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Vater sein – Hirnforscher erklärt: Das brauchen Kinder von ihren Vätern

Vater sein ist nicht nur eine Aufgabe oder eine Rolle, sondern eine innere Haltung. Star-Hirnforscher Gerald Hüther erzählt im Interview, warum Kinder von ihren Vätern bedingungsloses Interesse brauchen.

Im Kindergarten und der Grundschule werden Kinder mehrheitlich von Frauen betreut. Sind Männer verzichtbar geworden?

Gerald Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, um sich zu orientieren. Da Frauen und Männer unterschiedlich sind, fehlt ein wesentliches Gegenüber für eine gesunde Rollenbildung, wenn kein Mann da ist. Jungen und Mädchen müssen aber ein inneres Bild von dem entwickeln, was männlich und was weiblich ist. Mannsein lerne ich eben nicht aus dem Internet, dem Fernsehen oder aus Büchern. Und wenn die Kinder keinen Mann erleben, wachsen sie mit einem echten Erfahrungsdefizit auf.

Vater sein – eine besondere Bedeutung

Hier kommt besonders der Vater ins Spiel. Worin sehen Sie die Bedeutung von Vätern?

Wir haben zwei verschiedene Geschlechter und eine bestimmte Erfahrungswelt für Frauen und Männer in unserer Gesellschaft. Und die einzige Notwendigkeit, die ich als Hirnforscher sehe, ist, dass Kinder Gelegenheit bekommen müssen, möglichst unterschiedliche Erfahrungen mit vielfältigen Menschen zu machen. Es gibt eine ganze Reihe Untersuchungen, die zeigen, dass Väter und Mütter unterschiedlich auf Kinder reagieren und ihnen damit auch andere Möglichkeiten bieten. Wenn zum Beispiel ein Kind auf dem Spielplatz von der Schaukel fällt, nimmt die Mutter das Kind auf den Schoß, tröstet es und setzt es dann woanders hin. In die Sandkiste zum Beispiel, wo es nicht mehr runterfallen kann.

Bei Vätern beobachtet man häufiger, dass sie das Kind nehmen, es trösten und es wieder zurück auf die Schaukel setzen. Und das ist eine völlig andere Erfahrung für ein Kind. Nämlich, dass es ein Problem gab, aber dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man es vermeidet, sondern dass man sich dem Problem stellt. Es mag sein, dass Männer das leichter können, und so mag es eine ganze Reihe von anderen Dingen geben, die ein Vater dem Kind besser vermitteln kann. Und das gilt eben nicht nur für Jungs, die natürlich ein männliches Vorbild brauchen, sondern das gilt in gleicher Weise auch für Mädchen. Auch Mädchen brauchen ihre Väter.

Was macht für Sie einen richtig guten Vater aus?

Ich fürchte, dass es keine richtig guten Väter gibt, sondern dass jeder Vater versuchen kann, es so gut wie möglich zu machen. Und es gibt Väter, die sich selbst darüber bewusst sind, dass sie für ihre Kinder ein Rollenmodell bieten. Kinder lernen von Vorbildern, und Jungs lernen von ihrem Vater, was männliche Identität bedeutet und bekommen damit einen Maßstab und eine Orientierung, die ihnen oftmals für das ganze Leben lang bedeutsam ist. Das war und ist aber nicht immer gegeben. Daher wäre es gut, wenn Väter sich noch stärker darüber bewusst würden, welche bedeutsame Rolle sie spielen und wie sehr ihr Vorbild ihre Kinder auf ihrem Weg prägt.

Aber nicht nur die Jungs, sondern die Mädchen in gleicher Weise. Denn wir sehen auch in vielen Studien, dass Mädchen ihre spätere Partnerwahl sehr stark unter dem Einfluss der Erfahrungen treffen, die sie mit ihrem eigenen Vater gemacht haben. Manche suchen sich einen, der so ähnlich ist wie der Vater, andere suchen einen, der sich in ihren Augen sehr stark von ihrem Vater unterscheidet. Väter sind also Rollenmodelle für Söhne, wie sie als Väter leben. Und Töchter sollten an ihrem Vater sehen können, wie ein Mann wertschätzend mit einer Frau umgeht und was man von einem Mann erwarten sollte. Und sie leben vor, wie Partnerschaft aussieht.

Anspruch und Wirklichkeit

Als Vater versuche ich natürlich, meine Sache gut zu machen. Trotzdem scheitere ich oft genug an meinen Ansprüchen. Ich möchte liebevoll sein und doch reagiere ich über. Was kann ich tun, um ein besserer Vater zu sein?

Vielleicht ist es hilfreich, erst mal zu fragen, weshalb es so oft nicht gelingt. Das hat etwas mit Affekten zu tun, die wach werden, wenn man als Vater mit bestimmten Verhaltensweisen des Kindes konfrontiert wird. Das kann wie ein Trigger wirken, der im eigenen Gefühlsleben bestimmte Emotionen und Affekte erzeugt, die so stark sind, dass man plötzlich nicht mehr Herr seiner Handlungen ist. Und dass man plötzlich in dieser übererregten Situation – neurobiologisch nennen wir das Frontalhirndefizit – kopflos reagiert.

Aus dem Affekt heraus tut man Dinge, die man sonst nicht machen würde. Das passiert vor allem dann, wenn man in engen emotionalen Bindungen steht. Also mit den eigenen Kindern oder dem Ehepartner. Was notwendig wäre, um nicht im Affekt zu reagieren: Zählen Sie erst mal bis zehn und dann denken Sie nochmal kurz nach und dann handeln sie. Wer sofort aus dem Affekt heraus handelt, kann nicht umsichtig und liebevoll mit seinem Kind umgehen. Das wären die praktischen Tipps.

Als Vater ein Vorbild zu sein, ist nicht immer leicht. Die Rollen im Beruf, in der Familie, in der Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Wie kann man das Mann- und Vatersein da leben?

