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Warum Kinder Grenzen brauchen…

… und sie für uns Eltern noch wichtiger sind.

Von Anna Koppri

Wegen sowas muss man doch nicht weinen.“ „Jetzt stell dich nicht so an.“ „Iss deinen Spinat, die Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen.“ „Weil ich das sage.“ „Nichts passiert, steh wieder auf.“ „Gib Opa einen Kuss.“ – Diese Liste könnte ich ewig fortführen. Als ich Kind war, gehörten solche Sätze in vielen Familien selbstverständlich zur Erziehung – genau wie körperliche Züchtigungen. Permanent wurde über uns Kinder und unsere Körper bestimmt. Die Erwachsenen wussten am besten, was gut für uns war und wie wir uns zu fühlen oder zu verhalten hatten. Man war der Überzeugung, dass Kinder erst zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden müssten. Sie sollten sich möglichst gut anpassen und wenig auffallen. Heute fällt es mir noch immer schwer, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, mich selbst ernst zu nehmen und meinen Empfindungen zu trauen.

Ich möchte, dass meine Kinder anders aufwachsen. Sie sollen frei ihre individuelle Persönlichkeit entfalten können und sich angenommen und geliebt wissen. Die intuitive Wahrnehmung für ihre Bedürfnisse und ihre individuellen Emotionen möchte ich ihnen nicht abtrainieren. Trotzdem sollen sie mich als Autorität wahrnehmen, an der sie sich orientieren können und die im Zweifelsfall die Richtung vorgibt. Deshalb habe ich jede Menge Ratgeber über beziehungs- und bedürfnisorientierte Erziehung gelesen, über Begleiten ohne Strafen und unverbogene Kinder. Doch weshalb fällt es mir oft so schwer, das alles in die Tat umzusetzen? Warum sage ich trotzdem Wenn-dann-Sätze und weiß mir manchmal nicht anders zu helfen, als mit Belohnung zu locken oder mit Einschränkungen zu drohen? Warum werde ich laut oder nutze meine körperliche Überlegenheit, um meine Kinder zu etwas zu bringen, das sie nicht wollen

Mehr Grenzen setzen

Nach der Geburt meines zweiten Kindes bekam ich die Rückmeldung von einer weisen Mutter, der ich vertraue, dass ich meinem willens- und gefühlsstarken Großen (damals 3) nicht genug Grenzen setzen würde. Zuerst war ich innerlich empört: „Ich will ihm ja auch gar keine Grenzen setzen!“ Doch dann habe ich mich auf eine Reise begeben zu Grenzen und zu mir, und ich habe erfahren, welche Art von Grenzen meine Kinder von mir brauchen.

Nora Imlau schlüsselt in ihrem Buch „Mein Familienkompass“ auf, wie unterschiedlich das Wort Grenzen von verschiedenen pädagogischen Strömungen gefüllt wurde und wird. In der autoritären Erziehung sind Grenzen Regeln, die Erwachsene mehr oder weniger willkürlich setzen und denen Kinder Folge zu leisten haben, um Disziplin zu erlernen.

In der autoritativen Erziehung werden Grenzen und Regeln gemeinsam mit den Kindern ausgehandelt. Sind sie einmal gesetzt, müssen sie eingehalten werden, um dem Kind Halt und Orientierung zu geben. Ausnahmen gibt es nicht, es sei denn, die Regel wird im Dialog neu verhandelt und verändert. Ich denke, dass wir alle diese Art von Grenzen in unsere Familiensysteme aufgenommen haben, und ich bin überzeugt, dass sie vieles erleichtern. So muss nicht jeden Abend neu darüber diskutiert werden, dass sich alle die Zähne putzen. Damit diese Grenzen die Kinder jedoch nicht entmündigen oder in ihrer Entwicklung einschränken, halte ich es für wichtig, festgesetzte Regeln immer wieder zu überprüfen: ob sie dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder noch angemessen sind, ob alle einen Konsens darüber haben und ob sie eine sinnvolle Funktion erfüllen. Grundsätzlich halte ich es für wertvoll, wenn wir dialogbereit sind und Regeln situativ anpassen, anstatt diese stur durchzusetzen, um unseren Alltag zu erleichtern.

Die eigenen Grenzen wahren

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hielt gar nichts davon, Kindern Grenzen in Form von starren Regeln zu setzen. Stattdessen empfand er es als essenziell, die eigenen Grenzen zu wahren und auch dem Kind dieses Recht zuzugestehen.

Das war für mich ein „Aha-Erlebnis“. Meinen Kindern tut es gut, wenn ich ihnen meine eigenen Grenzen aufzeige. Nicht um sie zu begrenzen oder ihnen vermeintlichen Halt durch einen „Gartenzaun von Regeln“ zu geben. Sondern um ihnen zu vermitteln, dass jeder Mensch Grenzen hat, die geachtet werden sollen. Kinder orientieren sich an uns, besonders, wenn sie noch klein sind. Deshalb ist es kein Wunder, dass mein Großer bei Tisch immer auf meinen Schoß geklettert kam, sobald er aufgegessen hatte. Ständig habe ich ihm gesagt, dass ich selbst noch in Ruhe aufessen will und er mich so lange in Ruhe lassen soll. Doch er hat gespürt, dass ich mir innerlich gar nicht so sicher war, ob es okay ist, meine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen. Die Glaubenssätze, die tief in mir eingebrannt sind, flüsterten mir etwas anderes zu: „Die Bedürfnisse der anderen sind wichtiger als deine eigenen Grenzen. Wenn du etwas nicht magst, musst du es halt aushalten.“

Im Arbeitskontext mit Kindern habe ich immer wieder Bewunderung von Kolleginnen und Kollegen für meine scheinbar nie versiegende Geduld geerntet. Dass ich häufig schon längst innerlich gekocht habe, konnten sie ja nicht sehen. Damals im Job ist es selten vorgekommen, dass mein Geduldsfaden riss. Umso stärker bin ich nun mit meinen eigenen Kindern herausgefordert. Denn jetzt kann ich nicht mehr nach einer Schicht nach Hause fahren und mich ins Bett legen, um wieder zu mir selbst zu finden. Jetzt muss ich, wenn es hart auf hart kommt, 24 Stunden am Tag „funktionieren“. So anstrengend das manchmal ist und so bestürzt ich bin, wenn ich wieder einmal anders reagiere, als ich eigentlich möchte, so dankbar bin ich für diese „harte Schule zu mir selbst“.

Wenn alles aus dem Ruder läuft

Manchmal, wenn ich vor Müdigkeit oder Stress nicht mehr klar denken kann und mein großer Sohn wiederholt über meine Grenzen trampelt, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Ich verliere aus dem Blick, dass mir ein gefühlsstarker Fünfjähriger gegenübersteht und fühle mich wie das kleine Mädchen, dessen Grenzen mutwillig übertreten werden. Das tut weh, und im Kurzschluss habe ich meinen Sohn einmal an den Schultern gepackt und geschüttelt. Das geht natürlich gar nicht. Ich hätte früher nie geglaubt, dass ich zu so etwas in der Lage wäre. Gewaltfreiheit war immer schon mein höchstes Erziehungsideal. Umso wichtiger ist es zu lernen, endlich gut für mich zu sorgen und für solche Situationen ein Frühwarnsystem mit entsprechenden Handlungsstrategien zu finden.

Seit ich weiß, dass es am wichtigsten ist, meine eigenen Grenzen zu kennen und zu verteidigen, mache ich mir immer häufiger bewusst, dass ich genauso wichtig und ernst zu nehmen bin wie jeder andere Mensch. Ich muss dafür sorgen, dass meine Bedürfnisse befriedigt und meine Grenzen geachtet werden. Anstatt allzu hart mit mir ins Gericht zu gehen, wenn ich meinen eigenen Ansprüchen nicht genüge, versuche ich immer wieder eine gütige Haltung mir selbst gegenüber einzunehmen.

Eine Stunde Rückzug mit einem Buch kann Wunder wirken oder auch nur ein paar bewusste tiefe Atemzüge am Fenster. Wenn ich bei mir angekommen und in meiner Kraft bin, kann ich meinen Kindern ein viel stärkeres und klareres Gegenüber sein.

Ich erlaube es mir, mir Zeit zu lassen und zu überlegen, ob ich etwas möchte oder nicht, wenn meine Kinder mich etwas fragen. Wenn ich müde bin oder keine Lust habe, die fünfte Geschichte zu erzählen, sage ich das ganz klar. Und es hilft mir zu wissen, dass ich damit nicht nur zu mir selbst und meinen Bedürfnissen stehe, sondern meine Söhne dadurch lernen, dass sie auch Grenzen setzen und Nein sagen dürfen.

Die Wut aus dem Körper tanzen

Mit kleinen Kindern ist es natürlich nicht immer so einfach, gut für sich zu sorgen. Manchmal muss ich stundenlang ein schreiendes Kind wiegen, obwohl ich viel lieber endlich „Feierabend“ hätte. Da hilft es, mir innerlich bewusst zu machen, dass es mich gerade echt nervt, dass der Kleine schon zum fünften Mal aufgewacht ist. Ich fühle mich in meiner kostbaren Zeit für mich selbst beschnitten. Darüber darf ich traurig oder wütend sein. Anstatt die Wut runterzuschlucken und weiter tapfer auszuhalten und über meine Grenzen zu gehen, mache ich Musik an und tanze die Wut aus meinem Körper, bevor sich das Babyfon das nächste Mal meldet. Das hilft mir, bei mir zu bleiben. Oder ich gönne mir zur Belohnung bewusst etwas Besonderes, um mir zu zeigen, dass ich auch wichtig bin: ein Eis, einen Film oder eine geplante Auszeit am nächsten Tag.

Wäre es nicht schön, wenn wir – die Kinder, die allzu viel aushalten und sich anpassen mussten – es durch unsere Kinder endlich schaffen, zu dem zu finden, was uns ausmacht? Wenn wir zu unseren individuellen Empfindungen, Interessen und Begabungen durchdringen und damit unseren Platz in der Gesellschaft finden würden? Wenn wir unseren eigenen Raum einnehmen, werden wir es auch besser schaffen, unseren Kindern den Raum zu geben, den sie brauchen, um sich frei zu entfalten. Wenn sie schon in ihren ersten Lebensjahren erleben dürfen, dass sie mit ihrem individuellen Wesen angenommen sind, wir wirkliches Interesse an ihnen haben und ihre Grenzen respektieren, brauchen sie in ihrer Jugend viel weniger Grenzen zu übertreten, um sich selbst zu finden – so eine These von Susanne Mierau aus ihrem Buch „Frei und unverbogen“.

Anna Koppri lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie arbeitet als Autorin und bei der Berliner Stadtmission.

Was tun, wenn der Teenie kifft? Expertin gibt Rat

Kiffen ist weit verbreitet und gilt als Einstiegsdroge. Wie sollten Eltern damit umgehen, wenn sie ihre Kinder beim Kiffen erwischen? Suchtexperten raten: Das Gespräch suchen und die Hintergründe erfragen.

