Beiträge

6 bis 10 – Verbunden bleiben

Elternfrage: „Mein Sohn ist neun Jahre alt, und ich vermisse das Alter, in dem er noch mehr meine Nähe gesucht hat. Wie schafft man es, eine tiefe Verbundenheit zu Kindern zu halten, die einen immer weniger brauchen?“

Bindung ist von Anfang an eins der größten Grundbedürfnisse von Kindern. Das Bedürfnis verschwindet nicht, wenn sie älter werden. Es ändert sich jedoch mit der Zeit die Art, wie Eltern die Verbindung zu ihren Kindern leben und vertiefen. Ich habe drei Ideen für den Alltag gesammelt, die dabei helfen können, eine tiefe Verbundenheit zu unseren Kindern zu fördern.

1. Den Moment nutzen

Kinder, die selbstständig werden, verändern ihren Alltag: Sie gestalten die Nachmittage eigenständiger als zuvor, sind länger in der Schule und oft nicht mehr zu den gewohnten, festen Zeiten zu Hause. Umso wichtiger ist es als Eltern, die wenigen Verbindungsmomente wahrzunehmen, die uns das Leben schenkt. Die Herausforderung dabei ist, dass es sich für uns Eltern häufig nicht nach einem günstigen Moment anfühlt, weil wir gerade das Geschirr spülen, eine E-Mail schreiben oder die Zähne putzen wollten. Wir dürfen lernen, die Momente zu erkennen und zu nutzen, in denen unsere Kinder offen für Verbindung sind. Auch wenn dabei etwas anderes erstmal liegen bleibt.

2. Interesse zeigen

Wenn unsere Kinder größer werden, ändern sich oft auch ihre Interessen. Es kommt vielleicht auch ein neues Hobby hinzu, das nicht zu unseren eigenen Vorlieben gehört. Für eine gute Verbundenheit ist es wichtig, dass wir genau dafür Interesse entwickeln. Wir können lernen, nicht nur nach der Schule zu fragen, sondern nach dem, was gerade wirklich wichtig für das Kind ist – auch, wenn wir das womöglich nicht verstehen. Frag nach, wie der YouTuber heißt, den dein Kind toll findet und erkundige dich, was es an ihm so mag. Lass dir seine liebsten Videos zeigen oder die Lieblingsmusik vorspielen. Setz dich daneben, wenn es zockt und lass dir erklären, wie das funktioniert.

3. Körpernähe anbieten

Nichts fördert die Bindung so sehr wie positiver Körperkontakt. Bei Berührungen wie einer Umarmung schüttet der Körper Oxytocin aus. Dieses Hormon wird auch als Bindungshormon bezeichnet. Es intensiviert die Verbundenheit, verstärkt das Vertrauen zueinander, baut Stress ab und löst Ängste. Sind unsere Kinder klein, entstehen Kuschelzeiten meist von allein. Das ändert sich jedoch oft, wenn sie älter werden. Trotzdem ist diese Art der Nähe wichtig. Wir dürfen auch unseren großen Kindern Körperkontakt anbieten, zum Beispiel durch eine Umarmung, eine Massage oder ein nahes Beieinandersitzen auf dem Sofa.

Zum Schluss noch ein kleiner Gedanke: Genauso wichtig, wie die Verbundenheit zu deinen Kindern ist die Verbundenheit zu dir selbst, deinem Partner und Gott. Vielleicht darfst du erleben, dass dafür jetzt, wenn dein Kind größer wird, wieder mehr Zeit und Raum entsteht. Ich wünsche dir, dass du das ganz bewusst für dich nehmen und genießen kannst.

Judith Oesterle ist Mama von drei Kindern, Pädagogin, Künstlerin und Coach.

Vater sein – Hirnforscher erklärt: Das brauchen Kinder von ihren Vätern

Vater sein ist nicht nur eine Aufgabe oder eine Rolle, sondern eine innere Haltung. Star-Hirnforscher Gerald Hüther erzählt im Interview, warum Kinder von ihren Vätern bedingungsloses Interesse brauchen.

Im Kindergarten und der Grundschule werden Kinder mehrheitlich von Frauen betreut. Sind Männer verzichtbar geworden?

Gerald Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, um sich zu orientieren. Da Frauen und Männer unterschiedlich sind, fehlt ein wesentliches Gegenüber für eine gesunde Rollenbildung, wenn kein Mann da ist. Jungen und Mädchen müssen aber ein inneres Bild von dem entwickeln, was männlich und was weiblich ist. Mannsein lerne ich eben nicht aus dem Internet, dem Fernsehen oder aus Büchern. Und wenn die Kinder keinen Mann erleben, wachsen sie mit einem echten Erfahrungsdefizit auf.

Vater sein – eine besondere Bedeutung

Hier kommt besonders der Vater ins Spiel. Worin sehen Sie die Bedeutung von Vätern?

Wir haben zwei verschiedene Geschlechter und eine bestimmte Erfahrungswelt für Frauen und Männer in unserer Gesellschaft. Und die einzige Notwendigkeit, die ich als Hirnforscher sehe, ist, dass Kinder Gelegenheit bekommen müssen, möglichst unterschiedliche Erfahrungen mit vielfältigen Menschen zu machen. Es gibt eine ganze Reihe Untersuchungen, die zeigen, dass Väter und Mütter unterschiedlich auf Kinder reagieren und ihnen damit auch andere Möglichkeiten bieten. Wenn zum Beispiel ein Kind auf dem Spielplatz von der Schaukel fällt, nimmt die Mutter das Kind auf den Schoß, tröstet es und setzt es dann woanders hin. In die Sandkiste zum Beispiel, wo es nicht mehr runterfallen kann.

Bei Vätern beobachtet man häufiger, dass sie das Kind nehmen, es trösten und es wieder zurück auf die Schaukel setzen. Und das ist eine völlig andere Erfahrung für ein Kind. Nämlich, dass es ein Problem gab, aber dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man es vermeidet, sondern dass man sich dem Problem stellt. Es mag sein, dass Männer das leichter können, und so mag es eine ganze Reihe von anderen Dingen geben, die ein Vater dem Kind besser vermitteln kann. Und das gilt eben nicht nur für Jungs, die natürlich ein männliches Vorbild brauchen, sondern das gilt in gleicher Weise auch für Mädchen. Auch Mädchen brauchen ihre Väter.

Was macht für Sie einen richtig guten Vater aus?

Ich fürchte, dass es keine richtig guten Väter gibt, sondern dass jeder Vater versuchen kann, es so gut wie möglich zu machen. Und es gibt Väter, die sich selbst darüber bewusst sind, dass sie für ihre Kinder ein Rollenmodell bieten. Kinder lernen von Vorbildern, und Jungs lernen von ihrem Vater, was männliche Identität bedeutet und bekommen damit einen Maßstab und eine Orientierung, die ihnen oftmals für das ganze Leben lang bedeutsam ist. Das war und ist aber nicht immer gegeben. Daher wäre es gut, wenn Väter sich noch stärker darüber bewusst würden, welche bedeutsame Rolle sie spielen und wie sehr ihr Vorbild ihre Kinder auf ihrem Weg prägt.

Aber nicht nur die Jungs, sondern die Mädchen in gleicher Weise. Denn wir sehen auch in vielen Studien, dass Mädchen ihre spätere Partnerwahl sehr stark unter dem Einfluss der Erfahrungen treffen, die sie mit ihrem eigenen Vater gemacht haben. Manche suchen sich einen, der so ähnlich ist wie der Vater, andere suchen einen, der sich in ihren Augen sehr stark von ihrem Vater unterscheidet. Väter sind also Rollenmodelle für Söhne, wie sie als Väter leben. Und Töchter sollten an ihrem Vater sehen können, wie ein Mann wertschätzend mit einer Frau umgeht und was man von einem Mann erwarten sollte. Und sie leben vor, wie Partnerschaft aussieht.

Anspruch und Wirklichkeit

Als Vater versuche ich natürlich, meine Sache gut zu machen. Trotzdem scheitere ich oft genug an meinen Ansprüchen. Ich möchte liebevoll sein und doch reagiere ich über. Was kann ich tun, um ein besserer Vater zu sein?

Vielleicht ist es hilfreich, erst mal zu fragen, weshalb es so oft nicht gelingt. Das hat etwas mit Affekten zu tun, die wach werden, wenn man als Vater mit bestimmten Verhaltensweisen des Kindes konfrontiert wird. Das kann wie ein Trigger wirken, der im eigenen Gefühlsleben bestimmte Emotionen und Affekte erzeugt, die so stark sind, dass man plötzlich nicht mehr Herr seiner Handlungen ist. Und dass man plötzlich in dieser übererregten Situation – neurobiologisch nennen wir das Frontalhirndefizit – kopflos reagiert.

Aus dem Affekt heraus tut man Dinge, die man sonst nicht machen würde. Das passiert vor allem dann, wenn man in engen emotionalen Bindungen steht. Also mit den eigenen Kindern oder dem Ehepartner. Was notwendig wäre, um nicht im Affekt zu reagieren: Zählen Sie erst mal bis zehn und dann denken Sie nochmal kurz nach und dann handeln sie. Wer sofort aus dem Affekt heraus handelt, kann nicht umsichtig und liebevoll mit seinem Kind umgehen. Das wären die praktischen Tipps.

Als Vater ein Vorbild zu sein, ist nicht immer leicht. Die Rollen im Beruf, in der Familie, in der Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Wie kann man das Mann- und Vatersein da leben?

Als Mann muss man sich über die verschiedenen Rollen bewusst sein. Die Gefahr ist groß, von der Gesellschaft verführt zu werden, irgendwelche Rollen spielen zu wollen, um Anerkennung zu bekommen. Es ist schlecht, wenn ein Mann, dem dieses Theaterspiel selbst nicht klar ist, Kinder erzieht, egal ob Jungs oder Mädchen. Wer das selbst nicht durchschaut, identifiziert sich dann auch allzu leicht mit seiner Rolle. Den Kindern so ein Rollenspiel vorzuleben, kann dazu führen, dass auch sie versuchen, irgendwelche Rollen zu spielen, und sich dabei selbst fremd werden.