Als Mann muss man sich über die verschiedenen Rollen bewusst sein. Die Gefahr ist groß, von der Gesellschaft verführt zu werden, irgendwelche Rollen spielen zu wollen, um Anerkennung zu bekommen. Es ist schlecht, wenn ein Mann, dem dieses Theaterspiel selbst nicht klar ist, Kinder erzieht, egal ob Jungs oder Mädchen. Wer das selbst nicht durchschaut, identifiziert sich dann auch allzu leicht mit seiner Rolle. Den Kindern so ein Rollenspiel vorzuleben, kann dazu führen, dass auch sie versuchen, irgendwelche Rollen zu spielen, und sich dabei selbst fremd werden.

Jetzt könnte man versuchen, diese Rolle, die man in der Gesellschaft spielt, zu hinterfragen und sich nicht mit dieser Rolle zu identifizieren. Wenn ich gefragt werde, wer ich bin, dann sage ich eben nicht: Ich bin Professor für Neurobiologie. Sondern: Ich bin Gerald Hüther, der sich auf irgendeine Art und Weise darum bemüht, im Leben zurechtzukommen. Das ist ein ganz anderes Selbstbild. Und dieses andere Selbstbild, dass ich, wie alle anderen, suchend und fragend unterwegs bin, wäre als Grundhaltung dann auch für die Kinder großartig.

Dadurch ist man nicht der Besserwisser und der Alleskönner, der die Kinder zum Objekt seiner Erwartungen, Belehrungen und Bewertungen macht. Sondern man outet sich als einer, der auch nicht weiß, wie es geht. Man kann dem Kind auch offenbaren, dass man ein fehlbarer Mensch ist, der sich Mühe gibt und es versucht, so gut wie möglich zu machen. Hier ist der Erwachsene, ob Mutter oder Vater, nicht mehr die Führungsfigur, die das Kind erzieht und belehrt und ihm alles beibringt.

Solche Eltern werden ihr Kind in seiner ganzen Einzigartigkeit so annehmen, wie es ist. Sie werden nicht versuchen, aus diesem Kind etwas zu machen, wovon sie glauben, dass es darauf ankäme oder günstig wäre. Und das ist die wirkliche Definition von Liebe, nämlich das bedingungslose Interesse an der Entfaltung des Geliebten. Das halte ich im Augenblick für die wichtigste Botschaft, die wir an Väter weitergeben können: Kein Rollenspieler, sondern ein authentischer Mann zu sein. Natürlich brauchen Kinder auch Führung, Halt und Orientierung. Aber was sie nicht brauchen, ist jemand, der autoritär sagt, wie das Kind zu sein hat.

Vater sein – sich auf das Kind einlassen

Das setzt voraus, sich tief im Inneren auf das Kind einzulassen.

Richtig. Aber das fällt vielen Vätern schwer, weil sie eine andere Haltung erlernt haben. Nämlich, dass Väter bei kleinen Kindern noch nicht so wichtig sind und sie nicht gebraucht werden. Aber wenn man sich auf die Kinder einlässt, spürt man plötzlich, wie das Kind einen einlädt, in seine Welt zu kommen und alles mit zu entdecken. Die Welt, das Wohnzimmer, die Puppe, das Bett und auch den Papa, der mit kindlichen Augen betrachtet ganz anders ist.

Dann öffnet sich plötzlich nochmal auf eine neue Weise eine ganze Erfahrungswelt. Je öfter man diese Erfahrung macht, wie sehr sich das Kind darauf freut, dass der Papa jetzt da ist und es mit ihm etwas machen kann, desto stärker fühlt es der Papa. Dann macht er diese starke emotionale Erfahrung, dass er eigentlich ein toller Papa ist und dass er dadurch dem Kind eine ganze Menge schenken kann und dass er auch ganz viel von dem Kind bekommt.

Aus dieser wiederholt gemachten Erfahrung wird dann eine Haltung. Und die Haltung heißt, dass es toll ist, mit meinem Kind als Vater auf diese Weise verbunden zu sein. Das will ich auch aufrechterhalten. Das heißt, er kann später wieder arbeiten gehen. Diese Erfahrung geht nicht wieder weg und diese Haltung bleibt bestehen. So kann man das lernen und auch anderen Vätern weitergeben, sich auf diese Erfahrung einzulassen.

Gibt es für Sie ein Vorbild für Männer und Väter?

Jesus Christus. Wenn man wissen will, wie der moderne Mann aus neurobiologischer Sicht aussieht, sollte man sich an Jesus orientieren. Der Kern dieses Mannseins heißt: ein Liebender zu sein. Das ist das, was Jesus konnte. Er brauchte nicht andere, um sich selbst aufzubauen, musste nicht mit Klugscheißereien dauernd dazwischenreden und anderen erzählen, was sie zu tun und zu lassen haben. Er hatte etwas zu verschenken. Und er konnte sich um andere kümmern, sich hingeben, da sein und zuhören. Das können wir alle lernen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Family-Redakteur Marcus Beier.

Dr. Gerald Hüther ist emeritierter Professor für Neurologische Präventionsforschung und Autor vieler ­Sach- und Fachbücher. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Göttingen. gerald-huether.de

Mehr sein und weniger tun

Vater sein ist nicht nur eine Aufgabe oder eine Rolle, sondern es ist eine innere Haltung. Hirnforscher Gerald Hüther erzählt im Interview, was Kinder an Vätern wirklich brauchen.

Im Kindergarten und der Grundschule werden Kinder mehrheitlich von Frauen betreut. Sind Männer verzichtbar geworden?

Gerald Hüther: Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, um sich zu orientieren. Da Frauen und Männer unterschiedlich sind, fehlt ein wesentliches Gegenüber für eine gesunde Rollenbildung, wenn kein Mann da ist. Jungen und Mädchen müssen aber ein inneres Bild von dem entwickeln, was männlich und was weiblich ist. Mannsein lerne ich eben nicht aus dem Internet, dem Fernsehen oder aus Büchern. Und wenn die Kinder keinen Mann erleben, wachsen sie mit einem echten Erfahrungsdefizit auf.

