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Depression, Angststörung und Co.: Wohin kann ich gehen? Diese Adressen helfen konkret

Psychische Erkrankungen sind kein Sonderfall. Wenn die Belastung zu groß wird, gibt es viele Hilfen – sogar ohne lange Warteliste!

Wenn das Knie schmerz oder der Kopf brummt, wissen wir genau, an wen wir uns wenden müssen. Und zumindest beim Hausarzt müssen wir nicht lange auf einen Termin warten. Doch wenn die Psyche belastet ist, sieht das oft ganz anders aus.

Es ist längst kein Tabu mehr, eine Psychotherapie zu machen. Prominente reden offen darüber, es wird immer bekannter, dass niemand „verrückt“ ist, der eine Therapie braucht oder wünscht. Immerhin sind laut Aussagen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) jedes Jahr 27,8 Prozent der Menschen in Deutschland von einer psychischen Erkrankung betroffen und etwa die Hälfte aller Menschen erlebt im Laufe seines Lebens zumindest einmal eine Depression, Angststörung oder andere psychische Erkrankung. Somit zählen seelische Belastungen nicht zur Ausnahme, sondern sind ein normaler, häufiger Bestandteil des menschlichen Lebens.

Lebensberatungsstelle hilft gegen Wartezeiten

Und doch gibt es noch immer viel zu wenige Therapieplätze, weil zu wenige Kassensitze zur Abrechnung freigegeben werden. Deshalb sind die Wartezeiten oft lang, sie betragen laut Bundespsychotherapeutenkammer durchschnittlich vier bis fünf Monate. Zur Überbrückung sind häufig Termine in einer Lebensberatungsstelle oder, für Kinder und Jugendliche, in einer Erziehungsberatungsstelle hilfreich. Dort arbeiten ausgebildete psychosoziale Fachkräfte, die zwar noch keine Therapie anbieten können, aber stabilisierende und klärende Beratung im Angebot haben. Kostenlose Anlaufstellen in der Region (z. B. von der Diakonie, Caritas und AWO) sind beispielsweise über den Online-Beratungsführer dajeb.de zu finden.

Beratungsstellen sind generell die richtige Adresse, wenn es nicht unbedingt um eine psychische Störung (oder nur mit leichten Symptomen), sondern eher um die Klärung schwieriger Lebensfragen und -situationen geht. Hier kann auch eine Seelsorge gute Dienste leisten. Seelsorge ist eine geistliche Beratungsform, bei der neben bekannten Beratungstechniken zusätzlich Aspekte des Glaubens einbezogen werden. Die Beziehung zu Gott kann in den Prozess integriert werden, auch das Gebet kann zu einem seelsorgerlichen Gespräch dazugehören. In vielen Kirchengemeinden gibt es Seelsorgeangebote, zudem lassen sich Adressen in Verzeichnissen wie cstab.de oder acc-deutschland.org finden.

Bei Krankheit hilft Psychotherapie

Wenn hingegen die Belastung Krankheitswert bekommt, ist auf Dauer Psychotherapie zu bevorzugen. Krankheitswert bedeutet, dass die Symptome (z. B. Ängste, starke Niedergeschlagenheit, ausgeprägte Antriebslosigkeit) so stark sind, dass sie die Funktionsfähigkeit im Alltag deutlich einschränken oder drohen, dies bald zu tun.

Psychotherapeutinnen und -therapeuten sind unter therapie.de oder über die Psychotherapeutenkammer des Bundeslandes (z. B. „Psychotherapeutensuche Psychotherapeutenkammer NRW“ in eine Suchmaschine eingeben) zu finden. Hilfreich sind auch die sogenannten Terminservicestellen der Bundesländer. Dort können Betroffene sich melden und bekommen dann einen ersten Kontakt zu einer therapeutischen Praxis vermittelt. In den sogenannten Sprechstunden können sie überprüfen, ob die „Chemie“ zum Therapeuten stimmt – wenn nicht, dürfen sie selbstverständlich wechseln. Klientinnen und Klienten sollten hier nicht zögern – wie bei körperlichen Symptomen dürfen sie erst einige Ärzte „testen“, bis sie den richtigen gefunden haben.