Jetzt könnte man versuchen, diese Rolle, die man in der Gesellschaft spielt, zu hinterfragen und sich nicht mit dieser Rolle zu identifizieren. Wenn ich gefragt werde, wer ich bin, dann sage ich eben nicht: Ich bin Professor für Neurobiologie. Sondern: Ich bin Gerald Hüther, der sich auf irgendeine Art und Weise darum bemüht, im Leben zurechtzukommen. Das ist ein ganz anderes Selbstbild. Und dieses andere Selbstbild, dass ich, wie alle anderen, suchend und fragend unterwegs bin, wäre als Grundhaltung dann auch für die Kinder großartig.

Dadurch ist man nicht der Besserwisser und der Alleskönner, der die Kinder zum Objekt seiner Erwartungen, Belehrungen und Bewertungen macht. Sondern man outet sich als einer, der auch nicht weiß, wie es geht. Man kann dem Kind auch offenbaren, dass man ein fehlbarer Mensch ist, der sich Mühe gibt und es versucht, so gut wie möglich zu machen. Hier ist der Erwachsene, ob Mutter oder Vater, nicht mehr die Führungsfigur, die das Kind erzieht und belehrt und ihm alles beibringt.

Solche Eltern werden ihr Kind in seiner ganzen Einzigartigkeit so annehmen, wie es ist. Sie werden nicht versuchen, aus diesem Kind etwas zu machen, wovon sie glauben, dass es darauf ankäme oder günstig wäre. Und das ist die wirkliche Definition von Liebe, nämlich das bedingungslose Interesse an der Entfaltung des Geliebten. Das halte ich im Augenblick für die wichtigste Botschaft, die wir an Väter weitergeben können: Kein Rollenspieler, sondern ein authentischer Mann zu sein. Natürlich brauchen Kinder auch Führung, Halt und Orientierung. Aber was sie nicht brauchen, ist jemand, der autoritär sagt, wie das Kind zu sein hat.

Vater sein – sich auf das Kind einlassen

Das setzt voraus, sich tief im Inneren auf das Kind einzulassen.

Richtig. Aber das fällt vielen Vätern schwer, weil sie eine andere Haltung erlernt haben. Nämlich, dass Väter bei kleinen Kindern noch nicht so wichtig sind und sie nicht gebraucht werden. Aber wenn man sich auf die Kinder einlässt, spürt man plötzlich, wie das Kind einen einlädt, in seine Welt zu kommen und alles mit zu entdecken. Die Welt, das Wohnzimmer, die Puppe, das Bett und auch den Papa, der mit kindlichen Augen betrachtet ganz anders ist.

Dann öffnet sich plötzlich nochmal auf eine neue Weise eine ganze Erfahrungswelt. Je öfter man diese Erfahrung macht, wie sehr sich das Kind darauf freut, dass der Papa jetzt da ist und es mit ihm etwas machen kann, desto stärker fühlt es der Papa. Dann macht er diese starke emotionale Erfahrung, dass er eigentlich ein toller Papa ist und dass er dadurch dem Kind eine ganze Menge schenken kann und dass er auch ganz viel von dem Kind bekommt.

Aus dieser wiederholt gemachten Erfahrung wird dann eine Haltung. Und die Haltung heißt, dass es toll ist, mit meinem Kind als Vater auf diese Weise verbunden zu sein. Das will ich auch aufrechterhalten. Das heißt, er kann später wieder arbeiten gehen. Diese Erfahrung geht nicht wieder weg und diese Haltung bleibt bestehen. So kann man das lernen und auch anderen Vätern weitergeben, sich auf diese Erfahrung einzulassen.

Gibt es für Sie ein Vorbild für Männer und Väter?

Jesus Christus. Wenn man wissen will, wie der moderne Mann aus neurobiologischer Sicht aussieht, sollte man sich an Jesus orientieren. Der Kern dieses Mannseins heißt: ein Liebender zu sein. Das ist das, was Jesus konnte. Er brauchte nicht andere, um sich selbst aufzubauen, musste nicht mit Klugscheißereien dauernd dazwischenreden und anderen erzählen, was sie zu tun und zu lassen haben. Er hatte etwas zu verschenken. Und er konnte sich um andere kümmern, sich hingeben, da sein und zuhören. Das können wir alle lernen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Family-Redakteur Marcus Beier.

Dr. Gerald Hüther ist emeritierter Professor für Neurologische Präventionsforschung und Autor vieler ­Sach- und Fachbücher. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Göttingen. gerald-huether.de

Mehr sein und weniger tun

Vater sein ist nicht nur eine Aufgabe oder eine Rolle, sondern es ist eine innere Haltung. Hirnforscher Gerald Hüther erzählt im Interview, was Kinder an Vätern wirklich brauchen.

Im Kindergarten und der Grundschule werden Kinder mehrheitlich von Frauen betreut. Sind Männer verzichtbar geworden?

Gerald Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, um sich zu orientieren. Da Frauen und Männer unterschiedlich sind, fehlt ein wesentliches Gegenüber für eine gesunde Rollenbildung, wenn kein Mann da ist. Jungen und Mädchen müssen aber ein inneres Bild von dem entwickeln, was männlich und was weiblich ist. Mannsein lerne ich eben nicht aus dem Internet, dem Fernsehen oder aus Büchern. Und wenn die Kinder keinen Mann erleben, wachsen sie mit einem echten Erfahrungsdefizit auf.

Hier kommt besonders der Vater ins Spiel. Worin sehen Sie die Bedeutung von Vätern?

Wir haben zwei verschiedene Geschlechter und eine bestimmte Erfahrungswelt für Frauen und Männer in unserer Gesellschaft. Und die einzige Notwendigkeit, die ich als Hirnforscher sehe, ist, dass Kinder Gelegenheit bekommen müssen, möglichst unterschiedliche Erfahrungen mit vielfältigen Menschen zu machen. Es gibt eine ganze Reihe Untersuchungen, die zeigen, dass Väter und Mütter unterschiedlich auf Kinder reagieren und ihnen damit auch andere Möglichkeiten bieten. Wenn zum Beispiel ein Kind auf dem Spielplatz von der Schaukel fällt, nimmt die Mutter das Kind auf den Schoß, tröstet es und setzt es dann woanders hin. In die Sandkiste zum Beispiel, wo es nicht mehr runterfallen kann. Bei Vätern beobachtet man häufiger, dass sie das Kind nehmen, es trösten und es wieder zurück auf die Schaukel setzen. Und das ist eine völlig andere Erfahrung für ein Kind. Nämlich, dass es ein Problem gab, aber dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man es vermeidet, sondern dass man sich dem Problem stellt. Es mag sein, dass Männer das leichter können, und so mag es eine ganze Reihe von anderen Dingen geben, die ein Vater dem Kind besser vermitteln kann. Und das gilt eben nicht nur für Jungs, die natürlich ein männliches Vorbild brauchen, sondern das gilt in gleicher Weise auch für Mädchen. Auch Mädchen brauchen ihre Väter.

Was macht für Sie einen richtig guten Vater aus?

Ich fürchte, dass es keine richtig guten Väter gibt, sondern dass jeder Vater versuchen kann, es so gut wie möglich zu machen. Und es gibt Väter, die sich selbst darüber bewusst sind, dass sie für ihre Kinder ein Rollenmodell bieten. Kinder lernen von Vorbildern, und Jungs lernen von ihrem Vater, was männliche Identität bedeutet und bekommen damit einen Maßstab und eine Orientierung, die ihnen oftmals für das ganze Leben lang bedeutsam ist. Das war und ist aber nicht immer gegeben. Daher wäre es gut, wenn Väter sich noch stärker darüber bewusst würden, welche bedeutsame Rolle sie spielen und wie sehr ihr Vorbild ihre Kinder auf ihrem Weg prägt. Und nicht nur die Jungs, sondern die Mädchen in gleicher Weise. Denn wir sehen auch in vielen Studien, dass Mädchen ihre spätere Partnerwahl sehr stark unter dem Einfluss der Erfahrungen treffen, die sie mit ihrem eigenen Vater gemacht haben. Manche suchen sich einen, der so ähnlich ist wie der Vater, andere suchen einen, der sich in ihren Augen sehr stark von ihrem Vater unterscheidet. Väter sind also Rollenmodelle für Söhne, wie sie als Väter leben. Und Töchter sollten an ihrem Vater sehen können, wie ein Mann wertschätzend mit einer Frau umgeht und was man von einem Mann erwarten sollte. Und sie leben vor, wie Partnerschaft aussieht.

Als Vater versuche ich natürlich, meine Sache gut zu machen. Trotzdem scheitere ich oft genug an meinen Ansprüchen. Ich möchte liebevoll sein und doch reagiere ich über. Was kann ich tun, um ein besserer Vater zu sein?

Vielleicht ist es hilfreich, erst mal zu fragen, weshalb es so oft nicht gelingt. Das hat etwas mit Affekten zu tun, die wach werden, wenn man als Vater mit bestimmten Verhaltensweisen des Kindes konfrontiert wird. Das kann wie ein Trigger wirken, der im eigenen Gefühlsleben bestimmte Emotionen und Affekte erzeugt, die so stark sind, dass man plötzlich nicht mehr Herr seiner Handlungen ist. Und dass man plötzlich in dieser übererregten Situation – neurobiologisch nennen wir das Frontalhirndefizit – kopflos reagiert. Aus dem Affekt heraus tut man Dinge, die man sonst nicht machen würde. Das passiert vor allem dann, wenn man in engen emotionalen Bindungen steht. Also mit den eigenen Kindern oder dem Ehepartner. Was notwendig wäre, um nicht im Affekt zu reagieren: Zählen Sie erst mal bis zehn und dann denken Sie nochmal kurz nach und dann handeln sie. Wer sofort aus dem Affekt heraus handelt, kann nicht umsichtig und liebevoll mit seinem Kind umgehen. Das wären die praktischen Tipps.

Als Vater ein Vorbild zu sein, ist nicht immer leicht. Die Rollen im Beruf, in der Familie, in der Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Wie kann man das Mann- und Vatersein da leben?

