarkeit bestimmen den Alltag. Mann und Frau müssen ihre Paarbeziehung neu gestalten und in ihre Rollen als Eltern hineinfinden. Vieles, was bisher problemlos möglich war, geht nicht mehr.

Geraten Frauen nach der Geburt in Stress oder ein Stimmungstief, erhalten sie oft Verständnis, praktische Hilfe und Zuwendung. Der Vater hingegen ist meist wieder in den Arbeitsalltag zurückgekehrt – und steht nun doppelt seinen Mann. Vieles läuft nicht rund, er übernimmt Aufgaben, die zuvor die Frau erledigt hatte. Ist sie noch dazu von einer Depression betroffen, steht er vor der Herausforderung, das System Familie aufrechtzuerhalten und sich um das Wohl des Kindes zu sorgen. Langfristig droht die Überforderung.

Doch solange die Symptomatik bei Vätern nicht bekannter ist, schlägt ihm wenig Verständnis entgegen. Und das Eingestehen von Schwäche, das Bekanntmachen psychischer Krankheiten ist gesellschaftlich wenig angesehen, bei Männern noch viel weniger. Wer möchte nicht lieber ein Lob für das Bewältigen großer Aufgaben, als zuzugeben, dass man diese nicht mehr stemmen kann?

Das Wohl des Kindes

Eine Wochenbettdepression ist kein Schnupfen. Wenn Sie selbst oder andere in Ihrem Umfeld davon betroffen sind, ist eine kompetente und fachkundige Hilfe entscheidend – auch um zu vermeiden, dass die Partnerin erkrankt und dass sich die Depression der Eltern auf das Neugeborene auswirkt. Vielleicht liegt hier sogar ein Schlüssel, Väter zu überzeugen, eine Behandlung wahrzunehmen: Es geht um das langfristige Wohl ihres Kindes und ihrer Familie.

Grundsätzlich muss klar sein: Niemand ist vor Depressionen gefeit. Das erfordert viel Barmherzigkeit – und einen aufmerksamen Blick. In einer Zeit, in der Großfamilien kaum noch existieren und jeder sein eigenes Fertig-Süppchen kocht, geraten immer mehr Menschen unerkannt unter die Räder. Überlegen Sie doch einmal, wie Sie Betroffenen vielleicht schon vorbeugend hilfreich zur Seite stehen können: ein offenes Ohr, ein Mittagessen, praktische Hilfe und zuallererst das Gefühl: „Du bist wertvoll – und nicht allein!“

Dr.med. Ute Buth ist Frauenärztin und Weißes-Kreuz- Fachberaterin. Die Sexualberaterin nach DGfS (Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung) leitet die Weißes- Kreuz-Beratungsstelle „herzenskunst“ in Bochum.

Mein Sohn hat den Coronablues

„Bei meinem Sohn (9) ist nach zweieinhalb Jahren Pandemie mit Wechselunterricht, teils täglichem Testen, mehreren Quarantänen und Masketragen ordentlich die Luft raus. Er hat schon mehrfach gesagt, dass er nach den Ferien nicht mehr in die Schule zurückkehren will. Man spürt ihm auch eine gewisse Unsicherheit und Angst ab. Es tut mir so leid, dass er bisher keine normale Schulzeit haben konnte. Wie können wir ihm die Schule trotzdem schmackhaft machen?“

„Bei meinem Sohn (9) ist nach zweieinhalb Jahren Pandemie mit Wechselunterricht, teils täglichem Testen, mehreren Quarantänen und Masketragen ordentlich die Luft raus. Er hat schon mehrfach gesagt, dass er nach den Ferien nicht mehr in die Schule zurückkehren will. Man spürt ihm auch eine gewisse Unsicherheit und Angst ab. Es tut mir so leid, dass er bisher keine normale Schulzeit haben konnte. Wie können wir ihm die Schule trotzdem schmackhaft machen?“

Masken tragen, Abstand halten, testen, auf Ausflüge und Klassenreisen verzichten müssen – das sollte eigentlich nicht den Alltag von Familien prägen. Kein Wunder, dass viele Schüler, wie auch Ihr Sohn, schulmüde und frustriert sind.

Die COPSY-Studie, eine Studie des Unikrankenhauses Hamburg-Eppendorf (UKE), in der Kinder und ihre Eltern regelmäßig zur psychischen Belastung durch Corona befragt werden, zeigt, dass Familien, die zusammenhalten und viel Zeit miteinander verbringen, besser mit den Belastungen in der Pandemie umgehen.

Gönnen Sie sich gemeinsame Aktionen!

Es ist also wichtig, in der Familie für Ausgleich zu sorgen. Das ist leichter gesagt als getan, denn Eltern sind durch die Pandemie oft mindestens genauso gestresst und angestrengt wie ihre Kinder. Umso wertvoller ist die gegenseitige Wertschätzung für gemeisterte Schul- und Arbeitstage mit dem Ausblick auf gemeinsame Aktionen am Wochenende, zum Beispiel Geocaching-Touren, Schnitzeljagden, ein feierliches Essen, Wellnesstage mit Kopf-, Rücken- oder Handmassagen. Bei Regenwetter sind ein Lesemarathon, ein Pingpong-Turnier auf dem Esszimmertisch oder ein Pfützenspringwettbewerb eine Option. Auch das ehrliche Gespräch darüber, dass die Pandemie für alle schwer ist, tut Familien gut.

Kinder merken so, dass ihre Eltern auch damit zu kämpfen haben und dass jeder in der Familie ein Mitspracherecht hat. Überlegen Sie sich im Familienrat, was Sie brauchen und was Sie als Familie aufmuntert. Für das menschliche Wohlbefinden ist außerdem Sport sehr wichtig. Er schafft körperlichen Ausgleich und Gemeinschaft. Wir Eltern sind so auf den Geschmack von langen Schnellschritt-Spaziergängen oder Joggingtouren gekommen. Unsere Kinder haben während Corona Fitnessvideos auf YouTube für sich entdeckt. Vielleicht ist das auch etwas für Ihren Sohn?

Holen Sie Ihrem Kind Hilfe!

Auch Klassenkameraden und Freunde helfen gegen Coronablues und Schulmüdigkeit. Selbst in Pandemiezeiten sollte Ihr Kind mindestens ein bis zwei Kinder regelmäßig treffen dürfen.

Wenn Ihr Kind sich trotz allen Vorschlägen gar nicht mehr für die Schule motivieren kann und nur noch deprimiert ist, möchte ich Sie ermutigen, auf den Schulpsychologen oder den Schulsozialarbeiter zuzugehen. Gönnen Sie Ihrem Kind die psychologische Unterstützung, die wesentlich mehr Kinder im Moment brauchen. Ihr Kind ist da nicht allein und es hilft ihm, seinen Weg fröhlicher zu gehen.