Hier kommt besonders der Vater ins Spiel. Worin sehen Sie die Bedeutung von Vätern?

Wir haben zwei verschiedene Geschlechter und eine bestimmte Erfahrungswelt für Frauen und Männer in unserer Gesellschaft. Und die einzige Notwendigkeit, die ich als Hirnforscher sehe, ist, dass Kinder Gelegenheit bekommen müssen, möglichst unterschiedliche Erfahrungen mit vielfältigen Menschen zu machen. Es gibt eine ganze Reihe Untersuchungen, die zeigen, dass Väter und Mütter unterschiedlich auf Kinder reagieren und ihnen damit auch andere Möglichkeiten bieten. Wenn zum Beispiel ein Kind auf dem Spielplatz von der Schaukel fällt, nimmt die Mutter das Kind auf den Schoß, tröstet es und setzt es dann woanders hin. In die Sandkiste zum Beispiel, wo es nicht mehr runterfallen kann. Bei Vätern beobachtet man häufiger, dass sie das Kind nehmen, es trösten und es wieder zurück auf die Schaukel setzen. Und das ist eine völlig andere Erfahrung für ein Kind. Nämlich, dass es ein Problem gab, aber dass das Problem nicht dadurch gelöst wird, dass man es vermeidet, sondern dass man sich dem Problem stellt. Es mag sein, dass Männer das leichter können, und so mag es eine ganze Reihe von anderen Dingen geben, die ein Vater dem Kind besser vermitteln kann. Und das gilt eben nicht nur für Jungs, die natürlich ein männliches Vorbild brauchen, sondern das gilt in gleicher Weise auch für Mädchen. Auch Mädchen brauchen ihre Väter.

Was macht für Sie einen richtig guten Vater aus?

Ich fürchte, dass es keine richtig guten Väter gibt, sondern dass jeder Vater versuchen kann, es so gut wie möglich zu machen. Und es gibt Väter, die sich selbst darüber bewusst sind, dass sie für ihre Kinder ein Rollenmodell bieten. Kinder lernen von Vorbildern, und Jungs lernen von ihrem Vater, was männliche Identität bedeutet und bekommen damit einen Maßstab und eine Orientierung, die ihnen oftmals für das ganze Leben lang bedeutsam ist. Das war und ist aber nicht immer gegeben. Daher wäre es gut, wenn Väter sich noch stärker darüber bewusst würden, welche bedeutsame Rolle sie spielen und wie sehr ihr Vorbild ihre Kinder auf ihrem Weg prägt. Und nicht nur die Jungs, sondern die Mädchen in gleicher Weise. Denn wir sehen auch in vielen Studien, dass Mädchen ihre spätere Partnerwahl sehr stark unter dem Einfluss der Erfahrungen treffen, die sie mit ihrem eigenen Vater gemacht haben. Manche suchen sich einen, der so ähnlich ist wie der Vater, andere suchen einen, der sich in ihren Augen sehr stark von ihrem Vater unterscheidet. Väter sind also Rollenmodelle für Söhne, wie sie als Väter leben. Und Töchter sollten an ihrem Vater sehen können, wie ein Mann wertschätzend mit einer Frau umgeht und was man von einem Mann erwarten sollte. Und sie leben vor, wie Partnerschaft aussieht.

Als Vater versuche ich natürlich, meine Sache gut zu machen. Trotzdem scheitere ich oft genug an meinen Ansprüchen. Ich möchte liebevoll sein und doch reagiere ich über. Was kann ich tun, um ein besserer Vater zu sein?

Vielleicht ist es hilfreich, erst mal zu fragen, weshalb es so oft nicht gelingt. Das hat etwas mit Affekten zu tun, die wach werden, wenn man als Vater mit bestimmten Verhaltensweisen des Kindes konfrontiert wird. Das kann wie ein Trigger wirken, der im eigenen Gefühlsleben bestimmte Emotionen und Affekte erzeugt, die so stark sind, dass man plötzlich nicht mehr Herr seiner Handlungen ist. Und dass man plötzlich in dieser übererregten Situation – neurobiologisch nennen wir das Frontalhirndefizit – kopflos reagiert. Aus dem Affekt heraus tut man Dinge, die man sonst nicht machen würde. Das passiert vor allem dann, wenn man in engen emotionalen Bindungen steht. Also mit den eigenen Kindern oder dem Ehepartner. Was notwendig wäre, um nicht im Affekt zu reagieren: Zählen Sie erst mal bis zehn und dann denken Sie nochmal kurz nach und dann handeln sie. Wer sofort aus dem Affekt heraus handelt, kann nicht umsichtig und liebevoll mit seinem Kind umgehen. Das wären die praktischen Tipps.

Als Vater ein Vorbild zu sein, ist nicht immer leicht. Die Rollen im Beruf, in der Familie, in der Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Wie kann man das Mann- und Vatersein da leben?