Als Mann muss man sich über die verschiedenen Rollen bewusst sein. Die Gefahr ist groß, von der Gesellschaft verführt zu werden, irgendwelche Rollen spielen zu wollen, um Anerkennung zu bekommen. Es ist schlecht, wenn ein Mann, dem dieses Theaterspiel selbst nicht klar ist, Kinder erzieht, egal ob Jungs oder Mädchen. Wer das selbst nicht durchschaut, identifiziert sich dann auch allzu leicht mit seiner Rolle. Den Kindern so ein Rollenspiel vorzuleben, kann dazu führen, dass auch sie versuchen, irgendwelche Rollen zu spielen, und sich dabei selbst fremd werden. Jetzt könnte man versuchen, diese Rolle, die man in der Gesellschaft spielt, zu hinterfragen und sich nicht mit dieser Rolle zu identifizieren. Wenn ich gefragt werde, wer ich bin, dann sage ich eben nicht: Ich bin Professor für Neurobiologie. Sondern: Ich bin Gerald Hüther, der sich auf irgendeine Art und Weise darum bemüht, im Leben zurechtzukommen. Das ist ein ganz anderes Selbstbild. Und dieses andere Selbstbild, dass ich, wie alle anderen, suchend und fragend unterwegs bin, wäre als Grundhaltung dann auch für die Kinder großartig. Dadurch ist man nicht der Besserwisser und der Alleskönner, der die Kinder zum Objekt seiner Erwartungen, Belehrungen und Bewertungen macht. Sondern man outet sich als einer, der auch nicht weiß, wie es geht. Man kann dem Kind auch offenbaren, dass man ein fehlbarer Mensch ist, der sich Mühe gibt und es versucht, so gut wie möglich zu machen. Hier ist der Erwachsene, ob Mutter oder Vater, nicht mehr die Führungsfigur, die das Kind erzieht und belehrt und ihm alles beibringt. Solche Eltern werden ihr Kind in seiner ganzen Einzigartigkeit so annehmen, wie es ist. Sie werden nicht versuchen, aus diesem Kind etwas zu machen, wovon sie glauben, dass es darauf ankäme oder günstig wäre. Und das ist die wirkliche Definition von Liebe, nämlich das bedingungslose Interesse an der Entfaltung des Geliebten. Das halte ich im Augenblick für die wichtigste Botschaft, die wir an Väter weitergeben können: Kein Rollenspieler, sondern ein authentischer Mann zu sein. Natürlich brauchen Kinder auch Führung, Halt und Orientierung. Aber was sie nicht brauchen, ist jemand, der autoritär sagt, wie das Kind zu sein hat.

Das setzt voraus, sich tief im Inneren auf das Kind einzulassen.

Richtig. Aber das fällt vielen Vätern schwer, weil sie eine andere Haltung erlernt haben. Nämlich, dass Väter bei kleinen Kindern noch nicht so wichtig sind und sie nicht gebraucht werden. Aber wenn man sich auf die Kinder einlässt, spürt man plötzlich, wie das Kind einen einlädt, in seine Welt zu kommen und alles mit zu entdecken. Die Welt, das Wohnzimmer, die Puppe, das Bett und auch den Papa, der mit kindlichen Augen betrachtet ganz anders ist. Und dann plötzlich öffnet sich nochmal auf eine neue Weise eine ganze Erfahrungswelt. Je öfter man diese Erfahrung macht, wie sehr sich das Kind darauf freut, dass der Papa jetzt da ist und es mit ihm etwas machen kann, desto stärker fühlt es der Papa. Dann macht er diese starke emotionale Erfahrung, dass er eigentlich ein toller Papa ist und dass er dadurch dem Kind eine ganze Menge schenken kann und dass er auch ganz viel von dem Kind bekommt. Aus dieser wiederholt gemachten Erfahrung wird dann eine Haltung. Und die Haltung heißt, dass es toll ist, mit meinem Kind als Vater auf diese Weise verbunden zu sein. Das will ich auch aufrechterhalten. Das heißt, er kann später wieder arbeiten gehen. Diese Erfahrung geht nicht wieder weg und diese Haltung bleibt bestehen. So kann man das lernen und auch anderen Vätern weitergeben, sich auf diese Erfahrung einzulassen.

Gibt es für Sie ein Vorbild für Männer und Väter?

Jesus Christus. Wenn man wissen will, wie der moderne Mann aus neurobiologischer Sicht aussieht, sollte man sich an Jesus orientieren. Der Kern dieses Mannseins heißt: ein Liebender zu sein. Das ist das, was Jesus konnte. Er brauchte nicht andere, um sich selbst aufzubauen, musste nicht mit Klugscheißereien dauernd dazwischenreden und anderen erzählen, was sie zu tun und zu lassen haben. Er hatte etwas zu verschenken. Er konnte sich um andere kümmern, sich hingeben, da sein und zuhören. Das können wir alle lernen. Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Marcus Beier.

Dr. Gerald Hüther ist emeritierter Professor für Neurologische Präventionsforschung und Autor vieler ­Sach- und Fachbücher. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Göttingen. www.gerald-huether.de

Patchwork-Papa: So gelingt das Leben in der kniffligen Konstellation

Benjamin Funk hat mit seiner Frau Alexandra eine ganze Familie geheiratet. Zu Alexandras drei Kindern kamen später noch drei gemeinsame hinzu. Er verrät, was ihm und seiner Familie in der Patchwork-Herausforderung hilft.

Ich knallte die Tür unseres Schlafzimmers mit voller Wucht zu. Mein Puls raste, mein Kopf glühte vor Wut. Unser damals 13-jähriger Ältester und ich hatten uns heftig in die Wolle bekommen. Auch er war stinksauer. Er hatte es geschafft, jede einzelne meiner Nerven zu strapazieren und jeden denkbaren Knopf bei mir zu drücken, bis ich schließlich explodierte. Meine Frau kam dazu, versuchte, mich zu beruhigen. „Wie konnte ich nur so die Kontrolle verlieren? Was denkt er sich eigentlich?“, schrie ich quer durchs Schlafzimmer, laut genug, dass es jeder im Haus hören konnte. Nein, so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Ich war damals nach Israel ausgewandert, um eine Familie zu heiraten. Eine klassische Patchwork-Familie: Meine Frau brachte drei Kinder mit in die Ehe. „Du bist jetzt Vater von null auf hundert“, sagte sie mir liebevoll und mit einem Lächeln. 2016 war das Jahr meines Aufbruchs nach Israel. Ich wollte eine Familie gründen und hatte durch den Aufbau eines Kinder- und Familienzentrums in einem herausfordernden Bezirk in Salzgitter viele Erfahrungen sammeln können. Das gab mir Rückenwind. Zugleich hatte ich Respekt davor, eine Frau mit drei Kindern zu heiraten – besonders, weil es sich um eine komplett fremde Kultur und ein fremdes Land handelte. Ich hatte meinen Job in Deutschland aufgegeben, mein Haus und mein Auto verkauft. Der eigentliche Plan war der, dass wir alle zusammen zwei bis drei Jahre später nach Deutschland ziehen würden.

Dauerkämpfe statt gütlicher Einigung

Doch die Realität machte uns einen Strich durch die Rechnung. Unsere Beziehung wurde auf eine harte Probe gestellt. Der Ex-Mann und Vater der Kinder, gewalttätig und mit seinem narzisstischen Wesen eine Belastung für alle, hatte tiefe Narben hinterlassen. Bis heute kämpft er immer wieder erfolglos vor Gericht gegen uns, indem er falsche Geschichten mit fingierten Zeugenaussagen gegen uns hervorbringt. Keines der Kinder hat mehr Kontakt zu ihm.

Eins möchte ich an dieser Stelle einwerfen: Du wirst das Wort „Stiefkinder“ nicht finden. Denn für mich gibt es keinen Unterschied. Unsere Großen und die drei Jüngeren, die noch dazugekommen sind, sind für mich eins – meine Kinder. Nur wenn ich bereit bin, alle Kinder so anzunehmen, kann Patchwork gelingen. Wenn ein Ehepaar getrennte Wege geht oder ein Elternteil verstirbt, stellt das auch die Kinder vor riesige Herausforderungen. Oft kommt hinzu, dass die Kinder sich bereits an die Lebensumstände mit einem Elternteil gewöhnt haben, bis ein neuer Partner ins Leben kommt. In unserem Fall hatte der Älteste unbewusst väterliche Verantwortung übernommen. Das passiert oft, wenn der Vater wegfällt. Das machte mein Ankommen und den Start unserer Beziehung nicht einfacher. Hier kamen die schlimmen Erfahrungen aus seiner Kindheit, der Bruch mit seinem Vater und die Pubertät zusammen. Unsere Konflikte gingen oft an unsere Grenzen. Warum unsere Beziehung nicht an diesen Baustellen zerbrach, lag unter anderem an den klaren Absprachen, die wir als Ehepartner getroffen hatten. Auch hatten wir uns keiner Illusion hingegeben.

Kein Plan B

Alles begann mit klaren Entscheidungen ohne einen Plan B. Wenn wir Klarheit leben, nehmen die Kinder das genauso wahr. Als jemand, der in eine Patchwork-Familie eintritt, muss mir eines bewusst sein: Ich heirate nicht nur meine Partnerin, sondern auch ihre Kinder. Eine klare Entscheidung zu treffen, bietet zwar keine Garantie gegen ein mögliches Scheitern, hilft aber, größere Probleme zu vermeiden.

Ein wesentlicher Faktor für uns war, dass meine Frau mich während unserer Fernbeziehung, als ich nur in Abständen nach Israel reisen konnte, schon als ihren zukünftigen Ehemann vorgestellt und so klar Stellung bezogen hatte. Diese klare Positionierung war entscheidend dafür, dass ich in der Familie ankommen und in die Rolle als Teil dieser neuen Patchwork-Konstellation hineinwachsen konnte. Man muss sich aber im Klaren sein, dass die Kinder in der Regel keinen neuen oder anderen Elternteil haben wollen. Das ist nicht schlimm, sondern ganz normal.

Patchwork: „Du bist nicht mein Vater“

Dass ich nicht der Vater sei, musste ich regelmäßig am Anfang hören. Es kann verletzend sein. Aber als erwachsener und mündiger Mann kann ich das aushalten. In solchen Momenten galt es, Ruhe zu bewahren. Meine Antwort war dann: „Das stimmt, aber ich bin der Erwachsene und ich möchte, dass du jetzt aufräumst.“ Hierbei gingen meine Frau und ich Hand in Hand. In der Anfangszeit liefen die Kinder oft schnurstracks zu meiner Frau, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten.