Versichertenkarte reicht

Psychiaterinnen und Psychiater sind übrigens Ärztinnen und Ärzte, die auf die Behandlung psychischer Erkrankungen spezialisiert sind. Sie bieten jedoch keine ausführliche Therapie an, sondern meistens nur gelegentliche Gespräche und Medikation. Dies kann anfangs oder zur Überbrückung sinnvoll sein, ersetzt jedoch keine gründliche Therapie.

Übrigens, ein häufiger Irrtum: Für den Besuch bei einem Psychotherapeuten braucht man keine Überweisung – die Versichertenkarte reicht völlig aus.

Bei besonders schweren psychischen Belastungen kann es sein, dass eine ambulante Behandlung, beispielsweise einmal pro Woche, nicht ausreicht. Dann kann eine Behandlung in einer psychiatrischen Klinik sinnvoll sein. Auch das kann in einer ambulanten Therapie geplant werden.

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin (neuewege.me).

Hochsensibilität bei Kindern: Wie Eltern es herausfinden und was sie beachten müssen

Hochsensible Kinder nehmen Eindrücke intensiver wahr. Dadurch sind sie schneller gestresst oder ängstlicher. Melanie Vita erklärt, was Eltern und Kinder entlastet.

Wenn Kinder sich anders entwickeln, als ihre Eltern das erwartet haben, kann es zu Enttäuschungen kommen. Ein mögliches Szenario: Jan hat beobachtet, dass sein Sohn Tim irgendwie anders ist. „Ich hatte mir ausgemalt, was ich alles mit meinem Sohn unternehmen werde: Abenteuer erleben, Fußball spielen, raufen … Und dann stelle ich fest, dass all dies gar nicht dem Naturell meines Kindes entspricht, dass mein Kind vorsichtig, wenig spontan, feinfühlig ist. Da gerät die Welt ins Wanken.“

Eine andere mögliche Variante: Marie, Mutter von Lea, wird immer wieder auf ihren Erziehungsstil angesprochen. „Dein Kind traut sich nicht allein zum Bäcker? Das müsste in dem Alter aber längst drin sein. Du bist viel zu nachlässig.“ − „Was treibt dein Kind beim Essen für Spielchen mit dir? Was auf den Tisch kommt, wird gegessen! Du lässt Lea alles durchgehen. Würde sie bei mir groß werden, wäre sie längst nicht so ängstlich.“

Hochsensibilität kann eine Erklärung sein

Was Jan und Marie beschäftigt, ist die Andersartigkeit ihrer Kinder. Entspricht der Nachwuchs nicht der Norm, machen sich Eltern verständlicherweise Gedanken: Was steckt hinter dem Verhalten meines Kindes? Habe ich Fehler gemacht? Wie kann ich mein Kind seinen Gaben entsprechend fördern und dafür sorgen, dass es stark und selbstsicher wird?

Auf der Suche nach Antworten stoßen etliche Eltern auf das Thema Hochsensibilität. In vielen Fällen machen die Reaktionen der Kinder plötzlich Sinn. Schnell wird klar, dass bestimmte Verhaltensweisen weder aufgrund eines Erziehungsfehlers noch aufgrund von Marotten des Kindes auftauchen, sondern ihre Ursache in der besonderen Wahrnehmungsverarbeitung zu suchen ist.

Was ist Hochsensibilität?

Laut E. Aron ist die Hochsensibilität ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Hochsensible Kinder haben von Geburt an ein empfindsameres Nervensystem. Sie nehmen Sinneseindrücke viel intensiver wahr als andere. Kaum etwas prallt an ihnen ab. Was sie beobachten, spüren und wahrnehmen, wollen sie verarbeiten, durchdenken, verstehen. Sie nehmen viel mehr Details auf als andere Kinder und denken intensiver über alles nach. Verständlich, dass ihnen schnell alles zu viel wird. Die Menge an Eindrücken – Stimmungen von Mitmenschen, Geräusche, Gerüche… – sorgt dafür, dass die Kinder viel Zeit brauchen, um Geschehnisse zu verarbeiten.