„Unser Teenie kifft. Wir hatten schon länger den Verdacht, dass er es tut, aber nun haben wir ihn dabei erwischt. Wir machen uns Sorgen, dass er süchtig ist. Wie finden wir das heraus? Wie können wir das Thema ansprechen? Und wo finden wir Hilfe?“

Wenn Jugendliche Cannabis konsumieren, ist dies oft ein vorübergehendes Phänomen. Am Anfang steht häufig die Neugierde. Jugendliche wollen wissen, was es mit diesem Cannabis auf sich hat. Manche Jugendliche kiffen, weil Freunde es tun. Sie wollen an einem Erlebnis in einer Gruppe teilhaben, Neues ausprobieren, Grenzen ausloten, Risiken eingehen – all dies kann dazu beitragen, mehr über sich selbst zu erfahren.

Cannabis birgt viele Risiken

Dass Sie sich Sorgen machen, ist verständlich. Wir raten Eltern, das Gespräch mit ihrem Kind zu suchen. Als Eltern sind und bleiben Sie für Ihr Kind ein zentraler Orientierungspunkt. Dabei gilt es, die Ansichten und Gedanken möglichst unaufgeregt zu vertreten. Wir ermuntern Väter und Mütter, eine gemeinsame Haltung zu vertreten und Cannabis weder zu dramatisieren noch zu banalisieren. Es gibt gute Gründe, weshalb Ihr Kind es nicht konsumieren sollte. Es ist wichtig, dass Sie diese Haltung vertreten.

Je jünger ein Kind ist, desto ausgeprägter sind die Risiken. Vor allem das Gehirn reagiert empfindlicher, weil es noch in der Entwicklung ist. Bei Jugendlichen unter 16 Jahren sind die Risiken zu groß. Kein Konsum sollte das Ziel sein. Auch bei älteren Jugendlichen ist es ratsam, auf Cannabis zu verzichten. Vor allem wenn Cannabis konsumiert wird, um mit Stress umzugehen oder negative Gefühle zu bewältigen, ist das Risiko größer, dass immer mehr konsumiert wird.

Den Gründen auf der Spur

Erklären Sie Ihrem Kind, dass es Ihnen wichtig ist zu erfahren, was das Cannabis zu bedeuten hat. Stellen Sie Fragen zu den Beweggründen, wo und wann es kifft und wie es den eigenen Konsum einschätzt. In unserem Leitfaden „Cannabis. Mit Jugendlichen darüber sprechen. Ein Leitfaden für Eltern“ auf suchtschweiz.ch finden sich Tipps für eine gelingende Gesprächsführung. Bleiben Sie ruhig und verständnisvoll, zeigen Sie Interesse und sprechen Sie über sich selbst. Beschreiben Sie Ihre Haltung, Ihre Beobachtungen und Sorgen. Legen Sie gemeinsam Ziele fest. Wenn Sie möchten, auch schriftlich. Besprechen Sie gemeinsam, was das Kind und was Sie als Eltern brauchen, um diese Ziele zu erreichen.

Wir ermutigen Sie, den Dialog aufrechtzuerhalten und nicht nur auf das Kiffen zu begrenzen: Fühlt sich das Kind wohl in seinem Freundeskreis? Wie läuft es in der Schule oder der Ausbildung? Interesse zu zeigen, fördert den Dialog und erleichtert die Einschätzung, ob Cannabis immer mehr Platz einnimmt.

Wenn man merkt, dass man nicht weiterkommt und es dem Kind zusehends schlechter geht, gibt es immer die Möglichkeit, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Unterstützung für Sie und Ihr Kind bieten Fachstellen für Suchtberatung (suchtindex.ch in der Schweiz, dhs.de in Deutschland oder praevention.at in Österreich), Erziehungs- und Jugendberatungsstellen.

Monique Portner-Helfer ist Pressesprecherin von Sucht Schweiz: suchtschweiz.ch

Warum Kinder Grenzen brauchen – und Eltern erst recht

Eltern setzen Kindern Grenzen, klar. Es gibt aber zwei verschiedene Arten von Grenzen. Welche das sind und wie man sie unterscheidet, erklärt die Autorin und Mutter Anna Koppri.

Wegen sowas muss man doch nicht weinen.“ „Jetzt stell dich nicht so an.“ „Iss deinen Spinat, die Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen.“ „Weil ich das sage.“ „Nichts passiert, steh wieder auf.“ „Gib Opa einen Kuss.“ – Diese Liste könnte ich ewig fortführen. Als ich Kind war, gehörten solche Sätze in vielen Familien selbstverständlich zur Erziehung – genau wie körperliche Züchtigungen. Permanent wurde über uns Kinder und unsere Körper bestimmt. Die Erwachsenen wussten am besten, was gut für uns war und wie wir uns zu fühlen oder zu verhalten hatten. Man war der Überzeugung, dass Kinder erst zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden müssten. Sie sollten sich möglichst gut anpassen und wenig auffallen. Heute fällt es mir noch immer schwer, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, mich selbst ernst zu nehmen und meinen Empfindungen zu trauen.

Ich möchte, dass meine Kinder anders aufwachsen. Sie sollen frei ihre individuelle Persönlichkeit entfalten können und sich angenommen und geliebt wissen. Die intuitive Wahrnehmung für ihre Bedürfnisse und ihre individuellen Emotionen möchte ich ihnen nicht abtrainieren. Trotzdem sollen sie mich als Autorität wahrnehmen, an der sie sich orientieren können und die im Zweifelsfall die Richtung vorgibt. Deshalb habe ich jede Menge Ratgeber über beziehungs- und bedürfnisorientierte Erziehung gelesen, über Begleiten ohne Strafen und unverbogene Kinder. Doch weshalb fällt es mir oft so schwer, das alles in die Tat umzusetzen? Warum sage ich trotzdem Wenn-dann-Sätze und weiß mir manchmal nicht anders zu helfen, als mit Belohnung zu locken oder mit Einschränkungen zu drohen? Warum werde ich laut oder nutze meine körperliche Überlegenheit, um meine Kinder zu etwas zu bringen, das sie nicht wollen

Mehr Grenzen setzen

Nach der Geburt meines zweiten Kindes bekam ich die Rückmeldung von einer weisen Mutter, der ich vertraue, dass ich meinem willens- und gefühlsstarken Großen (damals 3) nicht genug Grenzen setzen würde. Zuerst war ich innerlich empört: „Ich will ihm ja auch gar keine Grenzen setzen!“ Doch dann habe ich mich auf eine Reise begeben zu Grenzen und zu mir, und ich habe erfahren, welche Art von Grenzen meine Kinder von mir brauchen.

Nora Imlau schlüsselt in ihrem Buch „Mein Familienkompass“ auf, wie unterschiedlich das Wort Grenzen von verschiedenen pädagogischen Strömungen gefüllt wurde und wird. In der autoritären Erziehung sind Grenzen Regeln, die Erwachsene mehr oder weniger willkürlich setzen und denen Kinder Folge zu leisten haben, um Disziplin zu erlernen.

In der autoritativen Erziehung werden Grenzen und Regeln gemeinsam mit den Kindern ausgehandelt. Sind sie einmal gesetzt, müssen sie eingehalten werden, um dem Kind Halt und Orientierung zu geben. Ausnahmen gibt es nicht, es sei denn, die Regel wird im Dialog neu verhandelt und verändert. Ich denke, dass wir alle diese Art von Grenzen in unsere Familiensysteme aufgenommen haben, und ich bin überzeugt, dass sie vieles erleichtern. So muss nicht jeden Abend neu darüber diskutiert werden, dass sich alle die Zähne putzen. Damit diese Grenzen die Kinder jedoch nicht entmündigen oder in ihrer Entwicklung einschränken, halte ich es für wichtig, festgesetzte Regeln immer wieder zu überprüfen: ob sie dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder noch angemessen sind, ob alle einen Konsens darüber haben und ob sie eine sinnvolle Funktion erfüllen. Grundsätzlich halte ich es für wertvoll, wenn wir dialogbereit sind und Regeln situativ anpassen, anstatt diese stur durchzusetzen, um unseren Alltag zu erleichtern.

Die eigenen Grenzen wahren

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hielt gar nichts davon, Kindern Grenzen in Form von starren Regeln zu setzen. Stattdessen empfand er es als essenziell, die eigenen Grenzen zu wahren und auch dem Kind dieses Recht zuzugestehen.

Das war für mich ein „Aha-Erlebnis“. Meinen Kindern tut es gut, wenn ich ihnen meine eigenen Grenzen aufzeige. Nicht um sie zu begrenzen oder ihnen vermeintlichen Halt durch einen „Gartenzaun von Regeln“ zu geben. Sondern um ihnen zu vermitteln, dass jeder Mensch Grenzen hat, die geachtet werden sollen. Kinder orientieren sich an uns, besonders, wenn sie noch klein sind. Deshalb ist es kein Wunder, dass mein Großer bei Tisch immer auf meinen Schoß geklettert kam, sobald er aufgegessen hatte. Ständig habe ich ihm gesagt, dass ich selbst noch in Ruhe aufessen will und er mich so lange in Ruhe lassen soll. Doch er hat gespürt, dass ich mir innerlich gar nicht so sicher war, ob es okay ist, meine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen. Die Glaubenssätze, die tief in mir eingebrannt sind, flüsterten mir etwas anderes zu: „Die Bedürfnisse der anderen sind wichtiger als deine eigenen Grenzen. Wenn du etwas nicht magst, musst du es halt aushalten.“

Im Arbeitskontext mit Kindern habe ich immer wieder Bewunderung von Kolleginnen und Kollegen für meine scheinbar nie versiegende Geduld geerntet. Dass ich häufig schon längst innerlich gekocht habe, konnten sie ja nicht sehen. Damals im Job ist es selten vorgekommen, dass mein Geduldsfaden riss. Umso stärker bin ich nun mit meinen eigenen Kindern herausgefordert. Denn jetzt kann ich nicht mehr nach einer Schicht nach Hause fahren und mich ins Bett legen, um wieder zu mir selbst zu finden. Jetzt muss ich, wenn es hart auf hart kommt, 24 Stunden am Tag „funktionieren“. So anstrengend das manchmal ist und so bestürzt ich bin, wenn ich wieder einmal anders reagiere, als ich eigentlich möchte, so dankbar bin ich für diese „harte Schule zu mir selbst“.

Wenn alles aus dem Ruder läuft

Manchmal, wenn ich vor Müdigkeit oder Stress nicht mehr klar denken kann und mein großer Sohn wiederholt über meine Grenzen trampelt, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Ich verliere aus dem Blick, dass mir ein gefühlsstarker Fünfjähriger gegenübersteht und fühle mich wie das kleine Mädchen, dessen Grenzen mutwillig übertreten werden. Das tut weh, und im Kurzschluss habe ich meinen Sohn einmal an den Schultern gepackt und geschüttelt. Das geht natürlich gar nicht. Ich hätte früher nie geglaubt, dass ich zu so etwas in der Lage wäre. Gewaltfreiheit war immer schon mein höchstes Erziehungsideal. Umso wichtiger ist es zu lernen, endlich gut für mich zu sorgen und für solche Situationen ein Frühwarnsystem mit entsprechenden Handlungsstrategien zu finden.