Es war mir aber auch wichtig, mich in das Kind hineinzuversetzen. Je nach Vorgeschichte ist in dem Kind eine Welt zerbrochen. In vielen Fällen trauern Kinder der Vergangenheit nach. Kinder haben eine Gabe: Sie können Konflikte verdrängen. Ein Vater bleibt ein Vater, auch wenn er ein schlechter Vater ist. In meiner Zeit in Salzgitter habe ich mit vielen Kindern zu tun gehabt, die von Vätern geschlagen und misshandelt wurden. Dennoch besuchten diese Kinder immer wieder ihre Väter, getrieben von der Hoffnung, dass sich diese eines Tages ändern würden. Das mitzuerleben war erschütternd. Deshalb kann ich ein Kind, das mir Ablehnung entgegenbringt, nicht verurteilen oder abweisen. Denn es hat vielleicht die Hoffnung, dass der Vater doch wieder zurückkommt oder sich ändern könnte.

Klare Entscheidung

Ein weiteres Geheimnis unseres Weges liegt darin: War ich zu streng oder hatte ich eine umstrittene Entscheidung getroffen, fiel meine Frau mir nie in den Rücken. Stattdessen besprach sie, wenn nötig, Dinge unter vier Augen mit mir. So stärkte sie meine Position und Autorität und half mir, in meine Rolle als Vater hineinzuwachsen.

Die Liste der möglichen Konflikte in einer Patchwork-Situation ist lang. Es ist offensichtlich, dass Kinder nur ungern ihre Mutter und deren Aufmerksamkeit mit einer neuen Person teilen wollen. Wenn zusätzlich Kinder vom neuen Partner hinzukommen, verstärken sich die Veränderungen noch deutlicher. Es ist ein Drahtseilakt zwischen Verständnis und Empathie einerseits und klarer Linie andererseits. So herausfordernd die Vergangenheit war: Wir als Eltern müssen eine Perspektive und Vision für unsere Familie finden.

Familien-Vision

Hand aufs Herz, Familie unter „normalen“ Umständen ist bereits eine Herausforderung. Deshalb haben wir als Ehepaar mit einem Bild gearbeitet, das uns half, unsere eigene Vision zu erkunden: Uns war es nicht gegeben, ein deutsches, stylishes Reihenhaus mit klaren Linien und solider Ausstattung zu gestalten. Wir kamen zusammen, als das Haus bereits im Bau war, durch Jahre geprägt und geformt, in guten wie in schlechten Zeiten. Deshalb ergab sich für uns ein Bild mit verschiedenen Wänden, großen und kleinen Fenstern, Rundungen – ein Kunstwerk, das in einer normalen Siedlung auffallen würde.

Dieses Bild half uns, unsere Erwartungen an uns und die Kinder in einem gesunden Rahmen zu halten. Ich kann von Kindern, die deutsch-israelisch sind, nicht erwarten, dass sie deutsche Tugenden erlernen und leben, nur weil ich in dieser Richtung gut konditioniert bin. Es gibt eine Menge Anekdoten, bei denen ich mit meinen Versuchen diesbezüglich kläglich scheiterte. Ich möchte aber auch nicht unerwähnt lassen, dass wir viele geniale Zeiten erleben.

Vorbilder für Vaterschaft

Auch wenn ich es erst jetzt anspreche: Wir sind Christen und sind überzeugt, dass wir nur mit Gottes Hilfe den Weg bis heute geschafft haben. In der Bibel finden wir nur wenig gute väterliche Vorbilder. Doch in Jesus finde ich ein Vorbild, wie Vaterschaft aussehen sollte. Gute Führung hat in der Familie immer Liebe als Grundlage und das Wohl meiner Nächsten zum Ziel. Dabei ist wichtig zu wissen: Meine Taten wiegen immer mehr als meine Worte. Besonders als Männer neigen wir dazu, den Part von Regeln und Vorschriften besonders ausgeprägt zu leben. Mir wurde erst mit der Zeit klar, was wirkliche Führung bedeutet. Dazu gehört, gemeinsame Erlebnisse und Qualitätszeiten zu schaffen, manhmal fünf gerade sein zu lassen, authentisch zu leben und vor allem den Kindern alle Zeit zu geben, auf mich zuzukommen. Auch liegt es in meiner väterlichen Verantwortung, Lebensqualität in die Familie zu bringen.

Eine Erkenntnis, die alles verändert

Ein Artikel, der eigentlich nichts mit Patchwork zu tun hatte, veränderte meine Sichtweise grundlegend. Es ging um die Herausforderungen, mit denen Pflege- und Adoptivkinder konfrontiert sind. Oft fühlen sich diese Kinder in ihren neuen Familien fremd. Sicher, die Prägung von klein auf ist entscheidend, aber auch genetische Faktoren spielen eine Rolle. Studien zeigen, dass leibliche Kinder eine natürliche Neigung haben, nonverbale Signale besser zu verstehen. Viele Pflegeeltern sind sich dessen nicht bewusst, wodurch die Kinder sich fehl am Platz fühlen. Da sie scheinbar nicht in das familiäre Gefüge, die gestellten Anforderungen passen, kämpfen sie ständig damit, Erwartungen zu erfüllen. Diese Erkenntnis hat mich zum Umdenken bewegt. Ich verstand, warum so mancher Konflikt entstanden ist.

Die härtesten Momente sind und bleiben jene, in denen ich scheitere und an meine Grenzen stoße. Manchmal wähle ich die falschen Worte, bin zu pedanktisch, wo Gelassenheit angebracht wäre, und zögere, wenn Handeln gefragt ist. Was soll ich sagen: Wir sind Menschen, und Fehler gehören dazu, auch wenn sie schmerzen. Vergebung ist dabei der Schlüssel – das beinhaltet auch, meine Kinder um Entschuldigung zu bitten, wenn ich einen Fehler gemacht habe. Ebensowichtig ist es, mir selbst zu vergeben.

Patchwork-Papa zu sein ist ein Weg, der sich lohnt. Es ist eine ganzheitliche Aufgabe, herausfordernd und erfüllend. Als wir letztes Jahr Weihnachten mit unseren Kindern feierten und in die Runde fragten, wofür wir besonders dankbar sind, anworteten alle einstimmig, dass wir eine tolle und starke Familie sind. Jede Anstrengung, jede schlaflose Nacht, jeder Muskelkater vom Kinder-in-den-Schlaf-Schaukeln, jede Träne und der einelne Moment sind lohnenswert.

Bejamin Funk lebt mit seiner Frau Alexandra unf sechs Kinddern im Nordosten Israels.

Fürsorge und Sicherheit: Worauf es bei bindungsorientierter Erziehung ankommt

Dass Kinder alle Wünsche erfüllt bekommen, ist eins der Vorurteile in Bezug auf bindungsorientierte Erziehung. Wie dieser Erziehungsansatz tatsächlich gedacht ist, erklärt Expertin Marina Hoffmann.

Viele Eltern wollen sich von den Erziehungsmethoden ihrer eigenen Kindheit distanzieren und suchen nach neuen Wegen der Erziehung. Wichtig dabei ist jedoch, sich nicht allein aus eigenen Kindheitswunden heraus leiten zu lassen, sondern einen klaren Blick dafür zu bekommen, was Kinder zum gesunden Aufwachsen brauchen.

Gefühlsausbrüche

Manche Eltern fühlen sich beispielsweise dazu bewegt, jede Träne oder Wut ihres Kindes zu vermeiden, um die Beziehung nicht zu belasten oder das Kind nicht zu verletzen. Und ja, die Gefühlswucht von Kindern, wenn sie Grenzen erleben, kann sehr schwer anzusehen sein. Man möchte sein Kind am liebsten davor beschützen – und vielleicht auch sich selbst. Es erfordert sehr viel Energie und die Fähigkeit zur Selbstregulation, um diese unangenehmen Gefühle auch halten und begleiten zu können.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht schaden Gefühlsausbrüche und Tränen aber weder der Kind-Eltern-Beziehung noch dem Kind selbst, ganz im Gegenteil: Die Bindung zwischen Kind und Elternteil kann sogar gestärkt werden, wenn das Kind dabei die Erfahrung macht, dass seine Eltern diesen Gefühlen einen sicheren Raum geben und trotz des Wutanfalls weiterhin präsent und zugewandt bleiben. Ein Kind, das in seiner Wut gesehen wird und Co-Regulation erfährt, lernt, dem eigenen Frust einen gesunden Ausdruck zu geben. Langfristig lernt es, seine Gefühle besser zu regulieren. Es macht außerdem die Erfahrung, dass seine Eltern Werte und Grenzen haben, für die sie einstehen dürfen.

Führung und Fürsorglichkeit

Die Co-Regulation eines 3-jährigen Kindes kann beispielsweise so aussehen: 1 „Ja, du bist jetzt echt sauer. Das ist richtig ärgerlich.“ Sieh das Kind in seinem Frust mit einer annehmenden Haltung und benenne das Gefühl.

2 „Drück gegen meine Hände, zeig mir, wie viel Wut du in dir hast!“ Zeige eine Möglichkeit auf, wie das Kind seinen Frust herauslassen kann, ohne jemanden zu verletzen. 3 „Puh, das war heftig. Aber wir haben es geschafft. Komm, wir knabbern jetzt einen Apfel.“ Versichere dem Kind, dass die Beziehung keinen Schaden genommen hat. Besprich die Situation erst, wenn das Kind entspannt und wieder aufnahmefähig ist.

Entgegen manchen Vorurteilen unterstützt der bindungsorientierte Ansatz also weder eine partnerschaftliche Haltung gegenüber dem Kind noch eine Erziehung ohne Grenzen. Vielmehr brauchen Kinder einen fürsorglichen Erwachsenen, der Sicherheit ausstrahlt und bei dem sie sich fallen lassen können. Elterliche Führung, gepaart mit unerschütterlicher Fürsorglichkeit, sind die Voraussetzungen, dass das kindliche Nervensystem Sicherheit registrieren und zur Ruhe finden kann.

Marina Hoffmann ist Expertin und Coach für Bindungsorientierte Erziehung.

3 bis 5 – Auf’s Fahrrad umsteigen?