Stefanie Böhmann ist Pädagogin und individual-psychologische Beraterin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

„Mein Kind ist ständig traurig“ – Checkliste, wann sie reagieren sollten

Ist mein Kind depressiv? Acht Anzeichen können Eltern bei der Entscheidung helfen, ob ihr Sohn oder ihre Tochter professionelle Hilfe brauchen.

Wenn Kinder ständig niedergeschlagen wirken, dann besorgt das die meisten Eltern – zurecht! Denn Kinder sind grundsätzlich eher fröhlich und entdeckungsfreudig, auch wenn es natürlich Unterschiede im Naturell gibt, so wie bei Erwachsenen auch. Wenn Ihr Kind Ihnen ungewöhnlich traurig erscheint, sollten Sie genauer hinschauen. Denn auch Kinder können eine Depression entwickeln. Folgende Checkliste hilft Ihnen bei der Einschätzung des Problems:

  • Wie lange ist das schon so? Wenn die Stimmung zwei Wochen oder länger schlechter ist als sonst, dann wird es ernst.
  • Gibt es bestimmte Stressfaktoren, die kurz vor dem Stimmungstief aufgetreten sind, und lassen sich diese eventuell mildern? Werden sie sehr bald von selbst enden (zum Beispiel in der Prüfungsphase), sodass eine Besserung realistisch ist? Wenn das der Fall ist und Sie keine akute Gefährdung sehen, kann es sich lohnen, ein bis zwei Wochen abzuwarten.

Schlafprobleme und Schmerzen?

  • Zeigt Ihr Kind zusätzliche körperliche Auffälligkeiten wie weniger oder mehr Appetit, Schlafprobleme, Müdigkeit, Schmerzen …? Auch das können Anzeichen einer Depression sein.
  • Hat Ihr Kind das Interesse an Aktivitäten oder Themen verloren, für die es sich sonst begeistert hat?
  • Zieht sich Ihr Kind zunehmend zurück und vermeidet Kontakte? Auch das ist ein wichtiges Alarmzeichen für eine Depression.

Spricht es vom Wunsch zu sterben?

  • Ist Ihr Kind neben der Betrübtheit auch gereizt oder genervt?
  • Spricht Ihr Kind sehr schlecht über sich selbst, zeigt es Probleme im Selbstbewusstsein?
  • Benennt es vielleicht sogar den Wunsch, lieber tot zu sein? Wenn das der Fall ist, sollten Sie sofort handeln und sich an die nächste Kinder- und Jugendpsychiatrie wenden (notfalls auch erfragen unter der Telefonnummer 112).

Erziehungsberatungsstellen können helfen

Wenn ein oder mehrere Kriterien erfüllt sind, dann sollten Sie besonnen, aber entschlossen reagieren. Erklären Sie Ihrem Kind, dass Sie sich Sorgen machen, weil Sie spüren, dass es ihm nicht gut geht. Und dass Sie wollen, dass es ihm besser geht und sich deswegen um Hilfe kümmern.

Holen Sie professionelle Hilfe zum Beispiel bei einer Erziehungsberatungsstelle (Adressen finden Sie unter dajeb.de) oder einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie. Dort gibt es meist lange Wartelisten, man kann die Wartezeit aber gut mit Terminen in einer Erziehungsberatungsstelle überbrücken. Dort gibt es Angebote sowohl für das Kind allein als auch für die Eltern oder die ganze Familie, je nachdem, was sich als passend herausstellt.

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin (neuewege.me).

Sorgenkind: „Mama, ich bin mal wieder dabei, mein Leben an die Wand zu fahren!“

Hochbegabt, gemobbt und depressiv: Ihr Erstgeborenes ist ein echtes Sorgenkind. Ehrliche Einblicke einer Mutter.

Dieser Artikel erzählt von unserem Erstgeborenen. Wobei mir wichtig ist zu betonen, dass der Begriff „Sorgenkind“ nur eine Seite unserer Geschichte darstellt. Unser Sohn ist auch oder vor allem ein toller Kerl! Blitzgescheit, fantasievoll, kreativ und begeisterungsfähig. Als Ältester hat er mit seinem Wissensdurst und seinen sprudelnden Ideen wertvolle Weichen für unser Familienleben gestellt.

Aber was heißt überhaupt Sorgenkind? Sorgenmachen gehört doch zum Elternsein dazu, genauso wie Lachen, Streiten und Pausenbrote. Jedes Kind ist mal ein Sorgenkind, zumindest phasenweise. Ein chinesisches Sprichwort lautet: „Du kannst nicht verhindern, dass die Vögel der Sorge über deinem Kopf kreisen, aber du kannst verhindern, dass sie Nester bauen.“

Sorgenkinder sorgen allerdings dafür, dass diese Vögel sehr penetrant werden. Sie kreisen ausdauernd und dicht über elterlichen Köpfen. Manchmal dringt kaum noch die Sonne durch ihre Flügel, und der Kampf gegen ihre Nester ist schwer. Aber natürlich haben alle Eltern die berechtigte Hoffnung, dass diese Plagegeister im Laufe der Jahre ihren Radius immer weiter ziehen und schließlich ganz verschwinden.

Hochbegabtes Schreibaby?

Ich habe mit einigen Sorgenkind-Eltern gesprochen – beruflich und privat. Die Palette ist bunt. Sie reicht von chronischen Krankheiten über Verhaltensauffälligkeiten und massiven Lernproblemen bis hin zu vielfältigen psychischen Problemen wie sozialen Ängsten, Essstörungen, Selbstverletzung …

Mein Mann und ich allerdings starteten jung und völlig sorglos in unser Abenteuer Familie. Zwar wurden wir überrascht von den Komplikationen rund um die Geburt, aber als wir unseren Sohn in den Armen halten durften, waren wir überzeugt, vor uns liege nun ein Weg voller Harmonie und Freude. Dieser Weg war leider sehr kurz, denn unser Kind entpuppte sich als Schreibaby. Wer das selbst erlebt hat, kennt alle Facetten elterlicher Erschöpfung und Verzweiflung.

Als Kleinkind erlebten wir ihn aufgeweckt und neugierig, aber auch weiterhin unruhig und zu heftigen Wutausbrüchen neigend. Aufgrund seiner guten Sprachentwicklung äußerte schon früh jemand in unserem Umfeld den Verdacht der Hochbegabung. Tatsächlich interessierten ihn Gleichaltrige wenig, stattdessen brachte er sich schon im Kindergartenalter selbst das Lesen bei. Bücher wurden seine besten Freunde.