Als Mann muss man sich über die verschiedenen Rollen bewusst sein. Die Gefahr ist groß, von der Gesellschaft verführt zu werden, irgendwelche Rollen spielen zu wollen, um Anerkennung zu bekommen. Es ist schlecht, wenn ein Mann, dem dieses Theaterspiel selbst nicht klar ist, Kinder erzieht, egal ob Jungs oder Mädchen. Wer das selbst nicht durchschaut, identifiziert sich dann auch allzu leicht mit seiner Rolle. Den Kindern so ein Rollenspiel vorzuleben, kann dazu führen, dass auch sie versuchen, irgendwelche Rollen zu spielen, und sich dabei selbst fremd werden. Jetzt könnte man versuchen, diese Rolle, die man in der Gesellschaft spielt, zu hinterfragen und sich nicht mit dieser Rolle zu identifizieren. Wenn ich gefragt werde, wer ich bin, dann sage ich eben nicht: Ich bin Professor für Neurobiologie. Sondern: Ich bin Gerald Hüther, der sich auf irgendeine Art und Weise darum bemüht, im Leben zurechtzukommen. Das ist ein ganz anderes Selbstbild. Und dieses andere Selbstbild, dass ich, wie alle anderen, suchend und fragend unterwegs bin, wäre als Grundhaltung dann auch für die Kinder großartig. Dadurch ist man nicht der Besserwisser und der Alleskönner, der die Kinder zum Objekt seiner Erwartungen, Belehrungen und Bewertungen macht. Sondern man outet sich als einer, der auch nicht weiß, wie es geht. Man kann dem Kind auch offenbaren, dass man ein fehlbarer Mensch ist, der sich Mühe gibt und es versucht, so gut wie möglich zu machen. Hier ist der Erwachsene, ob Mutter oder Vater, nicht mehr die Führungsfigur, die das Kind erzieht und belehrt und ihm alles beibringt. Solche Eltern werden ihr Kind in seiner ganzen Einzigartigkeit so annehmen, wie es ist. Sie werden nicht versuchen, aus diesem Kind etwas zu machen, wovon sie glauben, dass es darauf ankäme oder günstig wäre. Und das ist die wirkliche Definition von Liebe, nämlich das bedingungslose Interesse an der Entfaltung des Geliebten. Das halte ich im Augenblick für die wichtigste Botschaft, die wir an Väter weitergeben können: Kein Rollenspieler, sondern ein authentischer Mann zu sein. Natürlich brauchen Kinder auch Führung, Halt und Orientierung. Aber was sie nicht brauchen, ist jemand, der autoritär sagt, wie das Kind zu sein hat.

Das setzt voraus, sich tief im Inneren auf das Kind einzulassen.

Richtig. Aber das fällt vielen Vätern schwer, weil sie eine andere Haltung erlernt haben. Nämlich, dass Väter bei kleinen Kindern noch nicht so wichtig sind und sie nicht gebraucht werden. Aber wenn man sich auf die Kinder einlässt, spürt man plötzlich, wie das Kind einen einlädt, in seine Welt zu kommen und alles mit zu entdecken. Die Welt, das Wohnzimmer, die Puppe, das Bett und auch den Papa, der mit kindlichen Augen betrachtet ganz anders ist. Und dann plötzlich öffnet sich nochmal auf eine neue Weise eine ganze Erfahrungswelt. Je öfter man diese Erfahrung macht, wie sehr sich das Kind darauf freut, dass der Papa jetzt da ist und es mit ihm etwas machen kann, desto stärker fühlt es der Papa. Dann macht er diese starke emotionale Erfahrung, dass er eigentlich ein toller Papa ist und dass er dadurch dem Kind eine ganze Menge schenken kann und dass er auch ganz viel von dem Kind bekommt. Aus dieser wiederholt gemachten Erfahrung wird dann eine Haltung. Und die Haltung heißt, dass es toll ist, mit meinem Kind als Vater auf diese Weise verbunden zu sein. Das will ich auch aufrechterhalten. Das heißt, er kann später wieder arbeiten gehen. Diese Erfahrung geht nicht wieder weg und diese Haltung bleibt bestehen. So kann man das lernen und auch anderen Vätern weitergeben, sich auf diese Erfahrung einzulassen.

Gibt es für Sie ein Vorbild für Männer und Väter?

Jesus Christus. Wenn man wissen will, wie der moderne Mann aus neurobiologischer Sicht aussieht, sollte man sich an Jesus orientieren. Der Kern dieses Mannseins heißt: ein Liebender zu sein. Das ist das, was Jesus konnte. Er brauchte nicht andere, um sich selbst aufzubauen, musste nicht mit Klugscheißereien dauernd dazwischenreden und anderen erzählen, was sie zu tun und zu lassen haben. Er hatte etwas zu verschenken. Er konnte sich um andere kümmern, sich hingeben, da sein und zuhören. Das können wir alle lernen. Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Marcus Beier.

Dr. Gerald Hüther ist emeritierter Professor für Neurologische Präventionsforschung und Autor vieler ­Sach- und Fachbücher. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Göttingen. www.gerald-huether.de

Mannsein: Bist du der Mann, der du sein willst?

Was bedeutet es eigentlich, Mann zu sein? Was für ein Mann möchte ich werden? Moor Jovanovski gibt sechs Ratschläge, die dabei helfen, ein authentiches Mannsein zu leben.

Was willst du mal werden, wenn du groß bist?“ Diese Frage stellen wir oft kleinen Kindern, weil wir wissen möchten, welche Vorstellungen sie haben. Und dann bekommt man herzerfrischende und ungefilterte Antworten. Zwar sind diese oft wenig realistisch, aber sie geben etwas von der Persönlichkeit und dem Charakter der Kinder preis. Im Laufe des Erwachsenwerdens verblassen die Träume und die berufliche Karriere beginnt unter anderen Gesichtspunkten als dem des Träumens.

Die Frage bleibt spannend: „Was willst du werden?“ Um es noch greifbarer zu machen, hilft ein Perspektivwechsel in die Zukunft. Stell dir dich selbst in zehn oder zwanzig Jahren vor und frage dich: „Bist du der geworden, der du werden wolltest?“ Warum diese Frage wichtig ist? Weil sie über deine Zufriedenheit im Leben entscheidet. Es ist nicht der Besitz und auch nicht der Erfolg, der einen Menschen glücklich macht, sondern das Wissen, dass man mit sich schlüssig ist.

Mannsein? Person vor Position

Das gilt genauso für das Mannsein. Früher wollte man vielleicht ein Superheld werden und die Welt retten. Und dann findet man sich in einem Büro oder auf dem Bau wieder. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, aber definieren Berufsbilder auch das Sein? Ich bin überzeugt, dass man aus einer versöhnten und geklärten inneren Welt heraus sein Leben gestalten kann. Man ist zuallererst eine Person, und dann kommt der Rest. Bei der Frage, welcher Mann ich sein will, sollte ich nicht die Antwort in Rollen und beruflichen Positionen suchen, denn davon hängt meine männliche Identität nicht ab. Jobs und Positionen verändern sich. Was bleibt, ist immer man selbst. Es ist gut, sich mit seinem Tun zu identifizieren, aber das stiftet nicht Identität, sondern die Identität bestimmt, was ich tue.