Elternfrage: „Meine Frau und ich sind uneins darüber, wann unser Sohn (3) Rad fahren lernen soll. Ich meine, wir sollten jetzt beginnen, meine Frau findet es zu früh. Wann ist der beste Zeitpunkt für das Fahrrad? Und was sollte man sonst noch beachten?“

Wenn wir mit dem Fahrrad unterwegs sind, ist uns nicht bewusst, wie komplex die Bewegungsabläufe und wie vielfältig die Informationsverarbeitungen sind. Radfahren ist ein Zusammenspiel aus Motorik, Planung, Orientierung, Geschwindigkeit, Gleichgewicht, Sequenzierung von Handlungen und Regelwerk.

Obwohl man schon für Kleinkinder Fahrräder kaufen kann, bedeutet dies nicht, dass es das ideale Lernalter ist. Erst wenn Kinder von sich aus Interesse am Rad zeigen, sollten sie es ausprobieren. Dabei sind manche ein Kindergartenkind und andere gehen schon in die Schule.

Balance und Geschwindigkeit

Lassen Sie sich nicht verunsichern, wenn jüngere Kinder durch die Straßen sausen und Ihres noch auf einem Laufrad herumkurvt. Lernen braucht Zeit und die Voraussetzungen fürs Radfahren lassen sich gut mit Roller und Laufrad trainieren: Das Kind entwickelt ein Gespür für Balance und Geschwindigkeit. Es wird merken, wie schnell es sein muss, um die Beinchen zu heben. Und es wird wissen, wie ruckartig es den Lenker drehen kann, ohne auf die Nase zu fallen.

Viele Eindrücke müssen eingeordnet werden: Geräusche, Bewegungen von Personen und Autos oder Hindernisse auf dem Weg. Das Kind lernt Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und nach und nach automatisieren sich Bewegungsabläufe. Wenn es dann ein Fahrrad ausprobieren möchte, kann auch ein Rad von Geschwistern oder Nachbarskindern hilfreich sein. Eine Anschaffung lohnt sich erst, wenn sich Fahrerfolg einstellt. So sparen Sie sich zum Beispiel ein kleines 12-Zoll-Rad und können gleich ein größeres Rad anschaffen.

Ohne Stützräder fahren!

Vermeiden Sie Stützräder am Fahrrad! Sie sind eher hinderlich als hilfreich, denn mit ihnen lässt sich nicht der entscheidende Gleichgewichtssinn trainieren. Am Anfang fehlt den Kindern häufig die Kraft, um anzufahren. Geben Sie dem Rad einen Schubs, aber schieben Sie es nicht ständig. Das lenkt Ihr Kind ab und es guckt mehr nach hinten als nach vorn. Sie sollten außerdem darauf achten, nicht ständig zu reden, denn Ihr Kind ist mit so vielen Dingen auf einmal beschäftigt, dass es kaum auf Ihre Worte achten wird. Fahrradfahren ist körperbetont, es lässt sich nicht durch verbale Erklärungen erlernen. Wenn Sie Ihr Kind anfeuern wollen, dann rennen Sie vor und lotsen es ins Ziel, so fokussiert es sich nach vorn. Mancher Sturz lässt sich nicht vermeiden – sorgen Sie mit Helm, Knieschützern und robuster Kleidung vor.

Radeln Sie selbst gern? Ihre Begeisterung wird andere anstecken. Machen Sie aus dem Radausflug ein schönes Familienerlebnis. Suchen Sie sich ruhige Wege und leicht erreichbare Ziele: einen Lieblingsplatz im Park, die Eisdiele, den Bäcker oder das Tiergehege. Nichts ist frustrierender, als wenn aus dem Genussradeln ein Pedalenkampf wird. Die Freude wächst mit der Routine und dann „kommt Radfahren dem Flug der Vögel am nächsten“ (Louis J. Halle).

Susanne Ospelkaus ist Ergotherapeutin und Autorin. Sie lebt mit ihrer Familie in Zorneding bei München und bloggt unter: susanne-ospelkaus.com

Eifersucht unter Geschwistern – So gehen Sie als Eltern damit um

In Familien mit mehreren Kindern bleibt Eifersucht zwischen Geschwistern nicht aus. Wie Eltern damit am besten umgehen können, erklärt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Melanie Schüer.

„Immer spielst du nur mit Theo!“, wirft die kleine Selma ihrem Vater wütend vor und verlässt aufgebracht das Wohnzimmer. Solche oder ähnliche Szenen kennen viele Eltern, denn Eifersucht zwischen Geschwistern ist ein Gefühl, das oft eine Rolle spielt. Im Umgang damit hilft am besten eine Mischung aus Vorbeugung und Krisenhilfe:

1. Vorbeugen: Was können Eltern tun, um Eifersucht möglichst zu verhindern?

Prävention gegen Eifersucht beginnt am besten bereits vor der Geburt des Geschwisterkindes:

  • In dieser Phase gilt es, das ältere Kind bewusst in die Schwangerschaft einzubeziehen, z.B.:
  • es zu (unkomplizierten) Untersuchungen mitnehmen, wenn es möchte
  • es Tritte des Babys im Bauch spüren lassen
  • ihm erlauben, den Babybauch anzumalen
  • es in die Gestaltung des Babyzimmers einzubeziehen, wenn das Kind Freude daran hat
  • Kinderbücher zu dem Thema lesen, zum Beispiel „Hallo Baby, wann kommst du?“ von Lydia Hauenschild oder „Wir sind jetzt vier“ von Sabine Cuno.
  • schon einige Wochen vor der Geburt den Ablauf mehrfach entspannt besprechen: Wer passt auf das ältere Geschwisterkind auf? Wie lange bleiben Mama und das Geschwisterchen voraussichtlich im Krankenhaus? Bei Hausgeburten: Wer wird kommen, warum könnte Mama zwischendurch weinen oder schreien?

Aktiv mitmachen auch nach der Geburt

Wenn das Baby dann da ist, ist es ebenfalls sinnvoll, das ältere Geschwisterkind so oft es möglich ist, teilhaben zu lassen, zum Beispiel beim Wickeln, Waschen, usw. Hier gilt es aber, eine gute Balance zu halten: Bieten Sie dem älteren Kind an, mitzumachen – aber fordern Sie dies nicht ein wie eine Pflicht. Wenn Sie merken, dass Ihr großes Kind keine Lust (mehr) hat, zu helfen, dann nehmen Sie das gelassen: „Kann es sein, dass du lieber spielen willst? Das ist völlig okay!“

Exklusivzeiten für jedes Kind

Hinter Eifersucht steckt nicht in erster Linie eine Ablehnung des Geschwisterkindes, sondern meistens ein eigenes Bedürfnis im Sinne von „Ich möchte Mama/Papa mal wieder ganz für mich haben!“ Das ist ein verständlicher Wunsch, denn die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Elternteils zumindest ab und an zu haben, ist wichtig für die Entwicklung eines Kindes. In solchen Situationen fühlt sich ein Kind besonders gesehen, wertgeschätzt und geliebt. Deshalb sollten Eltern von Anfang an ihr Bestes tun, um regelmäßig Zeiten einzubauen, in denen jedes Kind Zeit allein mit einem Elternteil verbringen kann. Das kann und muss nicht immer viel sein – eine halbe Stunde auf dem Spielplatz und zwanzig Minuten ruhige Zubettgehzeit am Abend können bereits ganz viel bewirken.

Bei älteren Kindern ab ca. 10 Jahren muss eine solche Exklusivzeit nicht mehr mehrfach pro Woche stattfinden. Und es kann auch sein, dass selbst eine wöchentliche Eltern-Kind-Zeit nicht immer einzurichten ist. Achten Sie dann besonders auf Gelegenheiten, die sich ergeben, z.B. eine Autofahrt zu zweit, ein gemeinsamer Einkauf, eine Kugel Eis nach dem Arztbesuch … Und versuchen Sie, gelegentlich besondere Aktionen mit je einem Kind zu ermöglichen, zum Beispiel einen Kinobesuch oder einen Spieleabend zuhause, während das andere Kind bei einer Freundin übernachtet. Wichtig ist auch, diese Zeiten positiv hervorzuheben: „Wie schön, dass wir mal wieder etwas zu zweit unternehmen!“ So zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie gerne Zeit mit ihm verbringen.

2. Was, wenn die Eifersucht trotzdem hochkocht?

Trotz bester Vorbeugung kann es passieren, dass Eifersucht entsteht. Gerade dann, wenn das ältere Kind noch jünger als drei oder vier Jahre ist, erlebt fast jede Familie eine oder mehrere solcher Phasen. In diesem Alter braucht einfach auch das ältere Geschwisterkind noch ganz viel Aufmerksamkeit von den Eltern und empfindet ein anderes Kind, das genau das auch einfordert, ganz schnell unbewusst als Bedrohung. Auch ältere Kinder erleben das und brauchen ihre Eltern, aber sie sind oft schon gefestigter in ihrem Selbstbewusstsein und haben mehr Interesse am Spiel mit Gleichaltrigen, sodass der Fokus auf die Eltern ein kleines bisschen nachlässt. Folgende Schritte sind hilfreich, wenn die Eifersucht sich eingenistet hat:

  1. Keine Panik! Solche Phasen sind normal und wenn man ihnen gut begegnet, in aller Regel vorübergehend. Nehmen Sie das Problem also ernst, aber ohne Drama oder Selbstvorwürfe.
  2. Die Situation in Ruhe reflektieren: Überlegen Sie, welche Faktoren für die Eifersucht wichtig sein könnten. Ist das ältere Kind vielleicht wirklich in letzter Zeit zu kurz gekommen? War ein Elternteil oder eine andere wichtige Bezugsperson zu beschäftigt mit dem Baby?
  3. Mit dem Kind selbst sprechen: Nehmen Sie das eifersüchtige Kind in einer ruhigen Situation beiseite und beginnen Sie ein freundliches, vorwurfsfreies Gespräch. Machen Sie deutlich, dass Eifersucht kein Tabuthema ist, und dass Sie einfach verstehen wollen, was gerade schwierig ist: „Du, ich habe den Eindruck, seit Theo auf der Welt ist, bist du manchmal traurig oder ärgerst dich. Viele Kinder finden es erst einmal stressig, wenn das Geschwisterkind da ist. Es kann sich dann so anfühlen, als wenn man die Eltern plötzlich teilen muss. Vielleicht fühlt man sich manchmal allein gelassen oder vermisst die Zeit allein mit den Eltern. Das ist ganz normal, denn es ist ungewohnt, dass da auf einmal ein anderes Kind ist, das viel Aufmerksamkeit braucht. Kann es sein, dass du das auch so erlebst?“ Fragen Sie auch, was genau das Kind vermisst oder, was es sich wünschen würde. Je nach Alter kann das Kind das möglicherweise nicht sagen – es ist dennoch gut, die Frage zu stellen. Versuchen Sie, die Sorgen und den Ärger Ihres Kindes erst einmal stehen zu lassen und anzuerkennen.
  4. Auch hier hilft es, Kinderbücher zu dem Thema zu lesen, die helfen, die schwierigen Gefühle einzuordnen und einen Umgang damit zu finden, z.B. „Wen hast du am allerliebsten?“ von Sam MacBratney.
  5. Deutlich machen: „Ich liebe dich genauso sehr wie vorher!“ In dem Kinderbuch „Meine Mama nur für mich“ von Uta Stern wird ein schönes Bild dazu vorgeschlagen, z.B. so: „Ich verstehe, dass es schwierig ist. Es braucht etwas Zeit, sich an das neue Leben zu gewöhnen. Aber eins ist ganz klar: Ich liebe dich immer noch genauso sehr wie schon immer! Meine Liebe zu dir ist noch immer genauso groß! Das Herz eines Papas kann sozusagen wachsen! Man kann sich das so vorstellen: In meinem Herzen ist ein Raum nur für dich. Da ist meine ganze Liebe für dich drin. Und als Theo zur Welt kam, da ist das Herz gewachsen und es ist ein neuer Raum entstanden – mit der Liebe zu Theo. Aber dein Raum, meine Liebe zu dir, ist noch immer genauso groß! Ich bin so froh, dass ich dich habe!“
  6. Planen Sie eine Weile (etwa zwei Monate lang) besonders viel Exklusiv-Zeit mit dem eifersüchtigen Kind ein. Teilen Sie sich als Eltern auf oder schauen Sie, wenn Sie alleinerziehend sind, ob Sie eine andere Bezugsperson mit ins Boot holen können. Achten Sie auch darauf, die Stärken und positiven Verhaltensweisen anzuerkennen, um das Selbstwertgefühl zu stärken. Eine schöne Methode sind „Ermutigungskarten“: Auf kleine Kärtchen schreiben Bezugspersonen des Kindes, was sie alles an ihr mögen, gern mit ihm machen, was sie gut kann, usw. So ein ehrliches, positives Feedback wirkt ungemein stärkend.
  7. Gefühlsregulation fördern: Zeigen Sie Ihrem Kind, wie es mit negativen Gefühlen wie Wut und Traurigkeit umgehen kann. Erlauben Sie ihm, traurig zu sein: „Du musst die Traurigkeit nicht wegschieben. Gefühle gehen ganz von allein wieder. Weinen tut manchmal gut. Ich bin da für dich.“ Gute Strategien bei Wut sind zum Beispiel: mit dem Fuß auf den Boden stampfen, in ein Kissen boxen, einen Wutball mehrfach stark zusammenpressen.
    Wenn Ihr Kind das Geschwisterkind schlecht behandelt hat, reagieren Sie möglichst ruhig, aber entschlossen. Erklären Sie gefasst und in wenigen Worten, dass Sie keine Gewalt akzeptieren und gehen Sie, wenn nötig, dazwischen. Entschuldigungen einfordern ist meist keine gute Idee. Denn diese sind meist nicht ernst gemeint und können Kindern den Eindruck vermitteln „Ich sage einfach hinterher Entschuldigung und dann ist alles wieder gut.“ Nehmen Sie sich lieber Zeit, mit dem Kind über seine Gefühle (die zur Gewalt geführt haben) und die Gefühle des anderen Kindes: „Wie hat er sich wohl gefühlt, als du es getreten hast? Meinst du, er hat deinen Turm absichtlich umgeschmissen? Was wollte Theo vielleicht, als er zu dir gekrabbelt ist?” Überlegen Sie auch gemeinsam, wie Ihr Kind beim nächsten Mal in einem ähnlichen Konflikt handeln könnte. So werden langfristig Empathie und Problemlösefähigkeiten trainiert.

Zu guter Letzt: Wenn die Eifersucht trotz Ihrer Bemühungen hartnäckig bleibt oder Maße annimmt, die Sie überfordern, dann scheuen Sie sich bitte nicht, fachliche Hilfe anzunehmen. Erziehungsberatungsstellen (dajeb.de oder auch online: elternleben.de) bieten kostenlose Unterstützung und ein objektiver Blick verhilft oft zu ganz neuen Perspektiven und Ideen.

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Autorin.

Das Glitzerkind: Wenn ein Kind mit Begabung herausragt

Wenn eins der Kinder eine besondere Begabung hat, ist es für die Eltern nicht immer leicht, allen gerecht zu werden. Was es zu bedenken gilt, erklärt Pädagogin Stefanie Diekmann.

Wenn Julian (13) seinen Sportrucksack packt, hat er schon einen langen Schultag hinter sich – und noch viel vor sich. Während seine Geschwister Anne (10) und Lina (5) sich mit Freundinnen verabreden, kaut er an einem Müsliriegel und ruft ungeduldig: „Wer fährt mich heute?“ Lina brüllt: „Niemand! Ich will, dass Mama weiter mit mir Uno spielt!“ Schnell entspinnt sich ein Wortgefecht zwischen den Geschwistern. Ohne das Ende der Diskussion abzuwarten, werden Anne und Lina angetrieben, sich zu ihren Freundinnen aufzumachen, damit Mama Heidi sich ins Auto setzen kann. Papa Sascha kann dienstags nie. Und ausgerechnet am Dienstag haben die Mädchen keine Termine und eigentlich Zeit zum Spielen und Zuhause-Sein. Draußen dreht sich Anne um und zwinkert Julian versöhnlich zu: „Viel Spaß! Heute kein Foul, okay?“

Ungleichgewicht durch Begabung

Julians Fußballbegabung ist in den letzten zwei Jahren immer mehr zum Thema in der Familie geworden. Mittlerweile trainiert er viermal pro Woche in einem Stützpunkt – zusätzlich zum normalen Training. Und die ersten Vereine von weiter weg haben schon angefragt, ob Julian zum Probetraining kommen möchte.

Eine Begabung, die viel Organisation und Einsatz verlangt. Eine Begabung, die zwischen den Geschwistern ein Ungleichgewicht herstellt. Nicht weil die Schwestern nicht begabt sind, sondern weil ihre Gestaltung des Alltags und ihre Entwicklung der Persönlichkeit alltagskompatibler sind. Natürlich haben Julians Schwestern auch Hobbys, diese sind allerdings nur ein wöchentlicher Termin ohne große Folgen für das Familienleben. Ein Termin, der die Eltern nicht herausfordert, über weitgreifende Entscheidungen nachzudenken. Julians Eltern grübeln viel über seine Begabung. Ist es nicht ihre Pflicht, diese zu fördern? Was würde in ihrer Beziehung zum Sohn passieren, wenn sie ihn nicht unterstützen?

Sascha war früher Handballer. Er kann sich noch an das Gefühl erinnern, seinen Eltern unwichtig zu sein. In seinen 12 Jahren Handball-Leidenschaft haben sie nie auf der Tribüne gesessen. Seine Frau Heidi versucht, diesen Schmerz als Antrieb für Julians Unterstützung zu verstehen und gleichzeitig den Blick auf alle zu weiten: Wie geht es Anne? Was empfindet Lina, wenn der Alltag so stark auf Julian ausgerichtet ist? Was empfindet Julian, wenn seine Schwestern Neid ausdrücken und die Eltern durch die Mehrbelastung angespannt sind? Manchmal wird Lina weinerlich und klammert sich an Heidi. Nach einigen unschönen Szenen wird klar: Lina drückt so aus, dass ihr das Tempo zu hoch ist. Anne wird immer stiller und unsichtbarer. Sie hilft viel, ist verständnisvoll, räumt auf und es braucht viel Sensibilität, zu spüren: Das Kindliche verschwindet und ihre Bedürfnisse werden zurückgestellt.

Familien-Oasen

Die Eltern sind mehr und mehr zur Überzeugung gekommen, dass sie für alle drei Kinder Förderer sein wollen. Sie wollen bewusst hinsehen: Was beschäftigt unser Kind – unabhängig von Leistung und Leistungsbereitschaft? Und wie werden Werte, für die sie als Christinnen und Christen einstehen, sichtbar – in unseren Gesprächen, unserem Handeln und Gebeten? Was gelingt uns nicht und wo brauchen wir einander? Was, wenn Julians Begabung dazu führt, dass er fast keine Zeit mehr hat, in unsere Kirche zu gehen? Da ist Julian nun so ein Glitzerkind mit einer starken Begabung. Und es ist wie bei jeder Bastelarbeit mit Glitzerpulver: Alles andere bekommt Spuren vom Glitzer ab – unweigerlich.

Was hilfreich ist: Die Eltern planen immer wieder Oasen als gesamte Familie, in denen das Thema Fußball keine Rolle spielt. Das kann ein Schwimmbadbesuch sein. Oder ein Kochduell, bei dem die jüngste Schwester wegen des tollen Namens ihrer Punsch-Erfindung gewinnt. Und wenn es kracht oder der Alltag ein zu hohes Tempo hat, gibt es gemeinsame Gespräche am Tisch: Was brauchen wir als Familie, um gut miteinander leben zu können? Nach den ersten Monaten des Stützpunkttrainings wurde der Tonfall in der Familie immer gereizter und liebloser.

Bei einem Spaziergang wurde den erschöpften Eltern klar: Wir brauchen ein Unterstützernetzwerk – Menschen, die Julian fahren. Andere, die mal ein Abendbrot sicherstellen, wenn sowohl Sascha als auch Heidi bei einem Elterngespräch benötigt werden. Oder eine Anlaufstelle für die Mädchen, wenn mal niemand zu Hause ist. Erst schien es fast aussichtlos. Aber nach und nach trauten sich Sascha und Heidi, offener mit ihrer Suche zu sein. Der Opa blühte im Gespräch mit Julian auf. Für ihn sind die Zeiten im Auto keine Belastung – im Gegenteil. Den gelegentlichen Abendbrotdienst übernahm Dagmar, eine alleinstehende Frau aus der Gemeinde. Natürlich war es zunächst fremd, seinen Kühlschrank jemandem außerhalb der Familie anzuvertrauen. Aber Dagmar gehörte mit ihren Rezepten aus einer anderen Generation bald zum Familieninventar.

Das Loben neu lernen

Neben all den praktischen Themen wurde auch klar, dass Leistung ein sensibles Thema ist. Natürlich muss sich Julian anstrengen, seine Fitnessübungen machen und ja, ein Sieg ist großartig. Den zerknirschten Sohn liebevoll anzusehen, wenn die Mannschaft wegen seines Fehlpasses verloren hat, war für den sportbegeisterten Sascha zuerst eine Herausforderung. Gerade Anne möchte von ihren Eltern oft hören und spüren, wo sie richtig gut ist. Was sie kann. Wo sie sichtbarer ist als ihr Bruder. Die Balance zwischen dem Kleinreden von sportlichen Erfolgen – was Julian schmerzt – und dem Überhöhen der Flötenaufführung – was Anne sofort als Fake spürt – ist für Heidi besonders schwer. Sie musste das Loben neu lernen. Wem bringt ein „Gut gemacht!“ etwas? Will sie nicht eher vermitteln, dass alle von Gott Gesehene sind? Genau hinzusehen und nicht einfach kurz zu loben, hat das Bewusstsein für den anderen verändert.

Manchmal ist es nötig, im Auto vor dem Haus der Großeltern zu sagen: „Ihr wisst: Opa liebt Fußball und wir werden heute viel darüber reden!“ Lina nickt dann und sagt: „Ich weiß – heute ist Julians Glitzer-Stunde. Ist okay!“ Aber das Glitzerkind ist nicht mehr nur noch Julian, sondern jeder in der Familie schimmert schön!

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und arbeitet als Gemeindereferentin in Göttingen. Sie hat drei erwachsene Kinder.

Mobbing: Wie Eltern ihre Kinder unterstützen können

Ein häufiges Problem in Schulen ist Mobbing. Doch es ist auch ein Tabuthema. Psychotherapeutin Melanie Schüer erklärt, wie Eltern Mobbing erkennen und was sie dagegen tun können.

Etwa acht Prozent der deutschen Kinder und Jugendlichen erleben Mobbing – das stellte der Verein „Zeichen gegen Mobbing“ in seiner Präventionsarbeit fest.

Erschreckend ist nicht nur diese Zahl, sondern sind auch die Folgen, die Mobbing haben kann: Diese reichen von Depressionen über Angst- und Panikstörungen bis hin zur Selbstmordgefährdung. Hinzu kommen die langfristigen, oft lebenslangen Folgen: Viele Mobbing-Opfer gewöhnen sich aus Angst vor erneuter Ablehnung ungesunde Denk- und Verhaltensmuster an, die auch Jahrzehnte später noch ihre sozialen Beziehungen erschweren.

Mobbing ist keine Lappalie

Eltern sollten sich immer der Tatsache bewusst sein, dass Mobbing ihr Kind ernsthaft bedroht. Daher sollten sie regelmäßige verbale oder körperliche Gewalt gegen ihr Kind daher niemals auf die leichte Schulter nehmen. Damit ist auch schon angesprochen, was unter Mobbing zu verstehen ist: Wenn zwei Kinder sich hin und wieder streiten, handelt es sich nicht um Mobbing. Mobbing liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum (mindestens etwa einen Monat lang) regelmäßig (etwa einmal pro Woche oder häufiger) Einzelne beleidigt, ausgegrenzt, körperlich oder emotional verletzt werden und dabei ein Kräfteungleichgewicht besteht. Das Kräfteungleichgewicht kann dadurch entstehen, dass mehrere Kinder sich gegen deutlich weniger Kinder stellen oder aber, dass die einzelne Täterperson höhere Macht in der Gruppe besitzt als das Opfer. Natürlich sollten aber auch Vorfälle, die diese Kriterien nicht erfüllen, ernst genommen werden.

Mobbing erkennen

Viele Kinder und Jugendliche zögern lange damit, ihren Eltern von dem Mobbing zu berichten. Das kann unterschiedliche Gründe haben:

  • die Eltern nicht belasten wollen („Die machen sich dann nur Sorgen und können ja eh nichts tun“)
  • Befürchtung weiterer Eskalationen („Wenn ich etwas sage, werden die mich als Petze beschimpfen und noch schlimmer behandeln“)
  • Vermeidung, die Situation als echtes Problem anzuerkennen („Wenn ich einfach so tue, als wenn nichts wäre, löst sich vielleicht bald alles von selbst“)

Eltern sollten daher sensibel auf mögliche Anzeichen achten, die darauf hinweisen können, dass das Kind unter Mobbing leidet. Alarmzeichen sind zum Beispiel:

  • Schweigen über alles, was in der Schule geschieht
  • körperliche Beschwerden ohne erkennbare Ursache wie Kopf- oder Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, ausgeprägte Müdigkeit, Schlafprobleme
  • körperliche Blessuren wie blaue Flecken oder beschädigte Kleidung, Schultaschen o.Ä.
  • zunehmender Widerwille, zur Schule zu gehen
  • Rückzug, Mangel an Verabredungen und an Einladungen zu Geburtstagen
  • schulische Leistungsprobleme
  • Traurigkeit, Bedrücktheit oder auch Reizbarkeit, schlechte Laune
  • Lustlosigkeit
  • Selbstverletzung und/oder Selbstmordgedanken

All das sind natürlich nur Beispiele. Wann immer Eltern auffällt, dass ihr Kind sich ungewöhnlich verhält und auf Nachfrage nach dem Grund keine schlüssige Antwort bekommen, sollte Mobbing eine Option sein, an die sie denken sollten.

Verdacht ansprechen – aber wie?

Ernstnehmen ist also wichtig. Gleichzeitig gilt es jedoch, das Kind ruhig und gefasst auf den Verdacht anzusprechen. Denn wenn die Eltern hektisch agieren, zieht sich das Kind, dem es ohnehin schwerfällt, sich anzuvertrauen, womöglich noch mehr zurück. Suchen Sie also eine ruhige Situation, in der Sie allein mit ihrem Kind reden können. Hilfreich sind bei sehr schweigsamen Kindern Gelegenheiten, bei denen kein direkter Augenkontakt nötig ist. Das kann zum Beispiel bei einem Spaziergang in einer wenig belebten Gegend der Fall sein. Formulieren Sie ihre Frage vorsichtig, aber dennoch klar, zum Beispiel:

„Mir ist aufgefallen, dass du dich verändert hast in den letzten Wochen. Ich habe das Gefühl, dass es dir nicht gut geht. Und ich möchte nicht, dass du mit dem Stress allein bist. Kann es sein, dass du dich in deiner Klasse nicht wohl fühlst oder sogar gemobbt wirst?“

Geduldig bleiben

Manche Kinder reagieren abweisend oder ausweichen. Bleiben Sie dann geduldig: „Ich kann verstehen, dass es dir schwerfällt, darüber zu sprechen. Vielleicht ist es ja nicht so, wie ich denke. Vielleicht ist aber doch was dran. Ich will dir keinen Druck machen. Ich mache mir Sorgen um dich. Ich möchte nichts unternehmen, ohne es gut mit dir abzusprechen. Denk’ mal drüber nach und vielleicht können wir in den nächsten Tagen nochmal sprechen.“ Sie können Ihrem Kind auch fachliche Beratungsangebote nennen wie den Verein „Zeichen gegen Mobbing“ oder die Nummer gegen Kummer. Manchmal ist an anonymes Gespräch als erster Schritt einfacher.

Bleiben Sie dran und reden Sie gegebenenfalls auch mit dem Lehrpersonal und bitten Sie darum, genauer hinzuschauen. Auch kann es hilfreich sein, eine Familienberatungsstelle einzubeziehen.

Nehmen Sie mögliche Bedenken Ihres Kindes, dass es noch schlimmer werden könnte, wenn es sich wehrt, ernst. Geben Sie Ihrem Kind Sicherheit, dass Sie alle Schritte miteinander besprechen. Bleiben Sie aber auch klar in der Devise: Wir müssen etwas tun, denn wenn man nichts gegen Mobbing tut, wird es noch schlimmer.

Was können Eltern tun, wenn das Kind von Mobbing betroffen ist?

Unbedingt zu vermeiden sind folgende No-Gos für Eltern im Umgang mit Mobbing:

  • Eltern sollten niemals selbst die Täterperson kontaktieren. Das wird dem Opfer als Schwäche ausgelegt und verschärft das Kräfteungleichgewicht nur weiter.
  • In nahezu allen Fällen (außer bei einer sehr guten Beziehung zwischen den Eltern des Täters und des Opfers) schadet es auch eher, wenn die Eltern die Täter-Eltern selbst kontaktieren. Es bestehen hier zwei wesentliche Gefahren: Entweder die Täter-Eltern reagieren mit harter Bestrafung ihres Kindes, wodurch dieses noch mehr Wut gegen das Opfer richten wird. Oder – deutlich häufiger – die Täter-Eltern nehmen ihr Kind in Schutz und die Fronten verhärten sich weiter.
  • Ebenfalls sollten Eltern nicht direkt mit eigenen Forderungen und Plänen auf die Schule zugehen. Sie sollten sich vielmehr auf Augenhöhe mit dem Schulpersonal austauschen, erst um deren Vorschläge bitten und höflich fragen, was sie zur Besserung der Situation beitragen können.

Sinnvoll ist es immer, im ersten Schritt mit der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer oder auch der Schulsozialarbeit zu sprechen. Fragen Sie vorher das Kind, welche Ansprechpersonen es sich selbst als hilfreich vorstellen könnte. Meist ist es gut, wenn in so einem ersten Gespräch das Kind nicht dabei ist, weil manchmal Lehrpersonal Gründe für das Mobbing beim Kind sieht oder Aussagen trifft, die zumindest so verstanden werden könnten.

Niemals gerechtfertigt

Fakt ist aber: Niemand hat Mobbing verdient! Mobbing ist durch nichts zu rechtfertigen. Übrigens ist statistisch nur Übergewicht ein klar erkennbarer Anlass, weshalb Kinder gemobbt werden. Ansonsten sind die Ursachen, warum ausgerechnet dieses Kind Opfer wurde, oft nicht leicht zu erkennen. Klar ist nur, dass bestimmte Auffälligkeiten (Aussehen, Sprache, Verhalten), in denen es sich von anderen unterscheidet, eine gewisse Angriffsfläche bieten. Auch ängstliche Tendenzen können eine Opferposition begünstigen.

Eltern sollten ihrem Kind immer klar machen: All das sind höchstens Gründe, die die Täterpersonen sich „suchen“. Genauso gut hätten sie irgendwelche anderen Gründe auswählen können, denn das Problem liegt bei ihnen – nicht beim Opfer! Weil sie sich selbst innerlich schwach fühlen, machen sie andere klein, um sich kurzzeitig stärker fühlen. Das Opfer trägt keinerlei Schuld. Selbst dann nicht, wenn es unfreundlich, anstrengend oder schwierig ist. Mobbing ist niemals gerechtfertigt!

Kooperieren und notfalls kämpfen

Eltern sollten beharrlich im Gespräch mit der Schule bleiben. Sie sollten erst einmal schulische Vorschläge erfragen, aber auch höflich Stellung beziehen. So ist es meist nicht sinnvoll, dass das Lehrpersonal sofort die jeweiligen Täter und Opfer öffentlich benennt und dies mit der gesamten Klasse bespricht. Meist ist es besser, wenn

  • die Täterin oder der Täter gemeinsam mit den Eltern einzeln vom Schulpersonal zum Gespräch gebeten und klare Grenzen aufgezeigt werden
  • Schulsozialarbeit und/oder Lehrpersonal mit dem Opfer sprechen, es ermutigen und bitten, alle Vorfälle zu dokumentieren
  • Mit der Klasse allgemein zum Thema Mobbing, Gewalt und Prävention gearbeitet wird

Hilfreich sind auch Vereine wie „Zeichen gegen Mobbing“, die Betroffene, Eltern, aber auch Schulen konkret beraten und begleiten.

Eltern sollten wachsam bleiben, wenn scheinbar „Ruhe einkehrt“ – manchmal ist der Frieden nur vorübergehend.

Wenn die Klassenleitung nicht ausreichend reagiert, empfiehlt sich im nächsten Schritt die Kontaktaufnahme zur Schulleitung. Sollte auch hier keine angemessene Unterstützung erfolgen, ist die Schulaufsichtsbehörde die nächste Instanz. Wenn in seltenen Fällen auch dort verharmlost und gemauert wird, bleibt Eltern das sogenannte Petitionsrecht: Dabei können sie eine Eingabe an den Landtag machen. Auch rechtliche Unterstützung oder Begleitung durch eine Familienberatungsstelle, deren Personal mit der Schule sprechen kann, sind sinnvolle Optionen.

Klassen- oder Schulwechsel ist oft nicht zielführend

Ein solcher Schritt kann das Oper in der Wahrnehmung bestätigen, sich nicht wehren zu können und nachgeben zu müssen. Zudem muss es sich nach einer sehr schwächenden Erfahrung in eine völlig neue Gruppe integrieren, Das gelingt jedoch nur selten. Besser ist es, in hartnäckigen Fällen auf die Versetzung der Täterperson hinzuwirken.

Wenn aber die Schule zu keiner Veränderung bereit ist oder keine Besserung zu erreichen ist, kann ein Schulwechsel der letzte Ausweg sein. In dem Fall sollte möglichst vermieden werden, die neue Schule vorab über die Probleme zu informieren, um einen unvoreingenommenen Neuanfang zu ermöglichen.

Ablenkung und Stärkung ermöglichen

Es gilt, neben allen Schritten zur Verbesserung der äußeren Situation, auch die Stärkung und Entlastung des Kindes selbst im Blick zu haben. Das bedeutet u.A.:

  • Zuhause nicht ständig über das Mobbing reden. Gesprächsbereitschaft signalisieren, nachfragen – aber auch bewusst andere, positiv besetzte Themen und (gemeinsame) Aktivitäten fördern, zum Beispiel Spielen, Shoppen, Kino, Ausflüge … Gut sind auch Aktivitäten mit Erfolgserlebnissen, um die Selbstwirksamkeit zu stärken. Vielleicht gehen Sie mal in einen Kletterwald oder Niedrigseilgarten oder fragen Ihr Kind, was es gerne mal erleben oder Neues lernen würde. Besondere Erfahrungen stärken das Selbstbewusstsein und die Hoffnung auf bessere Zeiten.
  • Suchen Sie mit Ihrem Kind Möglichkeiten zu positiven sozialen Erfahrungen, z.B. Kinder-/Jugendgruppen in Kirchengemeinden oder Sportvereinen. Es geht darum, Räume zu finden, bei denen es die Täterpersonen nicht trifft und erleben kann: „Ich werde gemocht! Ich komme mit Gleichaltrigen zurecht!“
  • Betonen Sie immer wieder die Stärken Ihres Kindes. Zollen Sie ihm Anerkennung für das, was es gut kann, wo es sich bemüht und Einsatz zeigt. Zeigen Sie besonders viel Interesse an allem, wofür Ihr Kind sich begeistert.
  • Sagen Sie Ihrem Kind, wie wertvoll es ist. Ein tolles Buch ist „Du bist einmalig“ von Max Lucado, wo die Einzigartigkeit eines jeden Menschen in den Augen Gottes in einer berührenden Geschichte verdeutlicht wird.
  • Auch Bücher, die zeigen, dass andere Ähnliches erleben und altersgerecht Strategien aufzeigen, können ermutigend sein, zum Beispiel „Raus bist du noch lange nicht“ von Elfriede Wimmer oder „Du doof!?“ von Tom Lehel.
  • Ermöglichen Sie Ihrem Kind auch Gesprächsmöglichkeiten ohne Eltern, z.B. in einer Psychotherapie oder Beratungsstelle.

Mobbing ist eine Herausforderung für die ganze Familie! Doch bewahren Sie die Zuversicht. Wenn Ihr Kind erfährt, dass es eine solche Situation gut begleitet, positiv bewältigen kann, kann das auch für ähnliche Erfahrungen im Erwachsenenleben stärkend sein!

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Autorin.

 

Hilfsangebote bei Mobbing

  • Verein „Zeichen gegen Mobbing“: Zweichen-gegen-mobbing.de
  • Telefonnummer für Mobbingopfer: nummergegenkummer.de
  • Familienberatungsstelle: dajeb.de

Gefährliche TikTok-Challenges: Das können Eltern tun

Immer wieder kommt es zu tödlichen Unfällen, weil junge Leute auf TikTok Challenges sehen und nachmachen. Wie können Eltern ihre Kinder schützen, die auch TikTok nutzen?

TikTok-Challenges kann man als moderne Mutproben bezeichnen. Es geht darum, sich etwas zu trauen oder etwas Außergewöhnliches zu machen und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Bei TikTok finden wir ein ganzes Spektrum an Challenges – von kreativen bis gefährlichen. Es gibt Activity-Challenges, also sportliche Herausforderungen, oder Spaß-Challenges, wo man sich zum Beispiel Witze erzählt. Sehr bekannt sind auch Beauty-Challenges. Da wird es schon schwierig, wenn junge Frauen sich beispielsweise die Oberlippe mit Sekundenkleber ein Stück nach oben kleben, um breitere Lippen zu haben. Richtig gefährlich wird es, wenn in Waschmittelpods gebissen, aus einem springenden Fahrzeug gesprungen oder sich gegenseitig gewürgt wird.

Was finden Teenager daran nachahmenswert?

Im Kindheits- und Jugendalter ist die Frage „Was traue ich mich?“ und „Was trauen sich die anderen?“ sehr zentral. Es geht auch um die Fragen: „Wie weit soll ich gehen? Was schaffe ich?“, also darum, Grenzen zu testen. Das ist zunächst einmal nichts Schlechtes, sondern auch richtig und wichtig in dieser Entwicklungsphase. Aber wenn es gefährlich wird aufgrund dessen, was man tut und wo dann der Content verbreitet wird, sind Grenzen zu setzen.

Gespräche und Aufklärung über TikTok

Wie sollten Eltern mit ihren Kindern über die Gefahren sprechen?

Es ist wichtig zu wissen, was das Kind beschäftigt und begeistert, sich das auch mal gemeinsam anzuschauen und zusammen zu überlegen: Springt da gerade wirklich jemand aus einem fahrenden Auto oder aus dem zehnten Stock in einen Pool? Schauen Sie hinter die Kulissen und reflektieren Sie gemeinsam. Wir reden hier ja häufig von Kindern, die unter 13 Jahre alt sind, also eigentlich noch gar nicht auf TikTok sein sollten. In diesem Alter sind sie schon rein kognitiv noch gar nicht so weit, diese Videos zu durchschauen und zu reflektieren, ob das wahr ist, was sie da sehen und ob sie da mitmachen sollten.

Neben der Aufklärung geht es auch um Sicherheit. Man kann inzwischen bei TikTok allerhand eingeschränkte Modi nutzen, sodass die Gefahren erst gar nicht auf das Kind zukommen.

Als dritten Punkt finde ich wichtig, dem Kind Selbstbewusstsein zu vermitteln: „Auch, wenn alle deine Kumpels das cool finden, kannst du trotzdem sagen, dass du da nicht mitmachst. Damit zeigst du keine Schwäche, sondern Stärke.“

Ein vierter Punkt ist: Vorbild sein. Wenn wir als Erwachsene uferlos auf Social Media unterwegs sind, uns dort beeinflussen lassen und möglicherweise auch bei Challenges mitmachen, fällt es den Kindern, die sich an uns orientieren, schwerer, sich zu distanzieren.

Möglichkeiten zur Reflexion

Sollten Eltern ihren Kindern Strafverbote fürs Handy erteilen?

Wenn das Kind immer wieder vorher besprochene Regeln bricht, kann es sinnvoll sein, einen klaren Schnitt zu machen. Dann kann das Kind Abstand gewinnen und hat Zeit zu reflektieren und sich neu zu sammeln, um dann wieder neu zu starten. Aber ich würde davon abraten, es als grundsätzliches Erziehungsmittel einzusetzen. „Räum dein Zimmer auf! Mach die Hausaufgaben! Putz die Zähne – sonst ist dein Handy weg“, macht es sehr beliebig und steigert auch die Begeisterung, die das Digitale bei Kindern eh schon hat.

Iren Schulz ist Kommunikationswissenschaftlerin, Medienpädagogin und Mediencoach bei der Initiative SCHAU HIN! (irenschulz.de).

Interview: Ruth Korte