Strömen zu viele Eindrücke auf diese Kinder ein, kann es zu einer Reizüberflutung kommen. Sie fühlen sich erschöpft, geraten unter Stress, möchten sich von der Außenwelt abschirmen oder sind gereizt. Sie beginnen zu weinen oder signalisieren durch Wutausbrüche, dass ihnen alles zu viel ist. Auch Schlafprobleme, Kopf- und Bauchschmerzen können Warnsignale für eine Überreizung sein. Neuen Situationen stehen hochsensible Kinder vorsichtig und beobachtend gegenüber. Sie durchdenken alle Risiken. Erst wenn sie sich sicher fühlen, werden sie aktiv und handeln.

Wie erkenne ich Hochsensibilität?

E. Aron benennt vier wesentliche Merkmale, die in ihrer Gesamtheit bei hochsensiblen Kindern zu finden sind. Anhand von Lea und Tim lassen sich die Eigenschaften gut erläutern:

Verarbeitungstiefe
Lea und Tim haben eine sehr hohe Beobachtungsgabe. Während sie manches Mal passiv oder träumend wirken, arbeitet ihr Gehirn auf Hochtouren, um viele Details aufzunehmen. Sie sind wissbegierig und haben eine schnelle Auffassungsgabe. Schwer fallen ihnen hingegen spontane Aktionen oder Situationswechsel. Für Antworten, Entscheidungen und Anweisungen benötigen sie viel Zeit, weil sie ihre Aufgaben korrekt machen wollen.

Überreizung
Lea und Tim durchleben den Alltag sehr intensiv, haben ihre Antennen durchgängig auf Empfang, sind mit all ihren Sinnen präsent. Dies führt schnell zu einer Überreizung. Wie sich diese zeigt, ist unterschiedlich. Lea zieht sich eher zurück und wird weinerlich. Tim lädt seine Gefühle bei seinen Mitmenschen ab, geht also mit seinem Stress nach außen. Beide benötigen mehr Rückzugs- und Ruhephasen als andere Kinder, um im Gleichgewicht zu bleiben.

Emotionale Intensität
Lea zeigt ihre Gefühle nur sehr spärlich. Konflikte und Missverständnisse machen sie betroffen. Streiten andere Kinder, fühlt sie mit und gerät selbst unter Stress. Deswegen ist Lea Harmonie sehr wichtig. Dafür würde sie auch ein Nein zur Abgrenzung lieber verschweigen. Tim zeigt seine Gefühle direkt. Er ist mitfühlend und hilfsbereit. Empfindet er Situationen aber als ungerecht, zeigen sich explosive Gefühle. Egal, welche Emotion er durchlebt, jede ist intensiv.

Sensorische Feinfühligkeit
Lea wirkt manchmal gestresst. Es sind dann Klagen zu hören wie „Der Pulli kratzt“ oder „Die Jeans ist viel zu sperrig“. Tim wiederum ist es im Klassenzimmer zu laut und auf dem Pausenhof zu viel Tumult. Was sich anhört wie eine Marotte, ist in Wirklichkeit neurologisch erklärbar. Hochsensible Kinder nehmen Sinneswahrnehmungen wie durch einen Verstärker wahr, wodurch Stress ausgelöst werden kann.

Das Stop-and-go-System oder Ampelsystem
Zusätzlich zu den vier Hauptmerkmalen gibt es einen weiteren Hinweis, ob ein Kind hochsensibel ist. Wie bereits geschildert, kann es sein, dass Kinder in unbekannten, neuen Situationen nur beobachten oder für sich sein wollen. Diese Reaktion hat einen bedeutenden Sinn, den es zu verstehen gilt: Ein hochsensibles Kind hat ein ausgeprägtes Sicherheitssystem. Es sieht sich so lange vor einer roten Ampel, bis es weiß, was die Regeln und Erwartungen sind, und bis es sich verstanden fühlt. Erst wenn das Kind das Gefühl hat, dass es die Situation meistern kann, wird es aktiv: Die Ampel springt auf Grün.

Worauf sind Stärken und Herausforderungen?