Die Werte, die mich als Mann ausmachen, muss ich mir eigenständig und zweckfrei erhalten. Da es viele Vorstellungen und Klischees in Sachen Mannsein gibt, stehe ich als Mann hier vor einer Herausforderung: Was für ein Mann bin ich eigentlich? Und will ich wirklich so sein? Ich möchte es gleich auf den Punkt bringen: Das ist keine Aufgabe, die ich allein lösen muss. Zunächst muss ich mir vor Augen halten, dass es immer um ein Werden geht und nicht um Ergebnisse.

Für dieses Werden möchte ich sechs Hinweise geben, die dir dabei helfen können, dich in deinem Sein weiterzuentwickeln.

1. Behüte dein Herz!

Das Herz ist die Quelle von Charakter und Persönlichkeit. Das stellt König Salomo im biblischen Buch der Sprüche Kapitel 4 Vers 23 fest: „Vor allem aber behüte dein Herz, denn dein Herz beeinflusst dein ganzes Leben.“ Das Herz ist aber auch ein sehr komplexer und paradoxer Ort: Man kann lieben und hassen, man kann großherzig und neidisch, freigiebig und geizig sein. Und all das sprudelt aus derselben Quelle. Man gestaltet seine Welt von innen nach außen. Aus diesem Grund solltest du darauf achten, was in deinem Herzen Raum haben darf und was du ändern solltest. Das hilft auch dabei, dir darüber klar zu werden, wer du eigentlich sein möchtest. Ein Herz voller Gier, Geiz oder Hass bringt keine Freude hervor. Aber Liebe, Zuwendung und Wohlwollen wirken positiv auf dich und dein Umfeld. Daher gilt für dein Mannsein: Was du bist und wie du lebst, beginnt in deinem Herzen.

2. Lass Wunden heilen!

Es ist für Männer nicht leicht, über Verletzungen und Schmerz zu sprechen. Sich mit Kränkungen oder verwundeten Emotionen auseinanderzusetzen, wirkt verweichlicht. Aus diesem Grund verdrängen wir Schmerz und Wunden oder ignorieren sie. Viele Männer haben mir gesagt, dass sie Angst haben, sich diesen Themen zu stellen, weil sie in ihrer Wahrnehmung dann Schwäche zeigen würden. Diese Schwächen würden von anderen ausgenutzt, und man gehöre automatisch zu den Verlierern. Mannsein bedeutet schließlich, stark zu sein, alles im Griff zu haben und alles rational abzuarbeiten. Und doch berichten mir dieselben Männer, dass sie mit Minderwertigkeit, Versagensängsten, Neid, Hass und anderen Gefühlen zu kämpfen haben. Verletzungen und Lebenslügen wie „Das schaffst du nie!“ oder „Aus dir wird nie etwas!“ haben sie fest im Griff.

Ich kenne das aus meinem Leben. Es gibt Wunden, die mir wehtun und mich abwerten. Ich kenne das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit, weil ich lange Zeit keine väterliche Bestätigung und Unterstützung bekommen habe. Das ist ein tiefsitzender Schmerz, der mich immer wieder in Übertreibungen geführt hat. Ich habe mich entweder isoliert oder besonders hart gearbeitet, um der Beste zu sein. Doch mit beiden Strategien habe ich mich unnahbar für meine Mitmenschen gemacht.

Wenn man sich seinem Schmerz nicht stellt, wird die Wunde immer größer. Als ich anfing, mich meinem Schmerz zu stellen, begann die Heilung. Wenn du deine Wunden kennst, findest du heraus, was Heilung verschafft. Und wie du bei äußerlichen Wunden zum Arzt gehst, darfst du auch bei inneren Wunden Hilfe suchen. Das kann ein Seelsorger, ein Therapeut, ein enger Freund oder ein väterlicher Mentor sein. Mit dem Benennen des Schmerzes kann die Gesundung beginnen.

3. Mannsein ohne Masken

Masken zu tragen, kann eine Reaktion auf äußere Einflüsse sein. Man will den Schein wahren oder sich besonders gut darstellen. Oft dienen sie als Verstecke, um nicht aufzufallen oder eigene Fehler zu kaschieren. Integrität ist ein wichtiges Thema, nicht nur in sozialer Interaktion, sondern eben auch in der Persönlichkeitsentwicklung. Echt zu sein ist immer besser, als einen Schein zu wahren. Masken fallen irgendwann sowieso. Und dann ist alles, was man sich aufgebaut hat, wie Sand, der durch die Finger rinnt.

In Psalm 139 schreibt David einen Satz, der die Einzigartigkeit seines Seins unterstreicht. Im Vers 14 heißt es: „Ich danke dir, dass du mich so herrlich und ausgezeichnet gemacht hast! Wunderbar sind deine Werke, das weiß ich wohl.“ Und das ist auch eine wunderbare Aussage der Sicht Gottes auf uns Menschen. Diese Aussage hilft dir, dein Mannsein zu definieren, weil du wissen darfst, dass du nicht jemand anderes sein musst.

Im gleichen Psalm ist aber auch von einer Demaskierung die Rede – David bittet Gott darum, sein Herz zu prüfen: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken. Zeige mir, wenn ich auf falschen Wegen gehe und führe mich den Weg zum ewigen Leben“ (Vers 23-24). Jeder von uns kann auf Holzwegen unterwegs sein. Ein ehrlicher Moment mit sich und Gott ist ein Moment der Demaskierung und auch der Befreiung. Man muss eben kein Theater spielen, um jemand zu sein.