Seit ich weiß, dass es am wichtigsten ist, meine eigenen Grenzen zu kennen und zu verteidigen, mache ich mir immer häufiger bewusst, dass ich genauso wichtig und ernst zu nehmen bin wie jeder andere Mensch. Ich muss dafür sorgen, dass meine Bedürfnisse befriedigt und meine Grenzen geachtet werden. Anstatt allzu hart mit mir ins Gericht zu gehen, wenn ich meinen eigenen Ansprüchen nicht genüge, versuche ich immer wieder eine gütige Haltung mir selbst gegenüber einzunehmen.

Eine Stunde Rückzug mit einem Buch kann Wunder wirken oder auch nur ein paar bewusste tiefe Atemzüge am Fenster. Wenn ich bei mir angekommen und in meiner Kraft bin, kann ich meinen Kindern ein viel stärkeres und klareres Gegenüber sein.

Ich erlaube es mir, mir Zeit zu lassen und zu überlegen, ob ich etwas möchte oder nicht, wenn meine Kinder mich etwas fragen. Wenn ich müde bin oder keine Lust habe, die fünfte Geschichte zu erzählen, sage ich das ganz klar. Und es hilft mir zu wissen, dass ich damit nicht nur zu mir selbst und meinen Bedürfnissen stehe, sondern meine Söhne dadurch lernen, dass sie auch Grenzen setzen und Nein sagen dürfen.

Die Wut aus dem Körper tanzen

Mit kleinen Kindern ist es natürlich nicht immer so einfach, gut für sich zu sorgen. Manchmal muss ich stundenlang ein schreiendes Kind wiegen, obwohl ich viel lieber endlich „Feierabend“ hätte. Da hilft es, mir innerlich bewusst zu machen, dass es mich gerade echt nervt, dass der Kleine schon zum fünften Mal aufgewacht ist. Ich fühle mich in meiner kostbaren Zeit für mich selbst beschnitten. Darüber darf ich traurig oder wütend sein. Anstatt die Wut runterzuschlucken und weiter tapfer auszuhalten und über meine Grenzen zu gehen, mache ich Musik an und tanze die Wut aus meinem Körper, bevor sich das Babyfon das nächste Mal meldet. Das hilft mir, bei mir zu bleiben. Oder ich gönne mir zur Belohnung bewusst etwas Besonderes, um mir zu zeigen, dass ich auch wichtig bin: ein Eis, einen Film oder eine geplante Auszeit am nächsten Tag.

Wäre es nicht schön, wenn wir – die Kinder, die allzu viel aushalten und sich anpassen mussten – es durch unsere Kinder endlich schaffen, zu dem zu finden, was uns ausmacht? Wenn wir zu unseren individuellen Empfindungen, Interessen und Begabungen durchdringen und damit unseren Platz in der Gesellschaft finden würden? Wenn wir unseren eigenen Raum einnehmen, werden wir es auch besser schaffen, unseren Kindern den Raum zu geben, den sie brauchen, um sich frei zu entfalten. Wenn sie schon in ihren ersten Lebensjahren erleben dürfen, dass sie mit ihrem individuellen Wesen angenommen sind, wir wirkliches Interesse an ihnen haben und ihre Grenzen respektieren, brauchen sie in ihrer Jugend viel weniger Grenzen zu übertreten, um sich selbst zu finden – so eine These von Susanne Mierau aus ihrem Buch „Frei und unverbogen“.

Anna Koppri lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie arbeitet als Autorin und bei der Berliner Stadtmission.

Enttäuscht von meinem Kind

Gerade, wenn sie erwachsen werden, entsprechen Jugendliche oft nicht dem Bild, das ihre Eltern von ihnen haben. Stefanie Diekmann über die schädliche Dynamik der Enttäuschung und wie wir sie durchbrechen können.

Die kleinen Dinge des Alltags geben dem Zusammenleben von Eltern und Jugendlichen immer wieder ganz neue Facetten. Bei uns jedenfalls. Neue Themen fordern neu heraus: Freundschaften verändern sich, Lieblingsessen sind plötzlich tabu und Familienrituale „laaangweilig“. Der Support beim Jeanskauf ist jetzt überlebenswichtig, wie auch die offene Tür für Wochenendbesuche. Zu vielen Themen finden Eltern Rat in Online-Artikeln oder Messenger-Gruppen. Zu einem Thema habe ich jedoch wenig gefunden: die Enttäuschung über unser Kind. In manchen Momenten ist mir mein Kind innig vertraut und herzensnah. In vielen Situationen leben wir das mit einer unaufgeregten Vertrautheit. Je älter das Kind und je deutlicher sichtbar die Persönlichkeit durch ausgedrückte Emotionen und Handlungen wird, desto mehr greift aber die Dynamik der Enttäuschung.

UNERFÜLLTE WÜNSCHE

Aber darf ich als Mutter enttäuscht von meinem eigenen Kind sein? Vorsichtig teste ich und formuliere eher: „Ich mache mir Sorgen …“ oder „Ich verstehe nicht, warum …“. Der Austausch über Enttäuschungen ist scheu wie eine Maus in unserer Abstellkammer. Ich wage es nur selten, meine Gedanken über meine innere Zerrissenheit zu teilen. Ich bin nicht gewohnt, über wirkliche Herzensthemen zu sprechen. Ja, über das unaufgeräumte Teenie-Zimmer reden – das geht. Aber tiefergehende Gedanken behalte ich lieber für mich. In der Psychologie gibt es eine Sicht auf diese Irritation zwischen mir und dem gleichzeitig fremden und so nahen Kind. Die Definition des Begriffes Enttäuschung ist da– rauf zurückzuführen, dass die Betroffenen darunter leiden, dass ihre Wünsche oder Hoffnungen nicht in Erfüllung gegangen sind. Wenn die Wünsche der Eltern nicht erfüllt wurden, entsteht bei ihnen Kummer.

INNERE BILDER

Das kenne ich von kleinen Alltagsmomenten: Lange schon fordert mich heraus, dass ich einen unsicheren jungen Mann am Tisch habe. Menschen irritieren ihn, fordern ihn, und ich habe keine Ahnung, ob er eine Meinung zu bestimmten Themen hat. Alle Tipps aus Internetforen und von Freunden greifen nicht. Wenn ich ehrlich bin, eskaliert es schon in mir, wenn ich spüre, dass unser Kind sich im Raum näher zu mir orientiert. Immer wieder bekomme ich Rückmeldungen, wie wichtig es sei, dass ich meinen Heranwachsenden zu Mut ermutige. Ich möchte meinen Part gut erfüllen und habe das Gefühl, mein schweigender, kopfschüttelnder, abwehrender und farbloser Sohn tut das nicht. Harte Worte? Er soll bald im Beruf stehen, gehört werden, eine Beziehung gestalten. Wie? So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Nach überstandenen Stresssituationen sammelt sich in mir eine Mischung von Erschöpfung und Ratlosigkeit, die mich in meinem mütterlichen Handeln lähmt. Das innere Bild von meinem Jugendlichen nehme ich mit zur nächsten Großfamilienfeier, wo jede und jeder meinen Sohn ausfragt und kaum Antworten bekommt. Das Bild wird verstärkt beim Besuch im Museum, wo mein Sohn murrt und keine Ruhe zum Verweilen hat. Ich schlucke den Frust des Tages herunter und will mein verspanntes Herz ausschütteln, nur um festzustellen: Das Gefühl der Verunsicherung und des inneren Abwehrens klebt an mir.

GEDANKENSPIRALE

Die Dynamik der Enttäuschung kann vor allem zerstörerisch sein, wenn ich nicht hinsehe. Die inneren Enttäuschungsmomente führen mehr und mehr in eine Gedankenspirale der Distanz. Und diese Distanz spürt mein Kind als Verunsicherung. Sogar vor Gott, dem ich doch vertraue, fällt es mir schwer, ehrlich zu sein. Ich bin enttäuscht. Es läuft nicht. Das kann vieles sein: Mein Kind ist nörgelig oder unmusikalisch oder ängstlich oder unfreundlich oder unsportlich … Dabei ist es wichtig, meine Enttäuschung anzusehen und auszusprechen. Wenn ich wegsehe, machen mich die gesammelten Enttäuschungsmomente immer weniger liebesfähig. Enttäuschungen haben so viel mit meinen Hoffnungen, Wunschvorstellungen und Erwartungen zu tun. Bei Enttäuschungen handelt es sich um eine subjektive Wahrnehmung. Das bemerke ich allein dadurch, dass mein Mann ganz anders mit bestimmten Situationen umgeht. Es ist wichtig, meine Emotionen, Erwartungen und Handlungen zu verstehen, um letztendlich meinen Frieden mit der ungewohnten Enttäuschung zu schließen. Ich wäre so gern verständnisvoll. Ich verstehe gerade mein Kind nicht. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Je mehr ich meinen Kummer vor Gott ausbreite, desto mehr fällt mir mein „Ich“ auf. Ja, mein Kind ist vom Charakter und vom Handeln her anders, als ich es mir ausgemalt habe. Es geht aber tatsächlich um mich in dieser schmerzhaften Herzensverkalkung.

 

Die Entwicklung einer Persönlichkeit ist keine Gleichung: Liebe rein – Charakter raus.

Stefanie Diekmann

 

EIGENE ERWARTUNGEN

Die Dynamik der Enttäuschung hat etwas mit meinem Bild von meinem Kind und besonders mit meinem Bild von mir als Mutter zu tun. Die Enttäuschung fühlt sich so an, als würde ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht. Hinter jeder Enttäuschung steckt meine persönliche Hoffnung oder ein Versprechen, das nicht in Erfüllung gegangen ist. Die ursprüngliche Erwartung war demnach höher als das tatsächliche Ergebnis. Und spätestens hier werde ich wach: Die Beziehung zu meinem Kind ist für mich keine abrufbare Investition. Sie ist ein offener Prozess voller Nähe- und Distanzübungen. Wenn nun diese Dynamik der Enttäuschung erneut loslegen will, möchte ich mich hinterfragen: Die Entwicklung einer Persönlichkeit ist keine Gleichung: Liebe rein – Charakter raus. Eine Idee oder ein Plan können sich ändern, Misserfolge können passieren. Das sind die natürlichen Aufs und Abs des Lebens. Situationen, die nicht meinen Erwartungen gerecht wurden, sollten nicht immer als eine komplett negative Situation gewertet werden. Ich darf in jeder Zeit versuchen, der Situation etwas Positives abzugewinnen und es als Chance für Eltern und Kind zu betrachten. Ich möchte versuchen, den irritierenden Charakterzug oder die Situation objektiv zu beurteilen und zu hinterfragen: Schadet das Verhalten meinem Kind? Was erzählt mir mein Kind mit seinem Agieren? Als Mutter kann ich Vorbild sein und einen Platz zum Austausch unserer Gefühle finden, um diese zu verarbeiten. Zusammen mit dem Jugendlichen oder bewusst ohne ihn, nur für mich.