Hochsensible Kinder haben viele wertvolle Fähigkeiten. Dazu gehören ein gutes Einfühlungsvermögen, ein starkes Gerechtigkeitsempfinden, Verlässlichkeit und Kreativität. Eigenschaften, die für eine Gruppe bereichernd sind. Durch die hohe sensorische Wahrnehmung zeigen sich oft musische oder künstlerische Begabungen. Um diese Stärken zu fördern, ist es wichtig, sie zu erkennen und ihnen Raum zu geben. Zeigen Kinder Fürsorge gegenüber Spielkameraden, trösten sie diese bei kleineren Unfällen oder sind sie im Spiel entgegenkommend, kann dies positiv bestärkt werden. Gleichzeitig haben auch die anderen Kinder dadurch die Chance, Toleranz und Rücksichtnahme zu lernen. Damit sich dieses Potenzial entfalten kann, ist es notwendig, den Kindern Ruhephasen zu ermöglichen und ihr Bedürfnis nach Rückzug ernst zu nehmen. Auf diese Weise können sie Geschehnisse und Informationen verarbeiten.

Hochsensible Kinder zeigen meist dann schwieriges Verhalten, wenn sie durch Stress und Hektik aus dem Gleichgewicht kommen. Neue Situationen und unvorhergesehene Aktivitäten lösen bei ihnen Stress aus. Werden Stresssignale wie Jammern, emotionale Ausbrüche, Boykottieren von Aktivitäten oder auch Trödeleien nicht als solche erkannt, kommt es zu Missdeutungen. Ein Ernstnehmen und Beachten des Energielevels der Kinder hilft, Stress zu minimieren.

Was können Eltern bei Hochsensibilität tun?

Ob ein Kind seine Hochsensibilität als Stärke oder Schwäche, Gabe oder Last empfindet, hängt sehr stark von seinen Erfahrungen ab. Grundsätzlich ist es wichtig, dem Kind Verständnis entgegenzubringen, es in seiner Eigenart anzunehmen und zu akzeptieren. Das Abwägen zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den gesellschaftlichen Anforderungen kann für Eltern sehr herausfordernd sein. Neue Situationen sollten mit hochsensiblen Kindern durch Gespräche, Rollenspiele etc. vorbereitet werden. Jedes Gespräch, jeder Hinweis und jede zusätzliche Information über das, was die Kinder erwartet, bedeutet für Hochsensible mehr Sicherheit und damit weniger Grund zur Angst. Je mehr Zeit in die Vorbereitung einer neuen Situation investiert wird, umso gelassener kann das Kind auf die unbekannte Situation zugehen.

Da hochsensible Kinder schnell überfordert, gestresst und reizüberflutet sind, benötigen sie kontinuierlich Ruhephasen und Rückzugsmöglichkeiten. Dies heißt unter Umständen, Freizeitaktivitäten zu reduzieren und aktivitätsfreie Zeiten einzuplanen. Auch Familienrituale und ein strukturierter Alltag sind förderlich. Hochsensible Kinder sind selbstkritisch, haben hohe Ansprüche an sich und sind damit beschäftigt, es allen recht zu machen. Umso wichtiger ist es, dass Eltern Milde walten lassen, wenn Fehler gemacht werden oder die Kinder es nicht schaffen, über ihren Schatten zu springen. Damit erfahren hochsensible Kinder eine Entlastung und lernen, dass sie geliebt und angenommen sind.

Nicht auf Hochsensibilität reduzieren!

Das Wissen um die Hochsensibilität des eigenen Kindes ermöglicht es, Verhaltensweisen besser beurteilen zu können. Gleichzeitig ist es wichtig, das Kind nicht ausschließlich auf die Hochsensibilität zu reduzieren, sondern den vielen weiteren Facetten der Persönlichkeit Raum zu geben. Ein Kind ist nicht nur zurückhaltend, sondern vielleicht auch interessiert, mutig, anpackend. Diese Ressourcen gilt es zu ergreifen und das Kind auf diese Weise in der Entwicklung zu unterstützen. In kurzen Worten gesagt: annehmen, was ist, aber auch Wachstum ermöglichen. Raus aus dem „Die ist halt so“ hin zu „Da geht noch was“.