Ausgegrenzt und gemobbt

Die starke Diskrepanz zwischen sozial-emotionaler und kognitiver Entwicklung wurde immer deutlicher. Wie schon im Kindergarten fiel er auch bald in der Schule durch seine Unruhe und sein Verhalten auf. Wir suchten Rat bei Fachleuten und ließen ihn eine Klasse überspringen. Das half nur kurz. Er blieb ein Problemschüler – ging ungern hin, war unterfordert und überfordert zugleich und eckte häufig an. Unsere Hoffnung, dass es auf dem Gymnasium besser werden würde, erfüllte sich nicht. Es kamen Ausgrenzung und Mobbing hinzu. Unser Sohn litt und wir mit ihm. Wir taten, was wir konnten, um ihn zu trösten und zu stärken. Eine neuerliche Diagnose ergab neben der Hochbegabung auch Anzeichen von ADHS und dem Asperger-Syndrom. Aber irgendwie passte er in keine Schublade. Die vorgeschlagenen Medikamente und Therapien überzeugten uns nicht.

In den Pubertätsjahren entspannte sich die Lage erstaunlicherweise. Unser Sohn wurde ruhiger, seine sozialen Fähigkeiten reiften. Er fand einen netten, kleinen Freundeskreis, der Schulbesuch wurde weniger verhasst. Die letzten beiden Schuljahre waren unbeschwert wie nie zuvor. An seinem Abiball hörte ich zum ersten Mal aus dem Mund eines Lehrers: „Sie haben einen tollen Sohn!“ Er ahnte sicher nicht, welch Balsam das für mein Mutterherz war.

Depression nach Liebeskummer

Nun schien alles rundzulaufen. Er bekam seinen Traumstudienplatz in unserer Stadt, spielte in einer Jugendband und erlebte seine erste Liebe. Wie waren wir erleichtert und dankbar! Wir hatten unser Kind mit Gottes Hilfe durch eine schwierige Kindheit begleitet, und nun wurde es erwachsen und es war an der Zeit, Schritt um Schritt loszulassen.

Der erste Liebeskummer setzte unseren Hoffnungen ein jähes Ende. Unser Sohn rutschte in kürzester Zeit in eine Depression. Er zog sich von seinen Freunden zurück, ging nicht mehr zu den Vorlesungen und schmiss schließlich sein Studium. Auch uns ließ er nicht mehr an sich heran. Unser Drängen, professionelle Hilfe anzunehmen, stieß auf taube Ohren. Er war seit Kurzem volljährig und bestand darauf, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Nach einigen schweren Wochen überraschte er uns schließlich mit der Nachricht, er habe sich für ein Psychologiestudium beworben und eine Zulassung in einer anderen Stadt erhalten. Wir schluckten unsere Bedenken hinunter und halfen ihm bei Zimmersuche und Umzug. Dann war es so weit – unser erstes Kind verließ das Nest.

Hochs und Tiefs im Studium

In den folgenden Wochen brodelten in mir die widersprüchlichsten Gefühle. Neben die Sorge, dass mein verletzliches Kind nun ganz allein in einer fremden Stadt zurechtkommen musste, mischte sich Stolz auf seinen Mut, trotz aller Hindernisse voranzugehen. Und obwohl ich ihn sehr vermisste, machte sich auch ein gewisses Gefühl der Erleichterung breit – gefolgt von typisch mütterlichen Schuldgefühlen. Doch unser Sohn fand sich erstaunlich schnell zurecht, genoss die neue Freiheit und reifte an der Selbstständigkeit. Er fand gute Freunde, das Studienfach begeisterte ihn. An dieser Stelle gäbe es nun zum zweiten Mal die Option für ein Happy End.

Tatsächlich aber konnten auch die guten Umstände nicht verhindern, dass die Depression ihn in Abständen immer wieder einholte. In diesen Phasen vernachlässigte er sein Studium, aber auch soziale und finanzielle Verpflichtungen, was zu zusätzlichen Problemen führte. Obwohl ich dankbar war, dass er mittlerweile darüber sprechen konnte, traf es mich doch bis ins Mark, wenn er am Telefon weinte: „Mama, ich bin mal wieder dabei, mein Leben an die Wand zu fahren!“

Für uns Eltern war es schwer, in diesen Momenten Hunderte von Kilometern entfernt zu sein. Wie oft haben wir ihn aus der Ferne und unter Tränen im Gebet in Gottes liebende und heilende Hände gelegt. Wie schon durch seine Schulzeit haben wir ihn auch durch dieses Studium hindurchgebetet. Er hat nach vielen zusätzlichen Semestern tatsächlich einen guten Abschluss geschafft.

Mann und Freunde helfen bei Sorgenkind

Wenn ich heute zurückschaue, staune ich, dass unsere Familie entgegen mancher Prognosen so gut durch diese Jahre gekommen ist. Sorgenkinder belasten und gefährden nicht selten die seelische Gesundheit und die Ehe der Eltern. Auch Geschwisterkinder leiden unter den Spannungen. Sie fühlen sich oft übersehen oder spüren den Druck, dass doch wenigstens sie gut funktionieren sollten.

In unserer Familie war wohl ich es, die am dichtesten dran war. Mir halfen vor allem mein Mann, der die Last mit mir teilte, aber auch offene Gespräche mit guten Freunden. Trotzdem gab es immer wieder Zeiten, in denen ich mich schwach, verzweifelt und hilflos fühlte – aber tatsächlich nie allein! Keine Lektion meines Lebens hat mich tiefer gelehrt, was es heißt, alle Sorgen auf Gott zu werfen und ihm zu vertrauen. Unser Sohn ist mittlerweile ein erwachsener Mann. Wir stehen in gutem Kontakt und sind dankbar, dass er an seinem Wohnort einen stabilen Freundeskreis und eine Gemeinde gefunden hat. Er hat gelernt, Depressionsschübe rechtzeitig zu erkennen und lässt sich professionell helfen. Allerdings gestaltet sich sein Berufsweg bisher noch eher holprig, und auch im Privaten läuft längst nicht alles rund. Die Vögel kreisen noch! Und wir Eltern leben weiterhin in der Spannung zwischen Sorge und Zuversicht. Und in der festen Hoffnung, dass alles in guten Händen liegt.

Die Autorin möchte anonym bleiben, um ihren Sohn zu schützen.

Facharzt: „Psychische Belastungen bei Jugendlichen sind durch die Lockdowns gestiegen“

Vor allem Depressionen und Angststörungen treten bei Jugendlichen durch die Corona-Pandemie verstärkt auf. Von einer „verlorenen Generation“ will Professor Paul Plener im Interview aber nicht sprechen.

Was sind die häufigsten psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Die Liste wird angeführt von den Angststörungen in verschiedenen Formen. Gerade im Jugendalter nehmen soziale Ängste deutlich zu, was damit zu tun hat, dass das Orientieren im Raum der gleichaltrigen sozialen Kontakte eine hohe Wertigkeit hat. Außerdem sind es im Jugendalter auch affektive Erkrankungen, Depressionen zum Beispiel. Wir sehen auch vermehrt Erkrankungen mit Substanzkonsum. Prinzipiell ist das Jugendalter aufgrund der vielen Umbauvorgänge im Gehirn eine Altersperiode, in der sich viele psychische Erkrankungen zum ersten Mal manifestieren.

Was sind Ursachen für diese Erkrankungen?

Es gibt relativ unspezifische Risikofaktoren, von denen wir wissen, dass sie das Risiko von verschiedenen psychischen Erkrankungen beeinflussen, zum Beispiel der sozioökonomische Status, also das Aufwachsen unter finanziell schwächeren Bedingungen. Auch Misshandlungs-, Missbrauchs- und Vernachlässigungserlebnisse erhöhen bei vielen psychischen Krankheiten das Risiko. Es gibt auch einen Einfluss genetischer Faktoren. Der ist, je nach Krankheit, geringer oder deutlicher ausgeprägt. Und natürlich ist nicht zu leugnen, dass es viele Erkrankungen gibt, bei denen es einen starken soziokulturellen Einfluss gibt, etwa bei den Essstörungen, wo das zwar nicht als alleinige Ursache zu nehmen ist, er aber trotzdem auch immer mitprägt.

Wer ist schuld?

Die meisten Eltern fühlen sich schuldig, wenn ihr Kind an einer psychischen Erkrankung leidet. Zu Recht?

Wenn man als Familie betroffen ist, hat man ja oft das Gefühl, es trifft nur einen selbst. Und das ist oft begleitet von dem Stigma, dass es gegenüber psychischen Krankheiten gibt, dass man da als Eltern etwas falsch gemacht hätte. Es gibt natürlich Erkrankungen, bei denen Eltern die Verantwortung übernehmen müssen. Wenn es zum Beispiel zu einem Rosenkrieg in Folge einer Trennung gekommen ist, bei dem die Kinder massiv in Mitleidenschaft gezogen wurden, oder bei Vernachlässigungs- oder Misshandlungserlebnissen. Da können sich die Eltern nicht aus der Verantwortung nehmen, sondern nur versuchen, sich anders zu verhalten. Aber gerade bei genetischen Ursachen oder bei Erkrankungen, die damit zu tun haben, was im Gleichaltrigen-Umfeld passiert, zum Beispiel Mobbing –was ein massiver Risikofaktor für psychische Erkrankungen ist –, haben Eltern in der Ursache erst einmal wenig damit zu tun.

Eltern von Jugendlichen haben oft das Problem, dass sie sich, anders als bei jüngeren Kindern, nicht so gut mit anderen Eltern über die psychische Erkrankung ihres Kindes austauschen können, weil die Jugendlichen das nicht wollen. Wie können Eltern damit umgehen?

Ich denke, dass sich generell Eltern nur mit anderen Eltern austauschen sollten, wenn das mit den Kindern oder Jugendlichen abgesprochen ist. Es wäre angebracht, dass man das vor den Jugendlichen transparent macht und auch die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit thematisiert. Oder die eigene Belastung, die sich ergibt. Eltern können sagen: „Ich habe damit ein Problem und es ist mir wichtig, einen Austausch darüber zu haben.“ Ich finde es auch legitim, wenn die Jugendlichen nicht wollen, dass ihre Eltern im Familienkreis beispielsweise über ihre Essstörung sprechen. Aber es gibt ja auch professionelle Hilfe, an die man sich wenden kann, Familienberatungsstellen und ähnliches. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, die Jugendliche akzeptieren können, weil es da eine Schweigepflicht gibt. Wichtig ist, die eigene Betroffenheit zu thematisieren und zu sagen, dass man selbst ratsuchend ist.

Wann sollte ich mir Hilfe von außen holen?

Wann sollten Eltern für ihren Jugendlichen professionelle Hilfe holen bzw. ihr erwachsenes Kind dazu motivieren?

Ich glaube, dass zunächst einmal viele Familien eigene Lösungen suchen. Und das ist auch prinzipiell gut so, dass man überlegt: Was kann ich aus dem eigenen System für Ressourcen aktivieren? Das müssen ja nicht nur die Eltern sein, das können auch Tanten, Onkel, Großeltern sein, die vielleicht gerade in einer Entwicklungsphase, in der Jugendliche mehr Konflikte mit den Eltern haben, einen besseren Zugang haben. Aber wenn man sieht, dass diese familiären Ressourcen erschöpft sind oder dass die Situation, die der Jugendliche hat, zur Belastung für die Familie wird, dann ist auch der Punkt gekommen, wo ich aus meiner Sicht sage: Da braucht es Hilfe von außen. Natürlich auch, wenn es ganz akut ist, wenn Gedanken geäußert werden, nicht mehr leben zu wollen. Da braucht es sofort eine Abklärung von außen.

Welche Auswirkungen haben die Lockdowns aufgrund der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Es gibt mittlerweile eine relativ gute Datenlage – weltweit, aber auch aus den deutschsprachigen Ländern. Vor allem bei diesen längeren Lockdown-Bedingungen, die wir gegen Ende des letzten, Anfang diesen Jahres hatten und noch haben, sehen wir, dass es zu einer deutlichen Belastung der Jugendlichen kommt. Studien zeigen, dass die Rate der psychischen Belastungen gestiegen ist. Wir haben eine Studie unter mehreren tausend österreichischen Jugendlichen gemacht, in der wir zeigen konnten, dass mehr als die Hälfte der Befragten über mittelgradige bis schwergradige depressive Symptome berichten und etwa die Hälfte über Angststörungen. Das ist eine Auswirkung, die wir weltweit sehen. Und da ist die Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen auch weltweit diejenige, die am stärksten belastet zu sein scheint.

Manche sprechen schon von einer „verlorenen“ Generation.

Das ist ein Begriff, den ich für unzulässig halte. Der kommt ein bisschen aus dieser Idee heraus: „Die haben ja alle nur zu Hause herumgesessen, und es ist nichts passiert.“ Das vermag ich so nicht zu sehen. Denn auch wenn bei den klassischen Lerninhalten weniger passiert ist, so ist doch im Lernen einiges weitergegangen. Viele Jugendliche haben fundamentale Lernerfahrungen gemacht, was digitales Lernen angeht, aber auch, was das Thema Selbstorganisation und Strukturierung angeht. Diese Themen stehen zwar nicht im Lehrplan, aber trotzdem gab es in diesem Jahr einen immensen Lernzuwachs auf vielen anderen Ebenen.

Wie kann ich Angsstörung und Depression erkennen?

Sie haben gerade gesagt, dass vor allem Depressionen und Angststörungen im Lockdown häufiger zu beobachten sind. Wie können Eltern denn erkennen, dass das ein ernstzunehmendes Problem ist?

Es geht immer um das Erkennen von Veränderungen. Das Kernkriterium der Angststörung ist, dass – oft mit großer Anstrengung – Situationen vermieden werden, vor denen die Betroffenen Angst haben, auch wenn man davor eigentlich keine Angst haben muss. Das klassische Beispiel ist die Spinnenphobie: Die Spinne wird einen nicht töten. Trotzdem verlassen Menschen beim Anblick einer Spinne panisch den Raum, wenn sie eine Spinnenphobie haben. Es wird ein Verhalten vermieden oder es kommt zu einem irrationalen Verhalten, weil wir eine Stresskaskade lostreten, die unserem Körper innewohnt. Eigentlich ist diese Reaktion für Situationen gedacht, die tatsächlich bedrohlich sind. Aber hier werden Situationen, die objektiv nicht bedrohlich sind, vom Körper und von der Psyche als bedrohlich wahrgenommen.

Bei der Depression nehmen die meisten Eltern zuerst einen sozialen Rückzug wahr. Das ist im Lockdown natürlich schwer zu erkennen, weil das Nach-draußen-Gehen ohnehin sehr stark limitiert ist. Man kann auch wahrnehmen, dass betroffene Jugendliche sich von der Familie zurückziehen, was aber natürlich auch ein tendenziell typisches Jugendverhalten ist. Aber wenn es wieder Möglichkeiten gibt, sich mit anderen zu treffen oder in die Schule zu gehen oder andere Aktivitäten auszuüben, werden diese von betroffenen Jugendlichen nicht mehr wahrgenommen. Das andere Anzeichen, das viele schildern, die an einer Depression leiden, ist ein Antriebs- oder Energieverlust. Sie schaffen es morgens nicht mehr aus dem Bett und schaffen es auch gar nicht mehr, am Distanzlernen teilzunehmen. Viele beklagen eine Konzentrationsproblematik oder Schlafstörungen. Und was wir vielfach erlebt haben im Rahmen der Corona-Pandemie, war eine komplette Entgleisung des Tag-Nacht-Rhythmus.

Wer ist der richtige Ansprechpartner?

Was können Eltern denn tun, wenn sie denken, dass ihr Jugendlicher betroffen ist?

Zuerst sollte man sagen, was man selbst wahrnimmt und das als Ich-Botschaft formulieren. Das gibt dem Jugendlichen die Möglichkeit, zu sagen: „Das ist deine Perspektive, meine schaut anders aus.“ Natürlich wäre es vermessen zu glauben, dass man als Elternteil damit immer weit kommt bei Jugendlichen. Weil sie ja in einer Entwicklungsphase sind, wo die Gleichaltrigen eine höhere Wertigkeit im Austausch haben, gerade, wenn es um Probleme geht. Wenn der Jugendliche das Gespräch blockiert, kann man überlegen, wen es im familiären System gibt, der vielleicht besser geeignet ist, ein solches Gespräch zu führen. Wer wird von dem Jugendlichen eher als Gesprächspartner angenommen? Wenn auch da nichts weitergeht, kann man sagen: „Ich habe große Sorgen, ich weiß nicht weiter. Können wir uns bitte an jemanden wenden, der Profi ist? Und wenn der sagt, es ist alles in Ordnung, dann nehme ich das zur Kenntnis und dann ist es für mich auch gut. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl und hätte gern, dass wir gemeinsam zu jemandem gehen, der sich das anschaut.“

Sie betonen in Ihrem Buch „Sie brauchen uns jetzt“, dass es wichtig ist, dass Eltern sich ihrer eigenen Werte und Gefühle bewusst sind. Warum?

Wir leben in sehr herausfordernden Zeiten. In Zeiten, die eine extreme Flexibilität und Anpassung von uns fordern. Und es fällt generell Menschen leichter, sich anzupassen, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, was ihnen wichtig ist. Wenn es darauf ankommt, mich verändern zu müssen und Entscheidungen zu treffen, geht es immer auch um Priorisierungen. Ich muss abwägen: Kann ich auf das eine verzichten oder auf das andere? Und da tun sich Leute wesentlich leichter, die folgende Fragen beantworten können: Was hat in meinem Leben eine zentrale Bedeutung? Was muss ich unbedingt aufrechterhalten, damit ich mein Leben führen kann? Wo stecke ich Anstrengungen rein, um das aufrechtzuerhalten? Und wo ist es auch okay, wenn Dinge gerade nicht sein können? Das fällt natürlich Leuten leichter, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, wo ihre Prioritäten liegen.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Prof. Dr. Paul Plener studierte Medizin und absolvierte eine Facharztausbildung für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie in Ulm. 2018 übernahm er nach leitenden Funktionen in Deutschland die Professur für Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Leitung der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien/Universitätsklinikum AKH. Er ist neben vielen weiteren Funktionen Mitglied des während der Corona-Krise eingerichteten psychosozialen Krisenstabs der Stadt Wien.

Das Interview führte FamilyNEXT-Redakteurin Bettina Wendland.

„Psychische Belastungen sind durch die Lockdowns gestiegen“

Vor allem Depressionen und Angststörungen treten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie verstärkt auf. Von einer „verlorenen Generation“ will Prof. Dr. Paul Plener aber nicht sprechen. Im FamilyNEXT-Interview erklärt er, welche psychischen Erkrankungen allgemein im Jugendalter häufig vorkommen und wie Eltern damit umgehen können.

Was sind die häufigsten psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Die Liste wird angeführt von den Angststörungen in verschiedenen Formen. Gerade im Jugendalter nehmen soziale Ängste deutlich zu, was damit zu tun hat, dass das Orientieren im Raum der gleichaltrigen sozialen Kontakte eine hohe Wertigkeit hat. Außerdem sind es im Jugendalter auch affektive Erkrankungen, Depressionen zum Beispiel. Wir sehen auch vermehrt Erkrankungen mit Sub-stanzkonsum. Prinzipiell ist das Jugendalter aufgrund der vielen Umbauvorgänge im Gehirn eine Altersperiode, in der sich viele psychische Erkrankungen zum ersten Mal manifestieren.

Was sind Ursachen für diese Erkrankungen?

Es gibt relativ unspezifische Risikofaktoren, von denen wir wissen, dass sie das Risiko von verschiedenen psychischen Erkrankungen beeinflussen, zum Beispiel der sozioökonomische Status, also das Aufwachsen unter finanziell schwächeren Bedingungen. Auch Misshandlungs-, Missbrauchs- und Vernachlässigungserlebnisse erhöhen bei vielen psychischen Krankheiten das Risiko. Es gibt auch einen Einfluss genetischer Faktoren. Der ist, je nach Krankheit, geringer oder deutlicher ausgeprägt. Und natürlich ist nicht zu leugnen, dass es viele Erkrankungen gibt, bei denen es einen starken soziokulturellen Einfluss gibt, etwa bei den Essstörungen, wo das zwar nicht als alleinige Ursache zu nehmen ist, er aber trotzdem auch immer mitprägt.

Die meisten Eltern fühlen sich schuldig, wenn ihr Kind an einer psychischen Erkrankung leidet. Zu Recht?

Wenn man als Familie betroffen ist, hat man ja oft das Gefühl, es trifft nur einen selbst. Und das ist oft begleitet von dem Stigma, dass es gegenüber psychischen Krankheiten gibt, dass man da als Eltern etwas falsch gemacht hätte. Es gibt natürlich Erkrankungen, bei denen Eltern die Verantwortung übernehmen müssen. Wenn es zum Beispiel zu einem Rosenkrieg in Folge einer Trennung gekommen ist, bei dem die Kinder massiv in Mitleidenschaft gezogen wurden, oder bei Vernachlässigungs- oder Misshandlungserlebnissen. Da können sich die Eltern nicht aus der Verantwortung nehmen, sondern nur versuchen, sich anders zu verhalten. Aber gerade bei genetischen Ursachen oder bei Erkrankungen, die damit zu tun haben, was im Gleichaltrigen-Umfeld passiert, zum Beispiel Mobbing –was ein massiver Risikofaktor für psychische Erkrankungen ist –, haben Eltern in der Ursache erst einmal wenig damit zu tun.

Eltern von Jugendlichen haben oft das Problem, dass sie sich, anders als bei jüngeren Kindern, nicht so gut mit anderen Eltern über die psychische Erkrankung ihres Kindes austauschen können, weil die Jugendlichen das nicht wollen. Wie können Eltern damit umgehen?

Ich denke, dass sich generell Eltern nur mit anderen Eltern austauschen sollten, wenn das mit den Kindern oder Jugendlichen abgesprochen ist. Es wäre angebracht, dass man das vor den Jugendlichen transparent macht und auch die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit thematisiert. Oder die eigene Belastung, die sich ergibt. Eltern können sagen: „Ich habe damit ein Problem und es ist mir wichtig, einen Austausch darüber zu haben.“ Ich finde es auch legitim, wenn die Jugendlichen nicht wollen, dass ihre Eltern im Familienkreis beispielsweise über ihre Essstörung sprechen. Aber es gibt ja auch professionelle Hilfe, an die man sich wenden kann, Familienberatungsstellen und ähnliches. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, die Jugendliche akzeptieren können, weil es da eine Schweigepflicht gibt. Wichtig ist, die eigene Betroffenheit zu thematisieren und zu sagen, dass man selbst ratsuchend ist.

Wann sollten Eltern für ihren Jugendlichen professionelle Hilfe holen bzw. ihr erwachsenes Kind dazu motivieren?

Ich glaube, dass zunächst einmal viele Familien eigene Lösungen suchen. Und das ist auch prinzipiell gut so, dass man überlegt: Was kann ich aus dem eigenen System für Ressourcen aktivieren? Das müssen ja nicht nur die Eltern sein, das können auch Tanten, Onkel, Großeltern sein, die vielleicht gerade in einer Entwicklungsphase, in der Jugendliche mehr Konflikte mit den Eltern haben, einen besseren Zugang haben. Aber wenn man sieht, dass diese familiären Ressourcen erschöpft sind oder dass die Situation, die der Jugendliche hat, zur Belastung für die Familie wird, dann ist auch der Punkt gekommen, wo ich aus meiner Sicht sage: Da braucht es Hilfe von außen. Natürlich auch, wenn es ganz akut ist, wenn Gedanken geäußert werden, nicht mehr leben zu wollen. Da braucht es sofort eine Abklärung von außen.

Welche Auswirkungen haben die Lockdowns aufgrund der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Es gibt mittlerweile eine relativ gute Datenlage – weltweit, aber auch aus den deutschsprachigen Ländern. Vor allem bei diesen längeren Lockdown-Bedingungen, die wir gegen Ende des letzten, Anfang diesen Jahres hatten und noch haben, sehen wir, dass es zu einer deutlichen Belastung der Jugendlichen kommt. Studien zeigen, dass die Rate der psychischen Belastungen gestiegen ist. Wir haben eine Studie unter mehreren tausend österreichischen Jugendlichen gemacht, in der wir zeigen konnten, dass mehr als die Hälfte der Befragten über mittelgradige bis schwergradige depressive Symptome berichten und etwa die Hälfte über Angststörungen. Das ist eine Auswirkung, die wir weltweit sehen. Und da ist die Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen auch weltweit diejenige, die am stärksten belastet zu sein scheint.

Manche sprechen schon von einer „verlorenen“ Generation.

Das ist ein Begriff, den ich für unzulässig halte. Der kommt ein bisschen aus dieser Idee heraus: „Die haben ja alle nur zu Hause herumgesessen, und es ist nichts passiert.“ Das vermag ich so nicht zu sehen. Denn auch wenn bei den klassischen Lerninhalten weniger passiert ist, so ist doch im Lernen einiges weitergegangen. Viele Jugendliche haben fundamentale Lernerfahrungen gemacht, was digitales Lernen angeht, aber auch, was das Thema Selbst- organisation und Strukturierung angeht. Diese Themen stehen zwar nicht im Lehrplan, aber trotzdem gab es in diesem Jahr einen immensen Lernzuwachs auf vielen anderen Ebenen.

Sie haben gerade gesagt, dass vor allem Depressionen und Angststörungen im Lockdown häufiger zu beobachten sind. Wie können Eltern denn erkennen, dass das ein ernstzunehmendes Problem ist?

Es geht immer um das Erkennen von Veränderungen. Das Kernkriterium der Angststörung ist, dass – oft mit großer Anstrengung – Situationen vermieden werden, vor denen die Betroffenen Angst haben, auch wenn man davor eigentlich keine Angst haben muss. Das klassische Beispiel ist die Spinnenphobie: Die Spinne wird einen nicht töten. Trotzdem verlassen Menschen beim Anblick einer Spinne panisch den Raum, wenn sie eine Spinnenphobie haben. Es wird ein Verhalten vermieden oder es kommt zu einem irrationalen Verhalten, weil wir eine Stresskaskade lostreten, die unserem Körper innewohnt. Eigentlich ist diese Reaktion für Situationen gedacht, die tatsächlich bedrohlich sind. Aber hier werden Situationen, die objektiv nicht bedrohlich sind, vom Körper und von der Psyche als bedrohlich wahrgenommen. Bei der Depression nehmen die meisten Eltern zuerst einen sozialen Rückzug wahr. Das ist im Lockdown natürlich schwer zu erkennen, weil das Nach-draußen-Gehen ohnehin sehr stark limitiert ist. Man kann auch wahrnehmen, dass betroffene Jugendliche sich von der Familie zurückziehen, was aber natürlich auch ein tendenziell typisches Jugendverhalten ist. Aber wenn es wieder Möglichkeiten gibt, sich mit anderen zu treffen oder in die Schule zu gehen oder andere Aktivitäten auszuüben, werden diese von betroffenen Jugendlichen nicht mehr wahrgenommen. Das andere Anzeichen, das viele schildern, die an einer Depression leiden, ist ein Antriebs- oder Energieverlust. Sie schaffen es morgens nicht mehr aus dem Bett und schaffen es auch gar nicht mehr, am Dis-tanzlernen teilzunehmen. Viele beklagen eine Konzentrationsproblematik oder Schlafstörungen. Und was wir vielfach erlebt haben im Rahmen der Corona-Pandemie, war eine komplette Entgleisung des Tag-Nacht-Rhythmus.

Was können Eltern denn tun, wenn sie denken, dass ihr Jugendlicher betroffen ist?

Zuerst sollte man sagen, was man selbst wahrnimmt und das als Ich-Botschaft formulieren. Das gibt dem Jugendlichen die Möglichkeit, zu sagen: „Das ist deine Perspektive, meine schaut anders aus.“ Natürlich wäre es vermessen zu glauben, dass man als Elternteil damit immer weit kommt bei Jugendlichen. Weil sie ja in einer Entwicklungsphase sind, wo die Gleichaltrigen eine höhere Wertigkeit im Austausch haben, gerade, wenn es um Probleme geht. Wenn der Jugendliche das Gespräch blockiert, kann man überlegen, wen es im familiären System gibt, der vielleicht besser geeignet ist, ein solches Gespräch zu führen. Wer wird von dem Jugendlichen eher als Gesprächspartner angenommen? Wenn auch da nichts weitergeht, kann man sagen: „Ich habe große Sorgen, ich weiß nicht weiter. Können wir uns bitte an jemanden wenden, der Profi ist? Und wenn der sagt, es ist alles in Ordnung, dann nehme ich das zur Kenntnis und dann ist es für mich auch gut. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl und hätte gern, dass wir gemeinsam zu jemandem gehen, der sich das anschaut.“

Sie betonen in Ihrem Buch „Sie brauchen uns jetzt“, dass es wichtig ist, dass Eltern sich ihrer eigenen Werte und Gefühle bewusst sind. Warum?

Wir leben in sehr herausfordernden Zeiten. In Zeiten, die eine extreme Flexibilität und Anpassung von uns fordern. Und es fällt generell Menschen leichter, sich anzupassen, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, was ihnen wichtig ist. Wenn es darauf ankommt, mich verändern zu müssen und Entscheidungen zu treffen, geht es immer auch um Priorisierungen. Ich muss abwägen: Kann ich auf das eine verzichten oder auf das andere? Und da tun sich Leute wesentlich leichter, die folgende Fragen beantworten können: Was hat in meinem Leben eine zentrale Bedeutung? Was muss ich unbedingt aufrechterhalten, damit ich mein Leben führen kann? Wo stecke ich Anstrengungen rein, um das aufrechtzuerhalten? Und wo ist es auch okay, wenn Dinge gerade nicht sein können? Das fällt natürlich Leuten leichter, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, wo ihre Prioritäten liegen.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Das Interview führte FamilyNEXT-Redakteurin Bettina Wendland.

Will mein Kind sich umbringen?

„Meine Tochter (6) droht mir manchmal an, sich umzubringen, wenn ich etwas von ihr verlange, sie es aber nicht tun will. Wie ernst muss ich solche Androhungen nehmen, und was kann ich dagegen tun?“

Wenn ein Kind damit droht, sich umzubringen, ist das für Eltern sicherlich erschreckend und verunsichernd. Auch wenn Selbstmorde bei Kindern unter zehn Jahren so gut wie nie vorkommen, sollte man diese Aussage nicht ignorieren, sondern sich genauer anschauen, was dahintersteckt.

Merkmale einer kindlichen Depression

Um diese Aussage zunächst besser einordnen zu können, sollte man mit seinem Kind darüber sprechen. Was versteht es darunter, sich umbringen zu wollen? Hat es eine Vorstellung davon oder hat es diesen Satz irgendwo gehört und merkt, dass es damit Aufgaben vermeiden kann, die es nicht ausführen möchte? Nehmen Sie sich Zeit, in Ruhe mit Ihrem Kind darüber zu sprechen. Zudem ist es wichtig zu beobachten, in welchen Situationen Kinder davon sprechen, sich das Leben nehmen zu wollen. Sagen sie dies nur in Situationen, in denen sie eine Aufgabe vermeiden möchten, oder sagen sie dies auch in anderen Situationen?

Wenn man das Gefühl hat, das Kind ist insgesamt trauriger, dann sollte dem weiter nachgegangen werden. Eine kindliche Depression äußert sich häufig in anderen Symptomen als im Erwachsenenalter und wird daher nicht immer direkt erkannt. So geben Kinder mit einer depressiven Verstimmung oftmals eher körperliche Beschwerden an. Zudem zeigen sie weniger Begeisterungsfähigkeit, manchmal wirken sie in sich gekehrt. Manchmal wirken sie jedoch auch unruhiger oder zeigen vermehrt aggressives Verhalten. Sollte Ihr Kind Symptome einer kindlichen Depression zeigen und in verschiedenen Situationen davon sprechen, sich umbringen zu wollen, dann sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden.

Ruf nach Aufmerksamkeit

Des Weiteren sollte man überlegen, ob es sich bei dieser Androhung um einen Ruf nach Aufmerksamkeit handeln könnte. Vielleicht gibt es Geschwister oder andere Aufgaben, die viel Aufmerksamkeit einfordern und die sechsjährige Tochter hat zurzeit das Gefühl, etwas zu kurz zu kommen? Nehmen Sie sich bewusst Zeit für das einzelne Kind und überlegen Sie, was Ihrer Tochter guttut. Welche Sprache der Liebe spricht dieses Kind? Eine Idee könnte eine spezielle Mama-Tochter-Zeit oder Papa-Tochter-Zeit sein. Dies können jeden Tag fünf Minuten sein oder auch regelmäßig längere Aktionen. Ihr Kind wird sich über diese positiven Zeiten der vollen Aufmerksamkeit freuen und die Einzelzuwendung genießen. In solchen Zeiten können Kinder gezielt Liebe und Aufmerksamkeit auftanken, die sie dann weniger über negatives Verhalten einfordern brauchen.

Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihr Kind den Satz nur gezielt dazu einsetzt, um Aufgaben zu vermeiden, dann sollten Sie darauf achten, dass Ihr Kind damit nicht durchkommt. Es sollte trotzdem seine Aufgabe erledigen. Gehen Sie in der Konfliktsituation am besten nicht darauf ein und bleiben Sie konsequent. Dann wird Ihr Kind lernen, dass es keinen Sinn hat, Sie unter Druck zu setzen, und dieses Verhalten nicht mehr zeigen.

Anna Post ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin.

Sie ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Frankfurt.

Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

 

Therapeutin erklärt: Ab diesem Moment wird Ritzen bei Jugendlichen gefährlich

18 Prozent aller Jugendlichen verletzen sich einmal im Leben selbst. Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Verena Pflug erklärt, ab wann Ritzen zu einem echten Problem wird.

„In der Klasse unserer Tochter (13) ritzen sich einige Mädchen, um Frust oder andere Gefühle abzureagieren. Auch sie hat es einmal probiert, als ihr Haustier gestorben und sie verzweifelt und traurig war. Mich bedrückt dieses Verhalten sehr. Ist so etwas harmlos oder ein Warnsignal?“

Wenn die Tochter oder der Sohn sich selbst verletzt, sind viele Eltern erst einmal schockiert und fühlen sich gleichzeitig überfordert mit der Situation. Sie fragen sich, wie sie das Verhalten ihres Kindes einordnen sollen. Ist das Verhalten noch als harmlos einzustufen oder deutet es schon auf eine psychische Erkrankung hin?

Einmal ist kein Grund zur Sorge

Es gibt viele unterschiedliche Gründe für selbstverletzendes Verhalten. Nicht immer steckt eine psychische Erkrankung dahinter. Viele Jugendliche verletzen sich einmalig selbst (etwa 18 Prozent). Manche machen es aus Neugier, weil sie erfahren haben, dass der beste Freund oder die beste Freundin es schon einmal gemacht hat. Andere probieren es aus, weil es vielleicht gerade Thema in der Schulklasse oder den Medien war. Wenn selbstverletzendes Verhalten ohne suizidale Absicht, also ohne die Absicht, sich ernsthaft etwas anzutun, einmalig auftritt, ist dies noch kein Grund zur Besorgnis.

Handeln ist wichtig

Sollte das selbstverletzende Verhalten wiederholt gezeigt werden, ist es wichtig zu handeln. Betroffene Jugendliche haben oftmals Schwierigkeiten in der Emotions- und Stressregulation. In Spannungszuständen fügen sie sich Selbstverletzungen zu, um etwa mit starken aversiven Emotionen umzugehen. Wiederholtes nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten tritt auch häufiger zusammen mit anderen psychischen Störungen auf, wie zum Beispiel depressiven Störungen, Angststörungen oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Was können Eltern tun?

Eltern sollten aufmerksam werden, wenn sie Veränderungen im Verhalten ihres Kindes beobachten. Manche Jugendliche gehen zum Beispiel nicht mehr ins Schwimmbad oder tragen keine kurzärmeligen T-Shirts oder Hosen mehr, um Arme oder Beine zu verdecken, an denen die Selbstverletzungen sichtbar würden.

Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Kind. Versuchen Sie zu erfragen, wie häufig das selbstverletzende Verhalten vorkommt, wann, warum und wie sich Ihr Kind die Selbstverletzungen zufügt. Und schätzen Sie ab: Geht es Ihrem Kind so schlecht, dass es vielleicht nicht mehr leben möchte?

Wenn Ihr Kind wiederholt selbstverletzende Verhaltensweisen aufweist, nehmen Sie das Problem ernst und wenden sich am besten direkt an einen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder Kinder- und Jugendpsychiater.

Verena Pflug ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und arbeitet am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ) der Ruhr-Universität Bochum.

„Ist ritzen gefährlich?“

„In der Klasse unserer Tochter (13) ritzen sich einige Mädchen, um Frust oder andere Gefühle abzureagieren. Auch sie hat es einmal probiert, als ihr Haustier gestorben und sie verzweifelt und traurig war. Mich bedrückt dieses Verhalten sehr. Ist so etwas harmlos oder ein Warnsignal?“

Wenn die Tochter oder der Sohn sich selbst verletzt, sind viele Eltern erst einmal schockiert und fühlen sich gleichzeitig überfordert mit der Situation. Sie fragen sich, wie sie das Verhalten ihres Kindes einordnen sollen. Ist das Verhalten noch als harmlos einzustufen oder deutet es schon auf eine psychische Erkrankung hin?

WANN WIRD RITZEN ZUR GEFAHR?

Es gibt viele unterschiedliche Gründe für selbstverletzendes Verhalten. Nicht immer steckt eine psychische Erkrankung dahinter. Viele Jugendliche verletzen sich einmalig selbst (etwa 18 Prozent). Manche machen es aus Neugier, weil sie erfahren haben, dass der beste Freund oder die beste Freundin es schon einmal gemacht hat. Andere probieren es aus, weil es vielleicht gerade Thema in der Schulklasse oder den Medien war. Wenn selbstverletzendes Verhalten ohne suizidale Absicht, also ohne die Absicht, sich ernsthaft etwas anzutun, einmalig auftritt, ist dies noch kein Grund zur Besorgnis.

Sollte das selbstverletzende Verhalten wiederholt gezeigt werden, ist es wichtig zu handeln. Betroffene Jugendliche haben oftmals Schwierigkeiten in der Emotions- und Stressregulation. In Spannungszuständen fügen sie sich Selbstverletzungen zu, um etwa mit starken aversiven Emotionen umzugehen. Wiederholtes nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten tritt auch häufiger zusammen mit anderen psychischen Störungen auf, wie zum Beispiel depressiven Störungen, Angststörungen oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.

WAS KÖNNEN SIE ALS ELTERN TUN?

Eltern sollten aufmerksam werden, wenn sie Veränderungen im Verhalten ihres Kindes beobachten. Manche Jugendliche gehen zum Beispiel nicht mehr ins Schwimmbad oder tragen keine kurzärmeligen T-Shirts oder Hosen mehr, um Arme oder Beine zu verdecken, an denen die Selbstverletzungen sichtbar würden.

Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Kind. Versuchen Sie zu erfragen, wie häufig das selbstverletzende Verhalten vorkommt, wann, warum und wie sich Ihr Kind die Selbstverletzungen zufügt. Und schätzen Sie ab: Geht es Ihrem Kind so schlecht, dass es vielleicht nicht mehr leben möchte?

Wenn Ihr Kind wiederholt selbstverletzende Verhaltensweisen aufweist, nehmen Sie das Problem ernst und wenden sich am besten direkt an einen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder Kinder- und Jugendpsychiater.

Verena Pflug ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und arbeitet am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ) der Ruhr-Universität Bochum.
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com