SCHRITTE AUS DEM SCHWEIGEN

Um einen Schutzraum der Entwicklung zu gestalten, verzichte ich auf negativ festlegende Gedanken und Aussagen über mich. Mich als Mutter an den Pranger zu stellen und mir Vorwürfe zu machen, belastet nicht nur mich, sondern auch die Nähe zum Kind. Wenn Erwachsene zu ihren Eltern befragt werden, wird oft ein Gefühl benannt, das aus der Dynamik der Enttäuschung entstanden ist: „Ich konnte meinen Eltern nichts recht machen.“ „Meine Eltern hatten sich ihren Sohn wohl anders vorgestellt!“ Das will ich nicht. Um Annahme und Begleitung zu verbinden, gebe ich meine Vorstellungen, Hoffnungen und Wünsche ganz bewusst an Gott zurück. Ich ringe um ein Miteinander im Heute, das meinem tastenden Jugendlichen ermöglicht, sich angenommen und geliebt zu wissen und dennoch Hinweise von mir zu prüfen oder eine Rückmeldung gewinnbringend zu verarbeiten. Diese Tatsache zwingt mich zu manchmal schmerzhaften Übungen im Alltag: Ich lächle meinen Jugendlichen an, wenn er den Raum betritt.mIch kommentiere das Agieren meines Sohnes nicht, es sei denn, er fragt mich. Ich frage: Wie ging es dir? Was schlägst du vor? Vielleicht finden wir zusammen so eine Idee für mutige Schritte aus dem Schweigen. Solange bleibe ich in der Übung, das Gute zu sehen und zu benennen. Solange, bis es meinen Sohn über Unsicherheiten hinwegträgt. PS: Unser Sohn ist charakterlich nicht wie der skizzierte Sohn. Wir haben andere Themen miteinander, die aber nicht öffentlich zu lesen sein werden.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

Alles falsch gemacht?

Wenn das Verhalten eines Kindes Fragen aufwirft, stellen sich Eltern schnell die Frage, ob es ihre Schuld ist. Stefanie Böhmann ist überzeugt, dass diese Frage nicht weiterhilft.

Unser Sohn kam in die erste Klasse. Nach einigen Wochen war er nachmittags nach Schule und Hort so empfindlich, dass er ganz schnell die Beherrschung verlor. Es ging so weit, dass er teilweise wie ein Löwe brüllte und mit seinem Kopf gegen die Wand donnerte. Schnell kam in mir die Frage auf: Was habe ich falsch gemacht? Ist es richtig, dass ich wieder angefangen habe zu arbeiten? Was hat unseren Sohn so verunsichert, dass er nur noch die Möglichkeit sieht, mit dem Kopf wortwörtlich durch die Wand zu rennen? Hilft es, sich die Frage zu stellen, ob man etwas falsch gemacht hat? Eins ist klar: Die Symptome sind ein Schrei des Kindes, dass es ihm nicht gut geht und es Hilfe braucht.

JEDER MACHT FEHLER

Als Lehrerin erlebe ich in der Schule oft, dass Kinder, wenn sie Auffälligkeiten zeigen, noch mehr Stress zu Hause bekommen, weil sich die Eltern mit der Lage überfordert fühlen. Statt Liebe entsteht Abneigung. Dabei braucht es ein Aufeinanderzugehen und ein neues Miteinander, das nach Lösungen ringt. Cathy und Daniel Zindel fassen das in ihrem Buch „Man erzieht nur mit dem Herzen gut“ so zusammen: „Jeder von uns macht Fehler, und wir brauchen Korrektur und Ergänzung. In einer Familie geht es nicht primär um Erziehung, sondern um Beziehung.“ Suche ich selbst die ganze Zeit danach, was ich falsch gemacht habe, bin ich gefangen in einem Gedankenkarussell, das mich in die Isolation und nicht in die Beziehung führt. Ich darf und muss mir als Mutter und Vater bewusst sein, dass ich Fehler mache und gemacht habe. Aber wenn ich sie zur Sprache bringe und um Vergebung bitte, führt dieser Prozess in die Freiheit und in den Austausch. Und: Meine Kinder lernen von mir, wie man mit Fehlern umgehen kann.

INS GESPRÄCH KOMMEN

Als Eltern sind wir Vorbilder für unsere Kinder. Sie lernen und schauen von uns ab. Und das passiert bei jedem Kind mit seiner eigenen Wahrnehmung. Unser Sohn rülpste neulich ziemlich laut, und ich ermahnte ihn. Da grinste er: „Mama, das machst du auch. Und in der Öffentlichkeit weiß ich, wie man sich verhält.“ Im Vertrauen darauf habe ich mich geschlagen gegeben. Er hatte Recht. Wie gut, dass wir gesprochen haben. So lernen auch unsere Kinder, dass sie Fehler machen dürfen und es wichtig ist, darüber zu sprechen. Das nimmt viel Druck aus Beziehungen und bringt uns ins Gespräch. Ich freue mich immer wieder über unsere sechzehnjährige Tochter. Wenn sie sich nicht sicher ist, ob sie richtig gehandelt hat, fragt sie nach. Im Gespräch konnten wir schon manchen für sie gefühlten Elefanten als kleines Mäuschen entlarven und dem schlechten Gewissen den Wind aus den Segeln nehmen.

VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN

Kinder sollen in Verantwortung mit hineingenommen werden und das Gefühl bekommen, dass sie gehört werden und wichtig sind. Natürlich tragen Vater und Mutter die Hauptverantwortung, aber uns ist es wichtig, dass auch unsere Kinder – zum Beispiel durch Dienste im Haus – Verantwortung mittragen. Und dass sie lernen, mit Konsequenzen umzugehen, wenn sie der Verantwortung nicht gerecht werden. Natürlich nur solche Konsequenzen, die vorher gemeinsam festgelegt wurden. Der sonntägliche Familienrat gibt uns eine gute Plattform, um uns gegenseitige Rückmeldung zu geben, wie wir mit der jeweiligen Verantwortung umgegangen sind. Und wenn unsere Tochter dann bei der Anerkennungsrunde feststellt, dass sie nicht weiß, was sie mit einem Elternteil überhaupt Besonderes in der Woche erlebt hat, bringt mich das auch zum Nachdenken. Dann überlege ich, wie ich meiner Rolle als Mutter wieder mehr Gewicht geben kann, um meiner Verantwortung gerecht zu werden.

EINE PLATTFORM ZUM AUSTAUSCH

Die Wahrnehmung unserer Kinder ist unterschiedlich. Das hängt aber auch von den unterschiedlichen Entwicklungsphasen ab, in denen sie sich befinden. Im Alter von vier und fünf Jahren dreht sich beispielsweise alles darum, wahrgenommen und bewundert zu werden. Die Kinder sehnen sich nach Strukturen, die ihnen Halt und Sicherheit geben. Dagegen merken Jugendliche ab 13 oder 14, dass andere Menschen Schwachpunkte haben. Und sie fangen an, Rituale in Frage zu stellen, die bis dahin Gültigkeit hatten. Aber in jeder Altersgruppe brauchen sie eine Plattform zum Austausch innerhalb der Familie. Um auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen: Unserem Sohn fehlten damals Halt, Strukturen und Sicherheit. Er war den ganzen Tag in der Schule angespannt, weil er Mitschüler hatte, die ihn ärgerten, sodass er nachmittags ein Ventil brauchte, um all die Anspannung rauszulassen. Er bat darum, vom Hort abgemeldet zu werden, weil es ihm zu viel wurde. Als wir das in die Tat umsetzten, wendete sich das Blatt schlagartig. Er wurde ausgeglichener und ruhiger. Heute als vierzehnjähriger Teenager freut er sich über jede Möglichkeit, mit Gleichaltrigen unterwegs sein zu können und nicht mehr zu Hause sitzen zu müssen.

DIALOG AUF AUGENHÖHE

Und nicht nur von den Entwicklungsphasen ist das Erleben und Verhalten eines Kindes abhängig, sondern auch davon, wie unsere Kinder ein Geschehen beurteilen. Das haben wir als Eltern nicht in der Hand. Sie beurteilen mit ihrer momentanen Gefühlslage, mit ihrem Gewordensein und ihrem Blick auf sich selbst. Um herauszufinden, was sie zu einem bestimmten Verhalten bewegt, hilft es nicht weiter, sich die Schuld zu geben, sondern den Dialog auf Augenhöhe zu suchen. Wir Eltern sind keine Superhelden, sondern Begleiter, Gesprächspartner und Ermutiger. Mit unseren Fehlern, Stärken und Schwächen können wir unserem Kind auf seinem Weg helfen, den eigenen Platz im Leben zu finden, Interesse an anderen zu entwickeln und einen eigenen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft zu leisten. Dafür brauche ich als Elternteil lediglich die Überzeugung, dass in jedem Kind etwas Gutes und Potenzial steckt, das es zu entfalten gilt. Dann kann es richtig laufen.

Stefanie Böhmann ist Pädagogin und individual-psychologische Beraterin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

„Unsere Aufgabe ist: zugewandt bleiben“

Eltern bleibt man ein Leben lang, aber die Verantwortung für ihr Leben und ihren Glauben müssen die Kinder irgendwann selbst tragen. Wann das soweit ist und wie man dahin kommt, erklären Cathy Zindel-Weber und Daniel Zindel im FamilyNEXT-Interview.

Es gibt immer wieder Aussagen, ab welchem Alter der Kinder das Erziehen „vorbei“ sei – manche sagen ab 12, andere ab 16. Wie seht ihr das?

Cathy Zindel-Weber: Die Frage ist: Was heißt erziehen? Wenn der 16- oder 18-Jährige noch bei uns wohnt, ist klar: Wir haben Regeln, und er ordnet sich ein. Es gibt Unverhandelbares und Verhandelbares. Wir bleiben Eltern, und doch wachsen die Kinder zu Gegenübern, welche selbst bestimmen. Das eine Kind ist früher eigenverantwortlich unterwegs, das andere später. Die 12-Jährige gestaltet zum Beispiel selbstständig, wann sie ihre Hausaufgaben erledigt, wie sie ihre Zeit einteilt und zu den Freunden Beziehungen pflegt. Es kann aber auch sein, dass der 16-Jährige bei der Tagesstruktur noch die elterliche Hilfe braucht. Auch ein Kind mit einem Handicap braucht länger und wird vielleicht nie ganz eigenverantwortlich leben können. Die Freiheit ist gekoppelt an die Eigenverantwortung. Das ist ein Prozess, der schon beim Kleinkind anfängt und der je nach Bereich früher oder später ein Ende zwischen Eltern und Kind findet. Das Ziel ist, dass das Kind lernt, selbst wahrzunehmen, was ihm und anderen guttut und was dem Leben und den Beziehungen dient.
Daniel Zindel: In dieser Phase gibt es immer wieder schwierige Entscheidungen, zum Beispiel: Soll der 16-Jährige seine Freundin über Nacht bei sich auf dem Zimmer haben? Wie gestalten sie ihre Sexualität? Was ist unsere Verantwortung dabei? Oft ist man da ja als Eltern nicht im selben Boot. Man muss damit ringen: Sollen sie das selbstständig gestalten mit 16 oder 17? Haben wir da auch einen Part? Stellen wir Fragen zur Verhütung? Ich denke, es kommt immer mehr zum Begleiten, zum Dialog. Wir müssen dranbleiben und aushalten, dass Kinder Wege gehen, die wir für uns nicht gewählt haben. Das ist ja auch eine Form von Erziehung: mitgehen, aushalten, zugewandt bleiben.