4. Finde einen Mentor!

Nicht jeder hat ein positives Vaterbild. Aber jeder hat hoffentlich schon mal die Erfahrung gemacht, wie befreiend es ist, einem Menschen zu begegnen, der wirklich an einen glaubt. Ich erinnere mich an ein einschneidendes Erlebnis in meiner Jugend: Mein Fußballtrainer war ein Choleriker. Mein Co-Trainer war das Gegenteil: leise, besonnen, ermutigend und motivierend. Wenn mein Trainer mich anschrie, um mich zu besseren Leistungen zu peitschen, gelang mir erst recht nichts. Wenn mich mein Co-Trainer nach dem Training oder Spiel ansprach, meine gelungenen Spielaktionen unterstrich und mir Verbesserungsvorschläge mitgab, entfesselte mich das regelrecht. Mein Spiel und mein Talent kamen wesentlich besser zum Tragen und verhalfen mir zu einer stabilen Entwicklung.

Das meine ich mit einem väterlichen Mentor: Ein Mann, zu dem ich aufsehen kann, weil er mich respektiert und an mich glaubt. Der weiß, was ich zu lernen habe und wo ich mich noch entwickeln muss, der aber dabei nicht übersieht, wer ich schon bin und was ich schon kann. Nach solch einem väterlichen Mentor halte Ausschau, weil es dein Weg zum Mannsein stärkt. Randnotiz: Halte es für möglich, dass auch du ein Mentor für andere sein kannst!

5. Investiere in förderliche Freundschaften!

Bekannte hat man viele, aber Freunde nur wenige. Echte Freunde erkennst du daran, dass sie zur Familie werden. Sie sind da, wenn du sie brauchst – wie ein Bruder, der mit dir durch Freud und Leid geht. Ihre Liebe ist unverfälscht und selbstlos und immer ist Verlass auf sie. Wenn alles zusammenbricht, bleiben sie stabil. Klingt das zu schön, um wahr zu sein? In Sprüche 17,17 heißt es: „Auf einen Freund kann man sich immer verlassen, und ein Bruder ist dazu da, dass man einen Helfer in der Not hat.“

Es gehört zu meinen wertvollsten Schätzen, dass ich solche Männer in meinem Leben haben darf. Aber diese Art der Bruderschaft bedarf der Investition. Es braucht Zeit, Engagement, Willen und Aufrichtigkeit. Jeder von uns begegnet im Leben Männern, mit denen eine solche Freundschaft möglich ist. Ich kann dir versichern, dass es sich lohnt, darein zu investieren. Nicht nur, weil es eine Stütze ist, sondern auch weil diese brüderlichen Freunde schonungslos ehrlich mit dir sind. Sie sprechen unbequeme Wahrheiten aus. Freunde können streiten und diskutieren, ohne abzuwerten. Sie hinterfragen und ermutigen dazu, festgefahrene Meinungen nochmal zu überdenken. Und sie halten dich, wenn du weinst oder am Ende bist. Sie gehen nicht, selbst wenn alle anderen gehen. Investition in so eine freundschaftliche Bruderschaft fördert das eigene Mannsein.

6. Sei du selbst!

Du hast allen Grund, du selbst zu sein. Kopieren ist nicht nötig!

Moor Jovanovski ist Pastor, Redner und Berater.

Sie will ein Junge sein

„Meine Tochter (10) zieht sich an wie ein Junge – breite Shirts und Hosen, Sneaker, Cap – und hängt kaum noch mit Mädchen rum. Jetzt will sie sich auch noch ihre langen Haare abschneiden lassen. Ich frage mich manchmal, ob sie kein Mädchen mehr sein will, und mache mir Sorgen. Ob ich es mal ansprechen soll?“

Ein offenes und wertschätzendes Gespräch ist immer eine sehr gute Idee! Hier würde ich Sie ermutigen, den Gedanken und Beweggründen des Verhaltens Ihrer Tochter mit viel Neugier und aufgeschlossenem Interesse zu begegnen und diese nicht zu problematisieren.

Stereotype hinterfragen

Bei Themen wie der Geschlechteridentität besteht für uns Erwachsene die große Chance, unsere eigenen Positionen und Werte immer wieder neu zu überprüfen. Wer entscheidet darüber, welche Kleidergröße oder Haarlänge weiblich oder männlich ist? Letztlich sind dies gesellschaftlich gewachsene Stereotype, die einer freiheitlichen, selbstbestimmten Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eher im Wege stehen, als diese zu fördern. Wir haben die Chance, uns zu fragen, ob es mehr unser persönlicher Wunsch ist, dass unser Kind sich in bestimmter Weise kleidet und warum das so wichtig für uns ist. Dass ein Kind oder Teenager sich nach eigener Vorstellung „gestalten“ möchte, losgelöst von den Stereotypen oder gesellschaftlichen Konventionen, kann zunächst einmal auch als Ausdruck einer selbstbewussten Haltung verstanden werden. Dabei unterstützen wir unsere Kinder dann weitergehend, indem wir uns ganz aufgeschlossen für ihre Gedanken und Ideen interessieren, ohne diese zu bewerten.

Hierbei sollten wir selbstverständlich trotzdem weiterhin wachsam für Sorgen oder mögliche Probleme der Kinder bleiben. Auch solche können Ihre Tochter zu ihren aktuellen Veränderungen veranlassen. Vielleicht treiben sie Fragen in Bezug auf die Entwicklung ihrer Weiblichkeit oder damit verbundene Sorgen um? Sie befindet sich in einem Alter, in dem auch auf der biologischen Ebene viele Veränderungen stattfinden – einige Mädchen bekommen in diesem Alter das erste Mal ihre Periode, was sehr kontroverse Gefühle auslösen kann. Ebenso gut kann es sich um ungelöste Streitigkeiten zwischen Freundinnen oder schlicht Neugier für die Interessen des männlichen Geschlechts handeln. Der Vielzahl an möglichen Anliegen sind hier keine Grenzen gesetzt.

Wichtige Ansprechpartnerin

Wichtig ist bei all diesen Belangen, in einem vertrauensvollen Kontakt zu Ihrer Tochter zu stehen. Als Mutter sind Sie für Ihre Tochter erst einmal das gleichgeschlechtliche Vorbild und somit eine wichtige Ansprechpartnerin in Bezug auf Fragen zur weiblichen Entwicklung. Wenn Sie das Gefühl haben, dass es Ihrer Tochter schwerfällt, mit Ihnen direkt über dieses Thema oder ihre Sorgen zu reden und sie dennoch eine erwachsene Ansprechperson braucht, überlegen Sie, welche vertrauensvollen Alternativen es gibt. Fragen Sie beispielsweise eine gute Freundin der Familie oder eine wichtige andere weibliche Bezugsperson Ihrer Tochter, ob diese ihr in einem passenden Moment ein Gespräch oder Unterstützung anbieten kann.

Mara Pelt ist Psychologin M.Sc., systemische Beraterin und Familientherapeutin, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin i.A. und lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Mutter fragt sich: „Will meine Tochter ein Junge sein?“ – Das rät die Expertin

Breite Hosen, Jungen-Clique und kurze Haare: Wenn sich Mädchen plötzlich wie Jungen verhalten, muss das kein Problem sein, sagt Psychologin Mara Pelt.

„Meine Tochter (10) zieht sich an wie ein Junge – breite Shirts und Hosen, Sneaker, Cap – und hängt kaum noch mit Mädchen rum. Jetzt will sie sich auch noch ihre langen Haare abschneiden lassen. Ich frage mich manchmal, ob sie kein Mädchen mehr sein will, und mache mir Sorgen. Ob ich es mal ansprechen soll?“

Ein offenes und wertschätzendes Gespräch ist immer eine sehr gute Idee! Hier würde ich Sie ermutigen, den Gedanken und Beweggründen des Verhaltens Ihrer Tochter mit viel Neugier und aufgeschlossenem Interesse zu begegnen und diese nicht zu problematisieren.

Stereotype hinterfragen

Bei Themen wie der Geschlechteridentität besteht für uns Erwachsene die große Chance, unsere eigenen Positionen und Werte immer wieder neu zu überprüfen. Wer entscheidet darüber, welche Kleidergröße oder Haarlänge weiblich oder männlich ist? Letztlich sind dies gesellschaftlich gewachsene Stereotype, die einer freiheitlichen, selbstbestimmten Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eher im Wege stehen, als diese zu fördern. Wir haben die Chance, uns zu fragen, ob es mehr unser persönlicher Wunsch ist, dass unser Kind sich in bestimmter Weise kleidet und warum das so wichtig für uns ist. Dass ein Kind oder Teenager sich nach eigener Vorstellung „gestalten“ möchte, losgelöst von den Stereotypen oder gesellschaftlichen Konventionen, kann zunächst einmal auch als Ausdruck einer selbstbewussten Haltung verstanden werden. Dabei unterstützen wir unsere Kinder dann weitergehend, indem wir uns ganz aufgeschlossen für ihre Gedanken und Ideen interessieren, ohne diese zu bewerten.

Hierbei sollten wir selbstverständlich trotzdem weiterhin wachsam für Sorgen oder mögliche Probleme der Kinder bleiben. Auch solche können Ihre Tochter zu ihren aktuellen Veränderungen veranlassen. Vielleicht treiben sie Fragen in Bezug auf die Entwicklung ihrer Weiblichkeit oder damit verbundene Sorgen um? Sie befindet sich in einem Alter, in dem auch auf der biologischen Ebene viele Veränderungen stattfinden – einige Mädchen bekommen in diesem Alter das erste Mal ihre Periode, was sehr kontroverse Gefühle auslösen kann. Ebenso gut kann es sich um ungelöste Streitigkeiten zwischen Freundinnen oder schlicht Neugier für die Interessen des männlichen Geschlechts handeln. Der Vielzahl an möglichen Anliegen sind hier keine Grenzen gesetzt.

Sie sind eine wichtige Ansprechpartnerin!

Wichtig ist bei all diesen Belangen, in einem vertrauensvollen Kontakt zu Ihrer Tochter zu stehen. Als Mutter sind Sie für Ihre Tochter erst einmal das gleichgeschlechtliche Vorbild und somit eine wichtige Ansprechpartnerin in Bezug auf Fragen zur weiblichen Entwicklung. Wenn Sie das Gefühl haben, dass es Ihrer Tochter schwerfällt, mit Ihnen direkt über dieses Thema oder ihre Sorgen zu reden und sie dennoch eine erwachsene Ansprechperson braucht, überlegen Sie, welche vertrauensvollen Alternativen es gibt. Fragen Sie beispielsweise eine gute Freundin der Familie oder eine wichtige andere weibliche Bezugsperson Ihrer Tochter, ob diese ihr in einem passenden Moment ein Gespräch oder Unterstützung anbieten kann.

Mara Pelt ist Psychologin M.Sc., systemische Beraterin und Familientherapeutin, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin i.A. und lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Eine starke Identität als Paar kann vieles überbrücken

Professor Dominik Schöbi von der Universität Fribourg erforscht multikulturelle Partnerschaften. Im Interview erzählt er, was in interkulturellen Ehen besonders wichtig ist.

Herr Professor Schöbi, was macht multikulturelle Partnerschaften so besonders?
Die ‚typische‘ multikulturelle Partnerschaft gibt es nicht. Beziehungen unterscheiden sich stark darin, wie sie funktionieren und welche Hintergründe beide Partner mitbringen. Gemeinsam haben sie allerdings, dass es eine größere Vielfalt an Ideen gibt, an Möglichkeiten, sich im Alltag zurechtzufinden, und an Regeln, die man befolgen könnte.

Was sind typische Schwierigkeiten für Partner aus unterschiedlichen Kulturen?
Multikulturelle Partner haben keine grundsätzlich anderen Konflikte. Es gibt aber einige neuralgische Punkte, die sich herauskristallisieren und Schwierigkeiten machen können: Regeln und Normen sind sehr unterschiedlich. Sie führen dazu, dass beide Partner verschiedene Erwartungen und Routinen mitbringen, die einen großen Einfluss auf den Alltag haben. Unsere Gewohnheiten sind oft nicht gut reflektiert, was häufiger zu Missverständnissen und Erwartungen führt, die enttäuscht werden. Die Partner stehen vor einer größeren Herausforderung, wenn sie eigene Wege finden müssen. Beide müssen überlegen: ‚Wie wollen wir das handhaben? Wie schauen wir das an? Für was entscheiden wir uns? Welche Kompromisse wählen wir?‘ Sie müssen Lösungen für Alltagsprobleme finden, bei denen eine klassische Partnerschaft die Routine ablaufen lässt.

Die Kommunikation ist sicherlich bei allen Ehen ein Thema, besonders aber in multikulturellen Partnerschaften.
Sprache spielt eine große Rolle. Paare müssen für sich herausfinden, ob jeder in der eigenen Sprache sprechen kann oder ob eine Drittsprache zur gemeinsamen Sprache wird. Wenn es mehrere Sprachen gibt, ist auch wichtig, ob ich verstehe, wenn mein Partner mit Freunden und Verwandten spricht. Hier können leicht Distanzen entstehen, die in anderen Partnerschaften nicht da sind. Dazu kommt: Viele Paare kommen aufgrund von Migrationsbewegungen zusammen. Migranten haben im Durchschnitt einen niedrigeren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Status und Bildungsstandard. So kann ein Ungleichgewicht im Paar entstehen, wenn ein Partner weniger gut gestellt ist. Wenn beide es sind, dann muss das Paar mehr Alltagsstress mit weniger Möglichkeiten und Ressourcen bewältigen.

Was raten Sie multikulturellen Paaren, um Konflikte zu verhindern oder zu lösen?
Entscheidend ist, wie die Partner interagieren, kommunizieren und Probleme lösen. Beide Seiten brauchen eine hohe Bereitschaft, mit Stress-Situationen umzugehen, sich selbst zurückzunehmen und die Perspektive vom Partner einzunehmen. Es ist sehr hilfreich, wenn beide sich immer wieder bewusst machen, dass es unterschiedliche Perspektiven und Ansichten gibt. In Situationen, wo die eigenen Erwartungen nicht eintreffen, sollte man sich automatisch fragen: Wie sieht das mein Partner? Was ist die Perspektive aus einem anderen kulturellen Blickwinkel?

Das heißt, man muss sich vom Schwarz-Weiß-Denken lösen?
Statt in Alternativen zu denken – es geht nur so oder so –, sollte man im Austausch feststellen: Hier haben wir eine Herausforderung und müssen jetzt eine machbare Lösung finden, die für uns beide stimmt und alle grundlegenden Bedürfnisse berücksichtigt. Vielleicht finden wir keine perfekte Lösung und müssen Menschen enttäuschen, aber hoffentlich finden wir eine, mit der wir gut leben können. Konkret bedeutet das, Regeln, Normen und Routinen zu finden, die für beide Partner passen – und Wege zu finden, wie man mit Misserfolgen umgehen kann. Paare müssen bewusst gemeinsam viele Erfahrungen machen, gemeinsame Projekte angehen und Ziele setzen, die sie realisieren wollen. Damit baut sich ein Paar eine gemeinsame Geschichte und einen Erfahrungsschatz auf, der zusammenschweißt. Eine starke Paar-Identität kann vieles überbrücken. Sie gibt Rückhalt, wenn man schwierige Situationen navigieren muss, wenn sich die Erwartungen der Familie von denen des Partners stark unterscheiden.

Was ist spannend und bereichernd in multikulturellen Beziehungen?
Sie sind eine Möglichkeit zu wachsen. Man erlebt viel Eindrückliches für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und macht wertvolle Erfahrungen. In interkulturellen Partnerschaften ist die Überlappung kleiner und das Andersartige größer. Indem sich die Partner kennenlernen und die andere Kultur in ihr eigenes Leben integrieren, gewinnen sie im Denken und Handeln. Man wird flexibler, kann Dinge besser aus unterschiedlichen Perspektiven sehen und vieles relativiert sich, weil man einen anderen Ansatz dazu erwirbt. Das ist eine Bereicherung für die Partnerschaft und eine persönliche Horizonterweiterung.

Können Menschen aus ihrem Glauben, ihrer Spiritualität für eine multikulturelle Partnerschaft Stärke beziehen?
Die persönliche Spiritualität und der gemeinschaftliche Aspekt sind eine Ressource, die Paaren Halt geben und ihnen erlauben kann, Herausforderungen und Krisen besser zu meistern. Wir vermuten, dass der religiöse Rückhalt dabei hilft, das Ego in den Hintergrund zu stellen, den Fokus vom Konflikt wegzunehmen und stattdessen nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Dies klappt, wenn beide Partner die Spiritualität und religiöse Gemeinschaft teilen – oder wenn Toleranz gegenüber der Spiritualität des anderen gelebt wird. Wenn allerdings die Spiritualität inflexibel macht und die Offenheit einschränkt, dann kann sie Probleme schaffen, die man sonst nicht hätte.

Warum beschäftigen Sie sich mit multikulturellen Partnerschaften?
Das Phänomen der multikulturellen Partnerschaft ist enorm wichtig und stellt eine große Chance für die Weiterentwicklung der Kulturen dar. Oft gehen wir davon aus, dass Kulturen feste Systeme sind. Das stimmt aber nicht, denn Kulturen verändern sich fortlaufend. Multikulturelle Paare sind genau die Schnittstellen, wo sich Kulturen bewegen. Sie haben eine Brückenfunktion und bereichern die Kulturen, aus denen sie kommen und die sie vereinen.

Das Interview führte Ulrike Légé.