Melanie Vita ist Diplomsozialpädagogin, Lerntherapeutin und Buchautorin. Sie berät hochsensible Kinder, Jugendliche, Eltern und Erwachsene in ihrer Privatpraxis „Hochsensibel leben“. hochsensibel-leben.de

„Sie reißt sich die Haare aus“

„Unsere Tochter (3) rupft sich, schon seit sie ein Jahr alt ist, die Haare. Wir haben gehofft, dass es mit der Zeit verschwindet, und ihr immer wieder die Haare geschnitten, aber es hilft nichts. Wir sind verzweifelt. Was können wir tun?“

Ihre Verzweiflung und Sorgen um Ihre Tochter sind sehr verständlich – gut, dass Sie sich hierbei nun Rat und Unterstützung holen! Das Verhalten zeigt sich bereits eine Weile und deutet auf ein gefestigtes Muster hin, das sich trotz Ihrer Bemühungen nicht auflöst.

Was ist Trichotillomanie?

Möglicherweise handelt es sich um Trichotillomanie, das zwanghafte Ausreißen von Haaren. Es kann sich bei Erwachsenen und auch bereits im Kindesalter entwickeln und chronifizieren. Betroffene können dem Impuls des Haarereißens nicht widerstehen. Häufig besteht ein Zusammenhang mit Anspannung und innerer Unruhe. Dem Haarereißen folgt ein Gefühl von Spannungsabbau. Es wird als lustvoll und entspannend erlebt und führt zu kurzfristiger Beruhigung, bis es bei erneuter Anspannung zu einem wiederholten Impuls kommt.

Stress kann eine Ursache sein

Bei Babys und Kleinkindern ist das Motiv für ihr Verhalten schwerer zu ergründen, da wir sie nicht fragen können. Was vielleicht anfangs als beruhigende Geste (wie Daumenlutschen) begann, kann sich zu einer festen Strategie entwickelt haben, die allein nur schwer zu durchbrechen ist. Vielleicht hilft sie unbewusst im Umgang mit besonderen Herausforderungen (Stress, Veränderungen, Konflikte). Sie kann für den Moment zwar ihren individuellen Zweck erfüllen, jedoch langfristig zu einem erheblichen Leidensdruck führen.

Wir Erwachsenen werden dadurch für diese Herausforderungen sensibilisiert, und es bietet sich die Chance, darauf zu reagieren. Wertvoll kann dann die Überlegung sein: Was könnte mein Kind mir sagen wollen? Spürt es etwas und bringt es zum Ausdruck, was ich noch nicht bemerkt habe? Diese Fragen sind manchmal unangenehm bis schmerzhaft, sollten uns aber nicht vergessen lassen: Konflikte oder Probleme finden immer ihre Wege. Es hilft, bewusst mit ihnen umzugehen und ihre Wege mitzugestalten.

Die gesamte Familie im Blick behalten

In Ihrem Fall bedarf es einer sorgfältigen medizinischen und psychologischen Abklärung durch Spezialisten für das jeweilige Kindesalter. Wenden Sie sich offen an Ihren Kinderarzt hinsichtlich kindertherapeutischer Unterstützung. Tauschen Sie sich mit anderen Eltern bezüglich Ihrer Sorgen aus. Diese haben eventuell ähnliche Erfahrungen und können Empfehlungen aussprechen.

Beobachten Sie wertschätzend, was die Situation mit Ihnen selbst macht und was Sie daraus lernen können. Richten Sie den Fokus auch auf das Familiensystem und die aktuelle Lebenssituation: Gibt es Zusammenhänge mit anderen Familienmitgliedern? Gab es in der Familienhistorie schon eine ähnliche Thematik? Wie hoch ist das Stresslevel in der Familie? Sind ausreichende Entspannungszeiten für alle Mitglieder vorhanden? Und wichtig, neben der Unterstützung von außen: Vertrauen Sie bei all den Herausforderungen in Ihre Kompetenz als Eltern für Ihre Tochter, auf Ihr Gespür für die Zeichen und Bedürfnisse Ihres Kindes!

Mara Pelt ist Psychologin M.Sc., Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin i.A., Systemische Beraterin und Familientherapeutin und lebt mit ihrer Familie in Hamburg. 

Wie bedeutend ist der Marshmallow-Test?

