Ich gucke einfach nur Löcher in die Luft

Ein Plädoyer für die Langeweile. Von Nicole Schweiger

Auf unserer Terrasse gibt es einen besonderen Platz. Bunt gestreift und mit den Jahren von der Sonne ausgeblichen baumelt von einem Balken des Dachüberstands mein Hängesessel. Vor einigen Jahren hatte ich ihn mir zum Geburtstag gewünscht. Seitdem wird er von allen Familienmitgliedern, von großen und kleinen Gästen geliebt.

Was macht diesen Platz so besonders? Nun, es scheint, als könne man dort in eine andere Welt eintauchen. Eingekuschelt in den Stoff des Sessels schließe ich manchmal die Augen. Sanft schaukelnd lausche ich den Geräuschen um mich herum: Vögel zwitschern, Blätter rauschen, das Klangspiel klirrt im Wind. Manchmal kann man sogar die Frösche von den weiter entfernten Teichen hören. Ich fühle Wind und Sonne auf der Haut, spüre, wie mein Körper sanft hin und her geschaukelt wird. Der Alltag ist ganz weit weg. Ich bin einfach nur da. Manchmal träume ich mit offenen Augen, blicke in das Grün des Gartens und ganz oft zum Himmel hinauf. Sehe den vorbeiziehenden Wolken nach.

Kindheitserinnerungen werden wach: Auf der Wiese liegen mit einem Grashalm im Mund und Figuren in den Wolkenformationen erkennen. Besonders schön ist es auch bei Regen. Dank des Dachüberstands lausche ich geschützt und doch draußen, wie die Regentropfen herunterprasseln, sehe zu, wie die Bäume im Nachbargarten sich im Wind biegen und höre das Grollen des heranziehenden Gewitters. Herrlich! Ich genieße ohne Plan und Verpflichtungen einfach so mein Sein und Gottes Schöpfung für eine kurze oder lange Weile.

OASE IM ALLTAG

Langeweile. Warum ist dieses Wort eigentlich so negativ besetzt? Zu Unrecht, wie ich finde. Ich möchte an dieser Stelle ein Plädoyer für die Langeweile halten, für diese Oase im Alltag: Gönn dir Langeweile! Genieße sie, tanke auf! Und schaffe dir Raum und Zeit dafür. Vielleicht ist das schwierig im Moment mit Kleinkindern, Job und Verpflichtungen. Es muss ja nicht immer eine lange Weile sein. Vielleicht gibt es einen Ort, an den du dich für einen Moment zurückziehen kannst. Auch Rituale im Alltag können hilfreich sein, gerade wenn die Zeiten stressig sind und das Leben um dich tobt.
Längst ist bekannt, dass nicht mehr leistet, wer ständig arbeitet. Oft kommen uns die kreativsten Ideen und Lösungsansätze für Probleme, während wir endlich mal abschalten, nichts tun und unsere Gedanken schweifen lassen. Es gibt etliche Studien, die dieses Phänomen bestätigen. Langeweile – im richtigen Maß genossen – ist konstruktiv.

UNVERPLANTE ZEIT

Kinder sind in ihrer Entwicklung geradezu darauf angewiesen, Zeit zum Nichtstun zu haben. All die Fördermöglichkeiten, die wir unseren Sprösslingen zukommen lassen, sind gut gemeint. Sobald sie auf der Welt sind, wollen wir ihnen das Beste geben und ermöglichen. Und viele unterliegen dabei dem Trugschluss, sie täten das mit der Buchung von Musik-, Sport- und Kreativkursen. Was in einem gesunden Maß nichts Schlechtes ist. Kinder brauchen aber mindestens genauso viel Zeit, die sie unverplant mit sich selbst verbringen dürfen. Nur so, ohne Ablenkung, lernen sie, sich selbst wahrzunehmen und zu verstehen.

Kinder sind gute Lehrer für uns Erwachsene, wenn es darum geht, bewusst im Hier und Jetzt zu leben. Der kurze Weg zum Kindergarten dauert gefühlte Stunden. Es gibt überall interessante Dinge zu entdecken. Die ersten Kastanien sind vom Baum gefallen, aus der Erde schlängelt sich ein Regenwurm, auf der Baustelle steht jetzt ein Kran, die Luft riecht heute so anders. Wann immer es möglich ist, nimm dir die Zeit und staune mit deinem Kind über all das. Es wird dein Leben bereichern, und der Tag beginnt mit einem Lächeln.

Entschleunigung tut gut. In unserer Gesellschaft geht es häufig um Optimierung, Effizienz, Wachstum. In letzter Zeit fällt mir zunehmend eine Gegenbewegung auf. „Kindergartenfrei“ statt „Krippe“, „Sabbatical“ statt „Karriere“, „der eigene Garten“ statt „Fernreisen“. Die Generation um die dreißig scheint umzudenken – „Work-Life-Balance“ wird großgeschrieben. Ich bin nicht in allem ihrer Meinung (bin ja auch vierzig+), verfolge diese Entwicklung aber positiv gespannt. Zeit für Langeweile wird wieder attraktiver.

VON GOTT ÜBERRASCHT

Zurück in meinem Hängesessel. Ich genieße es, hier die Seele baumeln zu lassen. Manchmal gucke ich einfach nur Löcher in die Luft und gehe danach erholt und gestärkt wieder in den Alltag zurück. Manchmal werde ich dabei aber auch von Gott überrascht. Vielleicht dringt er dann einfacher zu mir durch als mitten im Trubel. Jedenfalls haben sich in solchen Langeweile-Momenten schon so manche (Glaubens-)Erkenntnisse den Weg gebahnt, um die ich lange Zeit gerungen hatte. Und auch der Satz „Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe“ (Psalm 62,2) hat eine ganz neue Bedeutung gewonnen.

Nicole Schweiger

 Nicole Schweiger ist Sozial- und Montessoripädagogin und unterrichtet an einer Berufsfachschule für Kinderpflege. Sie wohnt mit ihrer Familie in Lauf a.d. Pegnitz und bloggt unter milchundhonig.jimdo.com über Familie, Pädagogik und Glaubensleben.

 

Weitere Artikel zum Thema „Langeweile“ gibt es in der Family 6/2018.

 

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