Ihr würdet also sagen: So viel Freiheit wie möglich – das Ziel ist, dass das Kind selbst entscheidet. Nur wenn ich merke, es kriegt es allein nicht hin, dann muss ich noch unterstützen …

Daniel: Ja, aber immer in dem Spannungsfeld: so viel Freiheit und so viel Verantwortung wie möglich. Ich gebe dir Freiheit, und zugleich hast du die Verantwortung, dich zu führen und dich nicht zu schädigen. Dein Leben soll gelingen. Du sollst dich gut an die Hand nehmen können und die Verantwortung für dich selbst wahrnehmen.
Cathy: Das ist bei allen Kindern ein langer Prozess des Dranbleibens und Nicht-Aufgebens. Wichtig ist, dass man ihnen die Verantwortung nicht wieder abnimmt. Es gibt auch 18- oder 19-Jährige, die diese Verantwortung noch nicht wirklich tragen können, die zum Beispiel mit Finanzen nicht zurechtkommen. Und auch von der Entwicklung und der Reife her länger brauchen. Es sind nicht immer nur die Eltern, die das nicht frühzeitig gemacht haben. Es kann aber sein, dass man ihnen zu lange nur Befehle erteilt oder ihnen zu viel Freiheit gegeben hat, und dann sollen sie auf einmal alles können. Das geht nicht. Jugendliche brauchen Übungsfelder, und da braucht es viel Vertrauen. Wir müssen sie auch in ihren Fehlern begleiten und dann nicht sagen: „Ich hab’s doch gewusst.“ Sondern eher: „Du musst die Konsequenzen tragen, aber wir unterstützen dich und begleiten dich, dass du den Sprung ins Leben schaffst.“
Daniel: Die Familie muss immer wieder neu die Verteilung von Verantwortlichkeiten regeln.
Cathy: Und da ist die Spannung, was wir als Eltern noch bestimmen und was wir als „Wohngemeinschaft“ zusammen entscheiden. Jugendliche entscheiden und gestalten ihr Leben oft nicht nach unseren Vorstellungen und trotzdem lieben wir sie. So ist Gott mit uns allen: Er bleibt uns zugewandt. Wir wählen nicht immer das Gute und Richtige. Und das gilt für unsere Kinder auch. Das braucht Geduld und Spannkraft. Wir haben die Aufgabe, unsere Angst und auch unser Schuldgefühl zu bearbeiten

Schuldgefühle sind ein wichtiges Thema. Wie gehe ich denn damit um, wenn ich erkenne, dass ich in der Erziehung oder der Beziehung zu meinem Kind Fehler gemacht habe?

Daniel: Dazu habe ich ein Beispiel. Bevor unsere Tochter heiratete, sagte sie: „Papa, ich möchte mit dir noch eine Bergwanderung machen.“ Und beim Aufstieg erklärte sie: „Jetzt sag ich dir, was du in meinen Augen alles gut gemacht hast. Und was du in meinen Augen schlecht gemacht hast.“ Sie meinte: „Du hast mich nur gelobt, wenn ich etwas gut gemacht habe.“ Ich erwiderte: „Aber ich habe dich doch immer geliebt.“ Darauf sagte sie: „Das hättest du doch mal sagen können, auch wenn ich nicht unbedingt etwas geleistet habe.“ – Das ist passiert. Das ist nicht reversibel. Ich kann nicht wieder von vorn anfangen. Es gibt wohl bei allen Eltern irgendein Thema, bei dem sie sagen: „Mit der heutigen Erfahrung, mit dem jetzigen Wissen würde ich es anders machen.“ Ich glaube, man kann das nur für sich selbst bereinigen. Es schmerzt. Ich schäme mich vielleicht, bin schuldig geworden. Und ich kann es mit Gott bearbeiten, Vergebung empfangen. Und so wie wir das gemacht haben: Wir konnten es besprechen, es klären. Wir haben Gott sei Dank Kinder, die uns nichts nachtragen. Es gehört auch zur Erziehungsarbeit, dass man auch Biografiearbeit mit den erwachsenen Kindern macht und Dinge klärt. Dass man so miteinander ins Reine kommt. Das ist ein spannender Prozess.
Cathy: Vielleicht gibt es auch Fehler, bei denen ich merke: Das ist echte Schuld. Da haben wir den Kindern etwas zugemutet und sind schuldig geworden. Das hat sie sehr stark verletzt. Aber im Allgemeinen sind es Dinge, die in unserem Unvermögen ohne Absicht geschehen sind.
Daniel: Manchmal haben Eltern Schuldgefühle und versuchen dann, ihr Kind im Nachhinein zufriedenzustellen, indem sie zum Beispiel Finanzen hinterherschieben. Gut abgelöst zu sein heißt auch, bereinigte Beziehungen zu haben.
Cathy: Manchmal kann man das mit den Kindern direkt klären, manchmal muss man einseitig vor Gott seine Fehler bekennen und aushalten, dass die Kinder damit noch einen Weg bis zur Aussöhnung mit den Eltern gehen müssen.
Daniel: Diese Klärung ist auch eine wichtige Voraussetzung für eine gute Großelternrolle. Bereinigte Beziehungen zu den Kindern sind ein Steilpass für gute Beziehungen zu den Enkeln und Schwiegerkindern.

Christliche Eltern sind oft enttäuscht, wenn ihre großen Kinder sich vom Glauben entfernen. Wie können sie gut damit umgehen?

Daniel: Das ist eine echte Not von uns Eltern, wenn unsere Kinder das, was uns am liebsten ist, wie ein Kleid abstreifen. Das tut weh. Diesen Schmerz muss man bei Gott abfließen lassen. Und auch hier muss man dann die Kinder loslassen. Es steckt ja oft auch eine gesunde Autonomie hinter ihrer Absetzbewegung. Wenn es zum Beispiel eine enge Frömmigkeit ist, die sie kennengelernt haben, brauchen sie vielleicht Luft zum Atmen. Wir Eltern denken, sie haben Gott verlassen. Aber vielleicht haben sie einfach unsere Spiritualität, unsere Frömmigkeit verlassen und sind geistlich auf ihrer eigenen Suche.
Cathy: Wenn die Kinder nicht mehr zur Gemeinde gehen oder wenn sie sagen: „Ich will nicht mehr beten“ oder „Ich will nichts mehr mit deinem Gott zu tun haben“, heißt das nicht, sie verlassen Gott. Sie verlassen ein Gottesbild, eine Form und müssen sich manchmal vehement dagegen abgrenzen, besonders wenn eine bestimmte Form sehr dominant war. Manche Kinder brauchen starke Abgrenzungen, um sich durchzusetzen. Eigentlich ist es eine Stärke. Wir können darauf vertrauen, dass die Kinder gerade dadurch ihren eigenen Glauben, ihre Beziehung zu Gott finden. Gott hat keine Enkel, er hat nur Kinder. Jede Generation braucht wieder einen neuen, einen eigenen Zugang zu diesem lebendigen Gott und kann nicht nur einfach etwas übernehmen.
Daniel: Wir haben das als Eltern auch schmerzlich erlebt. Wir haben dann auch erlebt, dass Kinder, wenn sie selbst Kinder bekommen, wieder ganz neu die Frage nach Gott stellen. Und ich vertraue auf die Treue Gottes, der über die Generationen hinweg immer wieder Glauben schenkt.
Cathy: Der Same ist gelegt. Jetzt müssen wir Gott vertrauen. Es ist nicht mehr unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist: zugewandt bleiben.

Das Interview führte FamilyNEXT-Redakteurin Bettina Wendland.

Viel entspannter beim zweiten Kind

Erst nach der Geburt ihres zweiten Sohns fiel Anna Koppri auf, dass sie beim großen Bruder zu fokussiert auf die prompte Stillung seiner Bedürfnisse gewesen war. Ihre Hebamme spielte hierbei eine wichtige Rolle.

Antonin, mein jahrelang ersehntes Wunschkind – endlich ist er da. Natürlich möchte ich alles richtig machen. Deshalb habe ich mich in der Schwangerschaft ausführlich mit dem Mutterwerden und bedürfnisorientierter Begleitung (das Wort Erziehung mochte ich noch nie) befasst. Ich beherzige den Rat meiner Hebamme: Messe täglich sechsmal seine Temperatur, notiere mir die Stillminuten an jeder Brust, Farbe und Konsistenz seiner Ausscheidungen. Beim Wickeln habe ich stets eine Hand auf dem Kind, damit es nicht vom Tisch purzelt.

Immer an der Seite des Kindes

Schon bald liegt er jeden Abend pünktlich um 19 Uhr in seinem Bettchen, um die „richtige Zeit zum Einschlafen“ zu verinnerlichen. Niemals würde ich ihn allein in einem Raum lassen, es sei denn er schläft gerade und das Babyfon ist eingeschaltet. Wenn mein Baby meckert, bin ich sofort zur Stelle, nehme es hoch, schuckle, biete Brust oder Schnuller an – schließlich möchte ich, dass er eine sichere Bindung zu mir bekommt. Einige meiner Rezeptoren sind stets mit meinem Baby verbunden, und so fällt es mir in den ersten Monaten sehr schwer, abzuschalten. Wandle ich durch die Wohnung, um etwas zu erledigen, wird das mit ziemlicher Sicherheit durch ein Bedürfnis des Kindes unterbrochen.

Glanzfolie und Glöckchen zur Beschäftigung

Sobald er etwas wacher ist, bemühe ich mich, meinen Sohn bestmöglich zu beschäftigen. Der Spielebogen steht eigentlich ununterbrochen über dem kleinen Geschöpf, das so neugierig alles aufsaugt, das man ihm bietet. Bald reichen ihm die drei Figuren, die da baumeln, nicht mehr aus. So hänge ich auf Anraten der Hebamme ständig neues Spielzeug über ihm auf: knisternde Glanzfolie, Glöckchen … Meinen Tagesablauf gestalte ich nach den Schlaf-, Wach- und Essenszeiten meines Babys. Gegen 17:30 Uhr weint er viel, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten, weshalb ich um diese Zeit stets mit ihm zu Hause bin. Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Ich dachte, ich könnte ihn überall hin mitnehmen.

Fast eine Helikoptermutter

Naja, ich bin in Elternzeit, und die ist schließlich dazu da, meine ganze Energie in das neue Leben zu stecken. Klar mache ich auch Dinge, die mir Spaß machen. Zum Beispiel verbringe ich fast den ganzen Sommer mit ihm am See. Meine Freunde würden wohl nicht auf die Idee kommen, ausgerechnet mich als Helikoptermutter zu beschreiben. Doch dieses Kind ist mein absoluter Fokus. Ich achte darauf, dass er in seinem ersten Jahr möglichst kein Körnchen Salz zu sich nimmt und auch kein Sonnenstrahl ihn direkt trifft. Sein Vater und ich, beide sehr freiheitsliebende Individualisten, bekommen eine ganze neue Verbindung durch den gemeinsamen Fokus auf unser Kind.

Das zweite Kind ändert alles

Drei Jahre später ist Antonins kleiner Bruder Benjamin da. Dieses Ereignis erleben wir wesentlich unaufgeregter als die Ankunft des Ersten. Wir sind zwar genauso verliebt in das kleine Wesen, doch beschäftige ich mich wesentlich weniger damit, was ich nun alles richtig oder falsch machen könnte. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich um mein erstes Baby gekreist bin. Ständig habe ich mir Gedanken gemacht, ob ihm zu kalt, zu warm oder etwa langweilig sein könnte. Ständig hatte ich dieses unbestimmte Gefühl, ein Bedürfnis zu übersehen oder ihm nicht gerecht zu werden. Ständig waren alle Augen und Erwartungen auf ihn gerichtet.

„Lass ihn ruhig meckern“

Mit meiner neuen Hebamme, die ich als tiefenentspannt und sehr ganzheitlich erlebe, lerne ich einiges, was ich gern schon bei Antonin gewusst hätte. Wir stehen am Wickeltisch, auf dem das neugeborene Menschlein liegt. Als Benjamin anfängt zu meckern, stecke ich routiniert meinen kleinen Finger in seinen Mund, um ihn zu beruhigen. „Lass ihn ruhig ein bisschen meckern. Das darf er, er möchte sich auch mitteilen. Wenn er immer sofort etwas in den Mund bekommt, erhält er die Botschaft, dass das unerwünscht ist,“ erklärt Susanne. Okay, so habe ich das noch gar nicht gesehen.

Das Kind braucht Zeit alleine

Weil Benja so ein ausgeglichener Knirps ist, lasse ich ihn manchmal allein im Wohnzimmer liegen – sofern der große Bruder gerade keine Gefahr für ihn darstellt. Der probiert gern mal aus, ob er ihn schon tragen kann. Ich schaue so gut wie gar nicht auf die Uhr, sondern gestalte ganz normal meinen Tag mit dem Großen, der coronabedingt gerade monatelang zu Hause ist. Das Baby kommt einfach immer mit.

Oft liegt Benja mehr als eine Stunde zufrieden auf einer Decke im Garten oder Wohnzimmer und unterhält sich mit den Bäumen oder der Wand. Manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass sich so lange niemand mit ihm beschäftigt. Doch meine Hebamme bestärkt mich darin, einfach zu genießen, dass ihm das Liegen und Schauen schon ausreicht: „Es ist sogar wichtig für die Entwicklung der Kleinen, auch mal allein zu sein, ihre Umgebung wahrzunehmen und nicht ständig beschäftigt zu werden oder im Fokus zu sein.“ Den Spielebogen soll ich ihm frühestens mit sechs bis acht Wochen anbieten und dann auch immer nur mal für ein paar Minuten, um ihn nicht zu überfordern oder an zu viel Entertainment zu gewöhnen. Benja ist in diesen Spielzeug-Minuten tatsächlich immer völlig aus dem Häuschen und braucht danach eine Weile, um wieder runterzukommen. Sein liebstes Spielzeug sind schon seit Wochen seine kleinen Händchen und Füßchen.

Viel mehr Vertrauen – trotz weniger Aufmerksamkeit

Aus Gewohnheit biete ich ihm auch noch mit drei Monaten alle eineinhalb bis zwei Stunden die Brust an, wenn er meckert, so wie ich es aus seinen ersten Wochen kenne. Er trinkt meist ein paar Schluck, wendet sich dann ab und schreit oder verschluckt sich. Zuerst halte ich das für ganz normal. Aber als er ein paar Tage lang fast völlig das Trinken verweigert, frage ich meine Hebamme um Rat. Sie erklärt mir, dass Benja ein sicher gebundenes Kind ist und in diesem Alter höchstens alle drei bis vier Stunden Milch braucht. Nicht jedes Mal, wenn er an seinen Fingern lutsche, bedeute das, dass er Hunger habe. Ein echter Augenöffner für mich, und sobald ich ihren Rat beherzige, reguliert sich unsere Stillbeziehung wie von selbst. Erstaunlich, dass mein zweiter Sohn, der den Großteil des Tages mit sich allein auf einer Decke liegt, mehr Vertrauen zu haben scheint als mein erster, dem ich jedes Bedürfnis von den Augen abgelesen und sofort gestillt habe.

Corona schafft Routinen

Mit vier Monaten liegt Benjamin noch immer zufrieden auf seiner Decke. Natürlich nicht immerzu, er ist ein ganz normales Baby, das auch mal schreit. Doch der Corona-Lockdown bekommt ihm sehr gut. Immer dieselben Routinen und Umgebungen lassen ihn sich sicher und aufgehoben fühlen. Solange sein Bruder um ihn herum spielt und seine Eltern sich ihm zwischendurch immer mal zuwenden, ist seine kleine Welt im Lot.

Von meiner Hebamme lerne ich, dass es dem Kind auch Sicherheit vermittelt, wenn ich ihm jeweils nach etwa eineinhalb Stunden Wachphase wieder in den Schlaf helfe, sofern er nicht selbst dorthin findet. Jetzt mit vier Monaten könne es auch immer mal vorkommen, dass er dann schreit. Erstaunlich oft und immer wieder große Verwunderung bei unseren Freunden auslösend, schafft er es allerdings, ganz allein in den Schlaf zu finden. Seinen Nachtschlaf beginnt er, genau wie sein großer Bruder, gegen 21 Uhr, und dafür schläft er morgens auch bis acht oder neun (natürlich mit Stillunterbrechungen). Als Eltern können wir uns nicht über zu kurze Nächte beklagen. Manchmal frage ich mich, weshalb ich damals bei Antonin das Gefühl hatte, keine Zeit zu haben. Wenn ich jetzt nur Benjamin zu Hause hätte, hätte ich unglaublich viel Zeit für alles Mögliche.

Nachts schreien beide noch

Mein Dreijähriger wacht nachts immer mal auf und schreit dann fast wie ein Baby. Ich frage meine Hebamme, weshalb er das wohl tut. Sie vermutet, dass das damit zusammenhängt, dass wir immer sofort gesprungen sind und ihm etwas angeboten haben, wenn er sich als Baby gemeldet hat. Er habe dadurch noch nicht gelernt, sich selbst zu regulieren. Nachts greife er auf das Schreien zurück, um von uns reguliert zu werden. Auch Benja lassen wir natürlich nicht schreien, doch manchmal darf er sich ein bisschen beschweren und meckern, ohne dass wir ihm sofort etwas anbieten. Meist findet er einen seiner Finger und nuckelt daran, bis er sich wieder entspannen kann, oder ich rede ein bisschen mit ihm, was ihn auch schon beruhigt.

Inzwischen ist Benja ein halbes Jahr alt, Antonin geht wieder in die Kita und dem Kleinen ist es manchmal ein bisschen zu ruhig mit Mama allein. Dann bemühe ich mich um etwas Entertainment, versuche das aber in Grenzen zu halten und habe recht viel Zeit für anderes. Selten gibt es Situationen, die mich beunruhigen, was am gesunden, ausgeglichenen Wesen von Benja, aber sicher auch an meiner inneren Entspanntheit liegt. Davon hätte ich mir bei meinem Großen ein wenig mehr gewünscht.

Anna Koppri liebt es, Mama zu sein und sich nebenher Gedanken über Gott und die Welt zu machen, zum Beispiel auf ihrem Blog: liebenlernenblog.wordpress.com

Helikoptermutter? Erst bei ihrem zweiten Kind kann Anna entspannen

Anna Koppri liest ihrem ersten Sohn jeden Wunsch von den Lippen ab. Erst beim zweiten Kind merkt sie: Das kann ein Fehler sein.

Antonin, mein jahrelang ersehntes Wunschkind – endlich ist er da. Natürlich möchte ich alles richtig machen. Deshalb habe ich mich in der Schwangerschaft ausführlich mit dem Mutterwerden und bedürfnisorientierter Begleitung (das Wort Erziehung mochte ich noch nie) befasst. Ich beherzige den Rat meiner Hebamme: Messe täglich sechsmal seine Temperatur, notiere mir die Stillminuten an jeder Brust, Farbe und Konsistenz seiner Ausscheidungen. Beim Wickeln habe ich stets eine Hand auf dem Kind, damit es nicht vom Tisch purzelt.

Immer an der Seite des Kindes

Schon bald liegt er jeden Abend pünktlich um 19 Uhr in seinem Bettchen, um die „richtige Zeit zum Einschlafen“ zu verinnerlichen. Niemals würde ich ihn allein in einem Raum lassen, es sei denn er schläft gerade und das Babyfon ist eingeschaltet. Wenn mein Baby meckert, bin ich sofort zur Stelle, nehme es hoch, schuckle, biete Brust oder Schnuller an – schließlich möchte ich, dass er eine sichere Bindung zu mir bekommt. Einige meiner Rezeptoren sind stets mit meinem Baby verbunden, und so fällt es mir in den ersten Monaten sehr schwer, abzuschalten. Wandle ich durch die Wohnung, um etwas zu erledigen, wird das mit ziemlicher Sicherheit durch ein Bedürfnis des Kindes unterbrochen.

Glanzfolie und Glöckchen zur Beschäftigung

Sobald er etwas wacher ist, bemühe ich mich, meinen Sohn bestmöglich zu beschäftigen. Der Spielebogen steht eigentlich ununterbrochen über dem kleinen Geschöpf, das so neugierig alles aufsaugt, das man ihm bietet. Bald reichen ihm die drei Figuren, die da baumeln, nicht mehr aus. So hänge ich auf Anraten der Hebamme ständig neues Spielzeug über ihm auf: knisternde Glanzfolie, Glöckchen … Meinen Tagesablauf gestalte ich nach den Schlaf-, Wach- und Essenszeiten meines Babys. Gegen 17:30 Uhr weint er viel, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten, weshalb ich um diese Zeit stets mit ihm zu Hause bin. Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Ich dachte, ich könnte ihn überall hin mitnehmen.

Fast eine Helikoptermutter

Naja, ich bin in Elternzeit, und die ist schließlich dazu da, meine ganze Energie in das neue Leben zu stecken. Klar mache ich auch Dinge, die mir Spaß machen. Zum Beispiel verbringe ich fast den ganzen Sommer mit ihm am See. Meine Freunde würden wohl nicht auf die Idee kommen, ausgerechnet mich als Helikoptermutter zu beschreiben. Doch dieses Kind ist mein absoluter Fokus. Ich achte darauf, dass er in seinem ersten Jahr möglichst kein Körnchen Salz zu sich nimmt und auch kein Sonnenstrahl ihn direkt trifft. Sein Vater und ich, beide sehr freiheitsliebende Individualisten, bekommen eine ganze neue Verbindung durch den gemeinsamen Fokus auf unser Kind.

Das zweite Kind ändert alles

Drei Jahre später ist Antonins kleiner Bruder Benjamin da. Dieses Ereignis erleben wir wesentlich unaufgeregter als die Ankunft des Ersten. Wir sind zwar genauso verliebt in das kleine Wesen, doch beschäftige ich mich wesentlich weniger damit, was ich nun alles richtig oder falsch machen könnte. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich um mein erstes Baby gekreist bin. Ständig habe ich mir Gedanken gemacht, ob ihm zu kalt, zu warm oder etwa langweilig sein könnte. Ständig hatte ich dieses unbestimmte Gefühl, ein Bedürfnis zu übersehen oder ihm nicht gerecht zu werden. Ständig waren alle Augen und Erwartungen auf ihn gerichtet.

„Lass ihn ruhig meckern“

Mit meiner neuen Hebamme, die ich als tiefenentspannt und sehr ganzheitlich erlebe, lerne ich einiges, was ich gern schon bei Antonin gewusst hätte. Wir stehen am Wickeltisch, auf dem das neugeborene Menschlein liegt. Als Benjamin anfängt zu meckern, stecke ich routiniert meinen kleinen Finger in seinen Mund, um ihn zu beruhigen. „Lass ihn ruhig ein bisschen meckern. Das darf er, er möchte sich auch mitteilen. Wenn er immer sofort etwas in den Mund bekommt, erhält er die Botschaft, dass das unerwünscht ist,“ erklärt Susanne. Okay, so habe ich das noch gar nicht gesehen.

Das Kind braucht Zeit alleine

Weil Benja so ein ausgeglichener Knirps ist, lasse ich ihn manchmal allein im Wohnzimmer liegen – sofern der große Bruder gerade keine Gefahr für ihn darstellt. Der probiert gern mal aus, ob er ihn schon tragen kann. Ich schaue so gut wie gar nicht auf die Uhr, sondern gestalte ganz normal meinen Tag mit dem Großen, der coronabedingt gerade monatelang zu Hause ist. Das Baby kommt einfach immer mit.

Oft liegt Benja mehr als eine Stunde zufrieden auf einer Decke im Garten oder Wohnzimmer und unterhält sich mit den Bäumen oder der Wand. Manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass sich so lange niemand mit ihm beschäftigt. Doch meine Hebamme bestärkt mich darin, einfach zu genießen, dass ihm das Liegen und Schauen schon ausreicht: „Es ist sogar wichtig für die Entwicklung der Kleinen, auch mal allein zu sein, ihre Umgebung wahrzunehmen und nicht ständig beschäftigt zu werden oder im Fokus zu sein.“ Den Spielebogen soll ich ihm frühestens mit sechs bis acht Wochen anbieten und dann auch immer nur mal für ein paar Minuten, um ihn nicht zu überfordern oder an zu viel Entertainment zu gewöhnen. Benja ist in diesen Spielzeug-Minuten tatsächlich immer völlig aus dem Häuschen und braucht danach eine Weile, um wieder runterzukommen. Sein liebstes Spielzeug sind schon seit Wochen seine kleinen Händchen und Füßchen.

Viel mehr Vertrauen – trotz weniger Aufmerksamkeit

Aus Gewohnheit biete ich ihm auch noch mit drei Monaten alle eineinhalb bis zwei Stunden die Brust an, wenn er meckert, so wie ich es aus seinen ersten Wochen kenne. Er trinkt meist ein paar Schluck, wendet sich dann ab und schreit oder verschluckt sich. Zuerst halte ich das für ganz normal. Aber als er ein paar Tage lang fast völlig das Trinken verweigert, frage ich meine Hebamme um Rat. Sie erklärt mir, dass Benja ein sicher gebundenes Kind ist und in diesem Alter höchstens alle drei bis vier Stunden Milch braucht. Nicht jedes Mal, wenn er an seinen Fingern lutsche, bedeute das, dass er Hunger habe. Ein echter Augenöffner für mich, und sobald ich ihren Rat beherzige, reguliert sich unsere Stillbeziehung wie von selbst. Erstaunlich, dass mein zweiter Sohn, der den Großteil des Tages mit sich allein auf einer Decke liegt, mehr Vertrauen zu haben scheint als mein erster, dem ich jedes Bedürfnis von den Augen abgelesen und sofort gestillt habe.

Corona schafft Routinen

Mit vier Monaten liegt Benjamin noch immer zufrieden auf seiner Decke. Natürlich nicht immerzu, er ist ein ganz normales Baby, das auch mal schreit. Doch der Corona-Lockdown bekommt ihm sehr gut. Immer dieselben Routinen und Umgebungen lassen ihn sich sicher und aufgehoben fühlen. Solange sein Bruder um ihn herum spielt und seine Eltern sich ihm zwischendurch immer mal zuwenden, ist seine kleine Welt im Lot.

Von meiner Hebamme lerne ich, dass es dem Kind auch Sicherheit vermittelt, wenn ich ihm jeweils nach etwa eineinhalb Stunden Wachphase wieder in den Schlaf helfe, sofern er nicht selbst dorthin findet. Jetzt mit vier Monaten könne es auch immer mal vorkommen, dass er dann schreit. Erstaunlich oft und immer wieder große Verwunderung bei unseren Freunden auslösend, schafft er es allerdings, ganz allein in den Schlaf zu finden. Seinen Nachtschlaf beginnt er, genau wie sein großer Bruder, gegen 21 Uhr, und dafür schläft er morgens auch bis acht oder neun (natürlich mit Stillunterbrechungen). Als Eltern können wir uns nicht über zu kurze Nächte beklagen. Manchmal frage ich mich, weshalb ich damals bei Antonin das Gefühl hatte, keine Zeit zu haben. Wenn ich jetzt nur Benjamin zu Hause hätte, hätte ich unglaublich viel Zeit für alles Mögliche.

Nachts schreien beide noch

Mein Dreijähriger wacht nachts immer mal auf und schreit dann fast wie ein Baby. Ich frage meine Hebamme, weshalb er das wohl tut. Sie vermutet, dass das damit zusammenhängt, dass wir immer sofort gesprungen sind und ihm etwas angeboten haben, wenn er sich als Baby gemeldet hat. Er habe dadurch noch nicht gelernt, sich selbst zu regulieren. Nachts greife er auf das Schreien zurück, um von uns reguliert zu werden. Auch Benja lassen wir natürlich nicht schreien, doch manchmal darf er sich ein bisschen beschweren und meckern, ohne dass wir ihm sofort etwas anbieten. Meist findet er einen seiner Finger und nuckelt daran, bis er sich wieder entspannen kann, oder ich rede ein bisschen mit ihm, was ihn auch schon beruhigt.

Inzwischen ist Benja ein halbes Jahr alt, Antonin geht wieder in die Kita und dem Kleinen ist es manchmal ein bisschen zu ruhig mit Mama allein. Dann bemühe ich mich um etwas Entertainment, versuche das aber in Grenzen zu halten und habe recht viel Zeit für anderes. Selten gibt es Situationen, die mich beunruhigen, was am gesunden, ausgeglichenen Wesen von Benja, aber sicher auch an meiner inneren Entspanntheit liegt. Davon hätte ich mir bei meinem Großen ein wenig mehr gewünscht.

Anna Koppri liebt es, Mama zu sein und sich nebenher Gedanken über Gott und die Welt zu machen, zum Beispiel auf ihrem Blog: liebenlernenblog.wordpress.com

Ein Paar, zwei Perspektiven: Verschwörung

DER PAKT VON MORDOR

Katharina Hullen kämpft gegen eine innerfamiliäre Verschwörung. Dass ihr Mann Teil des Komplottes ist, macht die Sache nicht einfacher.

Katharina: Es gibt so Tage: Die Spülmaschine heizt nicht mehr, der Kaffeeautomat spuckt nur noch heiße Luft, die Waschmaschine schreit mir Fehler 23 entgegen und verlangt nach einem Techniker. Na super! Ein 7-Personen-Haushalt ohne funktionierende Spül- und Waschmaschine – wie soll man das aushalten? Ohne Kaffee?

Offensichtlich hat sich an solchen Tagen die Welt gegen mich verschworen. Überhaupt Verschwörung: Auch meine eigene Familie, Hauke und die Kinder, treffen offensichtlich ständig geheime Absprachen, um mich zu manipulieren und letztendlich in den Wahnsinn zu treiben.

Dafür gibt es sichtbare Anzeichen, wirklich! Zum Beispiel die Streifen von Schuhsohlen in der ganzen Wohnung. Ich sage zwar täglich mehrmals jedem der sechs Beteiligten: „Zieh bitte deine Schuhe aus!“ Doch offenbar bin ich Teil eines Experimentes, das sich um die Frage dreht, wann eine Mutter resigniert und sich willenlos dem Chaos ergibt. Wahrscheinlich denken die Kinder auch, dass die Sache mit den Schuhen gar keine Familienregel ist, da sich der Papa ja auch nicht daran hält.

Oder die allabendlichen Verzögerungstaktiken der Kinder, um nicht schon ins Bett gehen zu müssen. Es scheint ein Abkommen zwischen dem Vater und seiner Brut zu geben, denn statt einzuschreiten, macht er es sich auf dem Sofa gemütlich. So schlage ich allein die „Jetzt-ist-Schlafenszeit!“-Trommel und fische mir mühsam die jüngsten, widerborstigsten Kandidaten heraus, während der Rest als eingeschworene Gemeinschaft den Tag digital auf dem Sofa beschließt.

Zudem braut sich gerade auch ein Pakt zwischen unserer Ältesten (13) und ihrem Papa zusammen: Seit sie zwölf Jahre alt ist und die entsprechenden Filme theoretisch sehen darf, empfindet Hauke einen cineastischen Lehrauftrag und möchte all die großen und kleinen Blockbuster mit ihr erleben. An sich ja eine schöne Vater-Tochter-Idee, wenngleich ich nicht jeden Film, der ab 12 freigegeben ist, auch geeignet finde. Aber das ist ein anderes Thema …

An unserem Familienfilmabend beteuern die beiden also mit treuherzigen Augen, dass sie jetzt im Obergeschoss einen anderen Film sehen müssen, immerhin habe die Tochter auch das dicke Buch zum Film gelesen. So werden wir unsere bislang gemeinsam erlebten Filmabende nun getrennt verleben, die zwei mit Frodo in Mordor und wir anderen mit der Eiskönigin in Arendelle. Dabei gäbe es dutzende Filme, die eine gemeinsame Schnittmenge hätten und uns einen schönen Familienfilmabend bescheren würden – doch mit Argumenten ist den Verschwörern eben nicht beizukommen.

Ist so ein Tag, an dem sich scheinbar alles gegen mich verschworen hat, aber erst mal vorbei, kann ich Gott sei Dank auch die Wahrheit sehen: Nicht alle Missgeschicke folgen einem bösen Plan. Wenn jemand die Fäden in der Hand hält, dann unser gnädiger Schöpfer, der mit mir mein Leben ideenreich, fröhlich und mutig gestalten will.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

MACHTLOSER FÄDENZIEHER

Hauke Hullen unterliegt regelmäßig, wenn es um die Berufung des Vorsitzenden geht, und kann die Wahl nicht anfechten.

Hauke: Haben Sie die Demonstration gesehen? Plakate und aufwieglerische Sprüche, die Unterdrückung und Freiheitsberaubung behaupteten; eine Minderheit, die sehr lautstark für ihre Wünsche eintrat! Und was wollten die Protestierenden? Ganz einfach: Ein eigenes Zimmer für unsere älteste Tochter, damit die Zwillinge ebenfalls ihre eigenen Reiche bekommen.
Ja, diese Demo fand bei uns im Wohnzimmer statt, doch es gibt Gemeinsamkeiten zu den aktuellen Verschwörungen: Beide setzen mehr auf gefühlte Wahrheiten denn auf Fakten, und beide fabulieren von einer Diktatur, wenn ihren Wünschen nicht entsprochen wird. Dabei vermischen sich sowohl die Anhänger der diversen Ideologien als auch ihre Argumente zu einem allseits kompatiblen Verschwörungsbrei.

Leichtfertig sollte man die Theorien jedoch nicht vom Tisch wischen – es gibt ja tatsächlich perfide Pläne, die im Geheimen vorangetrieben werden. Zum Beispiel das berühmte Brotdosen-Komplott: Um die gesamte Familie schleichend mit Vitaminen und Liebe zu kontaminieren, hat meine Frau  wider jede Vernunft den Kindern bis ins Teenager-Alter hinein jeden Morgen überkandidelte Pausenbrote vorbereitet, umrahmt von allem, was die Obstplantagen weltweit so hergeben. Ich fand immer, jeder könne sich selbst einfach ein Brot mit Wurst belegen – das geht schnell und macht satt, fertig.

Offenbar fanden meine Argumente endlich Gehör: Die drei älteren Mädels machen sich nun ihre Frühstücksboxen selbst. Doch der Sieg der Vernunft war nur vordergründig, musste ich doch mit ansehen, wie die Mädchen in ihren Brotdosen weiterhin filigrane Kunstwerke aus Gemüse, Dips, Obst, Brot und vertaner Lebenszeit anrichteten. Und als ich eines Morgens meine Dose noch mal öffnete, lachte mich ein Gemüse-Obst-Frosch an und der Rest der Familie aus. Wo bin ich hier hineingeraten?

Während ich also einer realen Konspiration ausgesetzt bin, sind die von unseren Kindern behaupteten Verschwörungen nur eingebildet. Sie glauben, dass Kathi und ich eine eingeschworene Gemeinschaft seien, die unbeirrt eine gemeinsame Strategie verfolge. Das mag daran liegen, dass ich auf alle Anfragen stets mit „Das muss ich erst noch mit Kathi besprechen“ geantwortet habe. (Um etwas mehr Würde zu bewahren, habe ich inzwischen das „muss“ durch ein „möchte“ ersetzt.)

Intern geht es bei uns jedoch höchst divers und demokratisch zu: Kathi und ich erörtern die Sachlage und stimmen schließlich ab. Bei zwei Leuten könnte schnell ein Patt entstehen, möchte man meinen, doch nicht bei uns: Bei Gleichstand gibt die Person, die gerade den Vorsitz innehat, den Ausschlag. Es gibt transparente Kriterien für die Berufung in dieses Amt.

In diesem Jahr gab es, wie immer, zwei Bewerber. Am Ende ist es, wie immer, meine Frau geworden, weil das bei uns wie bei anderen Stellenausschreibungen auch funktioniert: „Frauen und Schwerbehinderte werden bei entsprechender Eignung bevorzugt berücksichtigt.“ Ich finde das unfair, weil so immer meine Frau den Vorsitz einnehmen wird, Kathi meint jedoch, wir hätten beide die gleichen Chancen.

So gesehen stimmt die Annahme unserer Kinder nicht, ich wäre Teil einer verschworenen Elite. Andererseits muss man festhalten: Am Ende des Tages stecke ich doch wieder mit der Regierung unter einer Decke.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Die Schublade klemmt …

Wir haben Vorstellungen und Bilder von unseren Kindern. Aber Kinder verändern sich. Vor allem, wenn sie erwachsen werden, passen sie oft nicht mehr in unsere „Schublade“. Von Stefanie Diekmann

In unserer Familie gibt es Rollen, die gut ausgefüllt sind. Die laute, kreative, unruhige Mama. Der zugewandte, besonnene, gewohnheitsliebende Papa. Ein Kind liebte Puppen und rosa, die andere Freiheit und Unabhängigkeit und auf keinen Fall Puppen und rosa. In unserem Miteinander gab und gibt es einordnende Adjektive für jeden von uns.

Auf einigen Elternseminaren habe ich dazu viel gehört. Wie gut es ist, dass eine Erstgeborene aus den Umständen der Geschwisterfolge viel für ihre Persönlichkeit lernt. Oder dass unser Nesthäkchen mehr Verhandlungsgeschick entwickelt als seine großen Geschwister.
Gerade weil vieles sich so stereotyp herunterbrechen, beobachten und vermitteln ließ, hat es mich sehr beruhigt: Alles läuft. Wir entwickeln uns nach allgemein gültigem Plan. Ich habe viel Kraft investiert, zu erfassen, wie wir unsere Liebe so ausdrücken können, dass jeder seinen inneren Tank gefüllt weiß – gemäß des Modells der „Fünf Sprachen der Liebe“. Immer wieder halfen mir diese Abstraktionen, um mit meinem Kind in Kontakt zu kommen oder meiner Ehe einen neuen Stellenwert zu gönnen.

Auf Adjektive reduziert

Neben Geschwisterkonstellationen und Liebestypen habe ich mich viel mit Grundstrukturen der Persönlichkeit beschäftigt. Immer noch finde ich spannend, dass ein Kern in uns allgemeinen Beschreibungen zuzuordnen ist. Herrliche Schubladen zur Vereinfachung. Alles in allem habe ich mich in den Kinderjahren echt fit gemacht in der Persönlichkeits-Förderung.

Nun klemmt es. Und zwar schmerzhaft. Nun bin ich Begleiterin von drei erwachsenen Kindern und erlebe mich unsicher wie am ersten Tag. Die Schublade, in die ich mein Kind sorgsam eingeordnet habe, will nicht mehr zugedrückt werden. Durch das Reifen entstehen neue Persönlichkeitsfacetten, die ich in meinem Kind nicht vermutet habe. Während ich versuche, zu meiner eigenen inneren Sicherheit mein Kind zurück in diese Schublade zu stopfen, passieren hässliche Szenen.
„Immer“, nörgele ich ihm hilflos zu, „immer hast du so lange getrotzt und wolltest dein Recht laut und klar vermitteln. Und nun wieder … Ich weiß, dass du mit dieser Entscheidung Schwierigkeiten haben wirst. Lass es dir sagen: Ich weiß es!“ Die Reaktion des Kindes, das von mir auf Adjektive reduziert wird, tut uns nicht gut.
Die Festlegungen aus sorgsam recherchierten Zusammenhängen waren lange eine Orientierung für mich. Nun werden sie zu Hürden. Aber mein mutiges Kind darf Sorgennächte für Prüfungen haben. Und mein selbstbewusstes Kind braucht auch mit 1,90 Meter noch Kuscheleinheiten.

Brandheißer Tipp

Mich irritiert, wenn Menschen mir sagen: „Deine Tochter hat – so wie ich sie kenne – viel Heimweh. Sie ist ja nie sehr selbstständig gewesen.“ Die Schubladen von Beobachtern erscheinen mir noch fester verschlossen für die Überraschungen, die das Erwachsenwerden uns allen bringt. Mittlerweile übe ich mich zu sagen: „Meiner Beobachtung nach geht es ihr … Aber frag sie bitte selbst.“ Tatsächlich wollte sich letztens eine hartnäckige Seniorin damit nicht abfinden und kommentierte: „Eltern kennen ihre Kinder doch immer am besten, egal, wie alt sie sind. Wenn sie doch nur auf uns hören würden!“

Ja, am meisten haben wir als Eltern damit zu tun, dass unsere Familien-Schubladen sich wieder öffnen. Wir lieben unsere Kinder, auch wenn wir sie manchmal nicht wiedererkennen.
Erwachsene Kinder dürfen ihre Lebensthemen nach ihren Prioritäten ordnen. Keiner möchte dabei bevormundet oder entmündigt werden. Auch wenn wir durch alle gesammelten Infos der Persönlichkeitsschublade einen brandheißen Tipp auf Lager hätten.
Leise schleichen sich Fragen neben uns und legen uns eine Last aufs Herz: Sind wir ihnen gerecht geworden? Haben wir sie genug ermutigt, gebremst, ihre Reifung gefördert? Allein diese Last lässt uns als Eltern verspannter und rückwärtsgewandter wirken, als uns lieb ist. So beleidigt, streng und distanziert wollten wir nie sein.

Fragend bleiben

Robert fragt in einer Kaffeerunde: „Sind eure Kinder auch so grässliche Besserwisser? Ich kann es manchmal kaum mit ihnen am Tisch aushalten. Alles wissen sie: Politik, Kirche, Bildung. Und dabei muss ich ihnen immer noch erklären, wie man einen Brief frankiert!“ Beim Hören erschrecke ich: So etwas will ich nicht über meine Kinder sagen. Ich habe täglich darum gerungen, dass sie sich zu gesellschaftlichen Themen positionieren. Auch wenn ihre Ansichten auf Ältere unrund wirken, sind sie doch mutig, leidenschaftlich und vermeiden das Achselzucken, das meine Generation gerade gut beherrscht.

Ich lerne es wieder schätzen, Fragen zu stellen. Zu fragen: „Was brauchst du jetzt?“, hat mir in den Zeiten geholfen, in denen unsere Kleinkinder von Wut und Mut geschüttelt worden sind. Es passt wieder und noch zu fragen:

Wie möchtest du Zeit mit uns verbringen?
Brauchst du Hilfe in deinem Zeitmanagement?
Hast du Menschen, die dich im Glauben an Gott fördern?
Welche Charaktereigenschaft hast du neu an dir kennengelernt?

Nicht selten bewegt sich die verklemmte Schublade. Dann können wir eine Erinnerung an das Miteinander vor 18 Jahren erzählen oder unsere Einschätzung geben. Noch öfter aber kommen Wünsche und Gedanken zum Vorschein, die mich heimlich die Schublade öffnen lassen, um ein altes, verletzendes Adjektiv zu entsorgen und einen neuen, staunenden Eindruck über diesen jungen Menschen hineinzulegen.
Wenn diese Schubladen öfter mal geöffnet werden, haben auch wir als Eltern gute Chancen, dass eine Sicht auf uns verändert und angepasst wird.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.