Ist Selbstkontrolle für die Entwicklung von Kindern wirklich so wichtig? Ein Gastkommentar von Peter Schulze:

Der Psychologe Walter Mischel und sein Team boten in den 60er Jahren Kindern im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments Süßigkeiten an und stellten sie dabei vor die Wahl, diese entweder sofort zu essen oder darauf zu verzichten und später eine zweite Süßigkeit zusätzlich als Belohnung zu erhalten. Im Ergebnis warteten einige Kinder mit der Aussicht auf die Belohnung, während andere die Süßigkeit sofort aßen. Interpretiert und veröffentlicht wurden die Ergebnisse mit Blick auf die Fähigkeit, etwas aufschieben zu können und Selbstkontrolle zu üben und dadurch eher langfristige als kurzfristige Ziele zu erreichen. Später wurden diese Kinder nochmals eingeladen, und es stellte sich heraus, dass diejenigen, denen im Experiment die Selbstkontrolle gelungen war, zielstrebiger und erfolgreicher in Schule und Ausbildung waren.

Diese scheinbaren kausalen Zusammenhänge hatten nach der Veröffentlichung Einfluss auf weitere wissenschaftliche Untersuchungen sowie auf pädagogisches Denken und Handeln. Die Bedeutung der Selbstkontrolle hat inzwischen längst in Erziehungsratgebern Einzug gehalten, wird von dem Neurowissenschaftler Joachim Bauer sogar als „eines der bedeutendsten Ziele, zu denen Kinder und Jugendliche hingeführt werden sollten“ bezeichnet. Walter Mischel selbst veröffentlichte 2014 das Buch „The Marshmallow Test: Why Self-Control Is the Engine of Success“, das 2015 unter dem Titel „Der Marshmallow-Test: Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit“ auf Deutsch erschien.

Im Mai dieses Jahres veröffentlichte der amerikanische Psychologe Tyler Watts mit seinem Team einen Artikel, in dem die Ergebnisse des Marshmallow-Tests in Frage gestellt werden. Anhand einer Studie mit über 600 Teilnehmern zeigen sie auf, dass der Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle im Kindesalter und späterem Erfolg maßgeblich von den sozialen Hintergründen der Eltern und weniger als vermutet von der Fähigkeit zur Selbstkontrolle bestimmt ist. Mischel und sein Team hatten in ihren Untersuchungen verhältnismäßig kleine Stichproben gewählt, die diese Zusammenhänge nicht repräsentativ erfassen konnten.

Von den nun neuen Ergebnissen berichten zahlreiche Nachrichtenmedien schnell mit Überschriften wie „Ist der Marshmallow-Test sinnlos?“ (Süddeutsche Zeitung) oder „Warum der bekannte Marshmallow-Test einem großen Fehler unterliegt. Selbstkontrolle entscheidet bei Kindern nicht über Erfolg“ (news.at) und verunsichern sofort wieder Eltern und Pädagogen.

Als Christ kann man solchen Erkenntnissen und neuen Fragestellungen mit all ihren Unsicherheiten vielleicht entspannter begegnen. So steht doch schon im 1. Brief an die Korinther im 13. Kapitel: „Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. […] Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. […] Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Die Liebe ist es also, die maßgeblichen Einfluss auf unser Denken und Handeln hat. Wenn wir aus dieser Liebe unsere Kinder erziehen, stehen die Chancen gut, dass sich Begabungen und Fähigkeiten entfalten und dass sie ihren eigenen Weg im Leben finden und gehen werden. Natürlich dürfen und sollen wir in unserem Handeln auf dieses Stückwerk unseres Wissens zurückgreifen und somit auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse, aber wir müssen uns stets bewusst sein, dass dieses Stückwerk wahrscheinlich immer wieder revidiert oder aktualisiert werden muss. Wenngleich auch Bibelübersetzungen immer wieder revidiert werden, so haben die Kernaussagen jedoch Bestand und überdauern die Zeit. Ihnen dürfen wir als Christen vertrauen, und so bleiben Glaube, Liebe und Hoffnung ein viel festeres Fundament als alle Erziehungsratgeber, auf das wir uns auch in Zukunft verlassen dürfen.

Peter Schulze ist Berufsschullehrer (Sozialpädagogik/ev. Religion) und arbeitet als abgeordnete Lehrkraft an der Fakultät Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden.