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Das Leben neu erfinden

Um Helena und Thomas Gysin wird es plötzlich still in der Corona-Zeit. Von Helena Gysin

Wie dunkle Wolken, die ankündigen, dass bald Regen kommt, so ahnten wir, dass sich unser Leben bald ändern könnte. Wir feierten am
29. Februar genüsslich unseren 28. Hochzeitstag – oder eigentlich erst den siebten: Schneeschuhtour im Berner Oberland, Abendessen bei einem charmanten Italiener, Übernachtung in einem rustikalen B&B. Am Sonntag planten wir einen Gottesdienstbesuch und plötzlich war es Realität: Fremde mussten sich dafür registrieren – damit die Ansteckungskette nachverfolgt werden könne, sagte man uns. Blitzschnell, fast prophetisch, konstatierte Thomas: „Nach Corona wird die Welt nicht mehr die gleiche sein wie jetzt!“ Ja, sie begann sich zu wandeln, die große Welt und unsere kleine. Anlässe und Sitzungen wurden abgesagt. Begegnungen minimiert. Und plötzlich wurde es still um uns herum. Sehr still – in unserer Dienstwohnung in einem Schulhaus. Keine Schüler. Keine Termine. Thomas und Helena allein zu Hause.

Ruhige Kugel und schnelle Bikes

Thomas schob erstmals eine ruhige Kugel, baute seine Überstunden als Hausmeister ab und ging oft zum Angeln am nahegelegenen See. Ich hatte innerhalb weniger Tage einen aufwendigen Artikel zu stemmen und befragte Personen in Chefpositionen, wie sich der Ausbruch von Corona auf ihren Alltag auswirke. Erschreckend, was sich da abzeichnete! In der ersten Woche hatte jeder von uns beiden seine eigene Blickrichtung, bis sich unsere Augen am ersten Wochenende des Lockdowns wieder trafen. Kein Gottesdienst. Kein Wiedersehen mit Freunden. Keine Einladung. Null Erfahrung mit einer solchen Situation. Wir mussten unsere Beziehung, unsere gemeinsamen Aktivitäten neu erfinden. Oft standen wir an den Wochenenden der Lockdown-Zeit relativ früh auf und erkundeten die nähere Umgebung zu Fuß. Wir wanderten manchmal mehrere Stunden. Mal planlos, mal entlang einer geplanten Route.

Dann entschied sich mein liebster Weggefährte recht überraschend, ein E-Bike zu kaufen – nachdem er vor ein paar Jahren noch lauthals verkündete, das komme für ihn erst ab 60 in Frage. Diese Anschaffung eröffnete uns eine neue Variante von gemeinsamen Ausflügen. Plötzlich legten wir spielend vor oder nach dem Frühstück 50 km zurück. Mit unseren E-Bikes wurden selbst die zahlreichen Hügel des Zürcher Oberlandes flach. Wir bewältigten Höhendifferenzen, die uns vorher schon beim Betrachten der Karte den Schweiß auf die Stirn und in die Achselhöhlen getrieben hätten.

Umarmen, Begegnen: Alles liegt flach

Um ehrlich zu sein: Dass wir in dieser Zeit den Gottesdienst aus der Konserve „feiern“ konnten, wann es uns gerade ins Programm passte, das begeisterte uns. Und doch, die Begegnungen in unserer Kirche und anderswo fehlten uns. Umarmungen – naja, mir (Helena) werden die auch mal zu viel, aber jetzt? Jetzt fehlten sämtliche freundschaftlichen und familiären „Drücker“ – unsere Kinder sind selbstständig, allesamt verheiratet. So waren wir auch in dieser Sache ganz auf uns als Paar zurückgeworfen. Wenn wir uns nicht umarmten, umarmte uns keiner. Einen Fixpunkt erfanden wir in dieser Zeit neu: immer um 21 Uhr trafen wir uns zu einer kurzen Gebetszeit. Dort bewegten wir Anliegen vor Gott, die uns die Corona-Zeit aufs Herz legte: die Bitte um Schutz für Menschen im Gesundheitswesen, um Kreativität, Spannkraft und Frieden für Familien, um Aufträge für Unternehmer in unserem Umfeld, um Weisheit für Politiker und Kirchenleitungen. Zu Beginn der Epidemie kaufte ich zudem einen Stapel Postkarten und verschickte per Post Grüße und Ermutigungen. Um den Draht zu Freunden und Bekannten zu halten, tat Thomas dasselbe mit Anrufen per Telefon. Als beziehungstechnisches Highlight trafen wir uns am Karfreitag mit unserer Tochter und ihrem Mann für zwei Stunden zu einem „distanzierten Spaziergang“.

Irgendwann wurde die Isolation zum neuen Alltag. Nicht immer waren wir von ihm begeistert. Manchmal fanden wir ihn öde. Manchmal fühlte sich das Leben in unserer Wohnung an wie im Elfenbeinturm: ein bisschen einsam, gut versorgt und hervorragend abgeschirmt. Insgesamt fühlten wir uns als Paar privilegiert: Wir hatten uns und damit einen Zuhörer, eine Gesprächspartnerin, einen Mitspieler für Tuto, Qwirkle und Co., eine Nervensäge, einen Feinschmecker mit einem neuen Kochbuch inklusive Garthermometer, eine Verbündete und auch einen Liebhaber/ eine Gespielin für das Bettgeflüster. Wir sind stolz auf uns, dass wir die Corona-Challenge nicht nur überstanden, sondern gemeinsam gemeistert haben.

Thomas & Helena Gysin wohnen in einem idyllischen Dorf in der Schweiz. Er ist Hauswart, sie Autorin. Er ist bald 55 Jahre alt, sie 52 Jahre jung. Sie haben drei erwachsene Kinder und werden bald Großeltern.

Weitere Erfahrungsberichte von Paaren in der Corona-Zeit findet ihr in der aktuellen FamilyNEXT

Behüte dein Herz!

Nicht selten komme ich mir gerade so vor wie ein Kaktus: Um mein Herz zu schützen, fahre ich Stacheln aus. Fein, stark und mit Widerharken. Ganz unterschiedlich können diese sein: Ich bin empört, ich schweige oder ich gehe in den wortreichen Gegenangriff. Wann ich stachelig werde? Ach, beim vollen Biomülleimer, dem fragenden Blick meines Sohnes, einer anklagenden Mail, einem Post mit schönen Fingernägeln. Irgendwie sehr schnell und sehr oft.

Diese Pandemie macht etwas mit uns allen. Mit mir. Ich sollte mich aber nicht nur um Finanzen und Wirtschaft sorgen, sondern die Aufforderung Gottes ernst nehmen: „Behüte dein Herz!“ Mein Herz braucht gerade einen Schutzraum im Rahmen der Lockerungen in der erlebten Krise. Ich will näher hinsehen: Wie geht es mir damit? Was sind meine ausgefahrenen Stacheln? Wo sind sarkastische Untertöne über Freunde, Fremde oder Politiker in meinen Alltag eingezogen? Wo habe ich das Gefühl, nicht gesehen zu werden? Wo ist der Ton in meiner Familie rauer geworden? Wen halte ich auf Abstand? Von wem bin ich verletzt worden?

Ja, ich fühle mich wirklich wie ein hormongesteuerter Teenager, der seine empfindsame Seele mit Stacheln schützt, um nicht verletzt zu werden. Überall lese ich von Lockerungen und dabei schnürt sich mein Herz mir zu. Ich befürchte, diese Zeit nicht gewinnbringend genutzt zu haben, mich nicht genug über die Chancen gefreut zu haben. Ich habe jeden Tag überlebt. Mehr nicht. Und vor allem nicht weniger!

Ich schütze mich, weil mir viel auffällt, was ich NICHT lebe und schaffe. Dabei brauche ich gerade jetzt jemanden, der sagt: Trau dich wieder in deinen Familienalltag. Mach dich locker, wenn noch kein Rhythmus zu erkennen ist und ihr als Familie derzeit um 16.00 Uhr Mittag esst. Mach dich locker, wenn du genervt vom Schulwiedereinstieg bist. Mach dich locker, wenn du die Präsenz deines Mannes nicht immer feierst.

Ich schütze mich mit Stacheln und ersehne dabei so sehr, dass jemand in mein Herz spricht und es wagt, mich zu sehen. Ich bin so froh, dass ich nicht stachelig bleiben muss. Denn das macht mich einsam und zickiger, als ich sein möchte. Ich male mir aus, wie Gott mich umarmt und sich nicht in die Flucht stacheln lässt. Wie gut!

Ich kann mit dieser Vorstellung spüren, dass die gerade erlebten Lockerungen Veränderungen wie alle sind und Kraft kosten. Immerhin schaffe ich es, den Impuls zu unterdrücken, die drängelnden Senioren an der Kasse scharf anzuzischen und stattdessen zu zwinkern. Ein kleiner Anfang – aber für mich heute ein Schritt, mein Herz zu behüten.

Stefanie Diekmann, Gemeindereferentin

Von der Bühne in die Quarantäne: „Mein Sohn versteht die Welt nicht mehr“

Statt eines Vortrags vor 7.000 Menschen warteten auf Patrick Knittelfelder 14 Tage Quarantäne. Mit seiner Frau konnte er sich nur durch die geschlossene Tür hindurch unterhalten.

Ein tolles Leben. Fast wie ein Vorzeigeleben. Nach außen kann es sich auf jeden Fall sehen lassen, siehe mein Profil bei Instagram: Hocherfolgreicher Volksschulschwänzer, schwerer Legastheniker, Firmengründer, Leiter der HOME Mission Base, Hotels, Immobilien & Restaurants, Autor. Vielleicht sollte man noch glücklicher Ehemann, beschenkter Vater und Vortragsredner dazu schreiben. Wobei man den Redner besser weglässt, denn damit ging das Drama los.

Einer baute eine Arche

Seit Wochen denke ich an eine Geschichte aus der Bibel. Da heißt es, die Leute aßen und tranken, gingen ihren Geschäften nach. Sie heirateten, zeugten Kinder. Auf heute übertragen: Sie pflegten ihre Insta- und Facebook-Profile, vertrauten auf eine wachsende Wirtschaft, freuten sich auf Champagner und die nächsten Festspiele. Nur einer baute – mitten in den Bergen – eine Arche. Und dann kam der Regen. Oder fast noch blöder: Es kam ein winzig kleines, nanometerkleines bescheuertes Virus. Und vieles was ich hatte, was meine Identität, meine Unternehmerpersönlichkeit ausmachte, ist nicht mehr, hängt am seidenen Faden oder ist von Staatshilfe abhängig.

130 Mitarbeiter in Kurzarbeit, 20 entlassen

Einer hat eine Arche gebaut. Doch das war nicht ich. Einer war vorbereitet und mich hat es von hinten erwischt. Noch vor knapp zwei Monaten zwei Hände voll florierende Firmen mit 150 Mitarbeitern. Jetzt 130 von ihnen in Kurzarbeit und 20 entlassen. Und seit sechs Wochen nur Ausgaben und so gut wie keinen Cent Umsatz.

Und trotzdem lebe ich. Bin immer öfter wieder gut drauf und fest davon überzeugt, dass es ein höheres Wesen gibt, das es nicht nur gut, sondern sogar sehr gut mit mir und uns allen meint. Dass es einen Gott gibt, der einen Plan hat. Und in dem Plan darf auch so etwas Blödes wie Corona vorkommen. Und nein, es ist keine Strafe Gottes. Genauso wenig wie damals AIDS, genauso wenig wie der große Tsunami eine Strafe war. Auch kein Erdbeben und kein Hochwasser. Auch nicht Tschernobyl. Und doch bin ich mir sicher: Gott will mir, Patrick, und uns allen ganz klar etwas sagen. Aber was?

Leben am Limit

Vor acht Wochen war die Welt noch schön und gut. Das heißt in meinem Fall: Ich habe ein Leben am Limit geführt. Auf mich selbst und meine Familie bezogen. Viel zu lange schon. Auf der einen Seite die Firmen mit all den täglichen Herausforderungen, die zehn Hotel und Restaurants mit sich bringen. Dazu noch einige Immobilien. Nicht die kleinsten an Größe und Sorgen. Auf der anderen Seite die Leitung eines der spannendsten kirchlichen Aufbruchprojekte. Jüngerschaftsschule (ein Ort, an dem man christliches Leben in Freiheit und Schönheit von Grund auf lernt), Medienhaus, Gebetshaus, eine Suppenküche für Menschen am Rande der Gesellschaft, ein wunderschöner Buchladen mit Café mitten in der Altstadt von Salzburg, Studios und einiges mehr. Eine wunderbare Familie und sogar noch ein paar Freunde. Und immer das Gefühl, überall ein bisschen zu wenig zu geben.

Riesiger Kongress

Dann noch diese große Konferenz in Deutschland. Über 7000 Menschen in einer Halle. Die mit Abstand allergrößte Halle, in der ich jemals sprechen würde. Ich reiste mit 20 meiner Mitarbeiter an. Im Hinterkopf den fixen Plan, mir gleich danach ein, zwei Wellnesstage in einem tollen Spa zu nehmen. Ganz alleine. Sehr ersehnt. Quasi eine Belohnung für den Kongress. Für die letzte stressige Zeit. Für das Viel-zu-viel der letzten Tage. Ach was, gleich für die letzten Jahre …

Konferenz abgebrochen

Dann ist es so weit: Ich stehe in der riesigen Halle, meinen Vortrag scharf und spitz vorbereitet. Soundcheck hinter mir. Dopamin, Testosteron und was weiß ich noch alles mit höchster Ausschüttung. Doch dann wie aus dem Nichts: Alle Sprecher sofort in einen Raum wegen Corona-Gefahr. Notfallplan. Halle geleert, Kongress beendet, alles zu. Rückreise isoliert, von Polizei und Gesundheitsamt zu Hause erwartet. Der Absonderungsbescheid nach dem Seuchengesetz noch in der Nacht zugestellt, 14 Tage Quarantäne. Alles ist sehr aufregend, die Polizei vor der Haustür. Ja, so war das damals. Vor ein paar Wochen. Da konnte man sich das noch leisten. Der erste Verdachtsfall in Salzburg.

14 Quadratmeter für 14 Tage

Meine Frau Dagmar richtet das Gästezimmer her. Wir begrüßen uns nur aus der Ferne. Mein Sohn Moritz, vier Jahre alt, versteht die Welt nicht mehr. Der Papi ist da und doch nicht da. Ja, genau. Da und doch nicht da. Was bin ich eigentlich? Da oder eigentlich weit weg von mir? Die ersten Tage und Nächte sind nicht gut. Gar nicht gut. Sehr viel besser sollte es auch nicht werden. Da sitze ich auf 14 Quadratmetern für 14 Tage. Vier Schritte in die eine Richtung, fünf in die andere. Die Polizei winkt mehrmals täglich vor dem Fenster. Ich sitze brav in meinem Zimmer. Meine Familie kümmert sich um mich, so gut es geht. Adrenalin und Dopamin sind immer noch da. Auf der Bühne konnten sie nicht heraus. In meinem Zimmerchen auch nicht. Und langsam keimt der Verdacht: Da kommt ein dickes Ende.

Gute Ratschläge überall

So viele schreiben mir, Freunde, Partner, Unbekannte. Jeder Zweite freut sich für mich: So schön, jetzt hast du so viel Zeit für fromme Gebete und Ruhe und, und, und … Am liebsten würde ich den Nächsten, der mir so einen Tipp gibt, eigenhändig erschlagen! Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so leere, zähe Zeit in meinem Leben gehabt zu haben.

Meine Büroarbeit geht weiter, so wie das Leben draußen weitergeht. Damals zumindest noch. Damit ist sie endlich da, die Ablenkung, die vieles leichter macht. Videocalls, E-Mails, Briefings, fast jeden Tag Interviews. Ja, noch vor ein paar Wochen war ein Verdachtsfall eine spannende Geschichte für die Medien. Bald ist das Adrenalin verdunstet, die Interviews sind alltäglich, die Polizei ist zu nett und die Arbeit Routine.

Ruhe – und doch nicht ganz

Moment mal – war da nicht meine große Sehnsucht nach Erholung? Nach Wellness und Spa, nach Rastmachen, Buch und Zeitung lesen, Ausschlafen … Das habe ich doch nun alles! Eigentlich. Da spreche ich so gerne davon, dass man nicht das Opfer seiner Umstände ist. Dass man sich überall zurechtfinden kann. Wie wichtig ein strukturierter Tag ist. Wie man seine Zeit nutzen kann. Da wird mir klar, wie weit ich eigentlich von dem entfernt bin, was ich predige. Stattdessen gerate ich ins Wanken und in tiefe Traurigkeit.

Tiefe Gespräche

Jeden Abend sitze ich in meinem Zimmer. Meine Frau sitzt auf dem Gang. Wir sprechen. Ganz anders als sonst. Es sind Gespräche auf Distanz und doch so nah. Vielleicht so nah wie schon lange nicht mehr. Das sind meine Anker. Jeden Tag. Die Zeiten, wo die Traurigkeit weicht. 14 Tage sind lang, länger, als ich gedacht hätte. Die Gespräche tun gut. Langsam ist das Ende in Sicht, die letzten Tage ziehen sich.

Lektion gelernt

Das Zimmer wird irgendwie kleiner. Ich auch. Meine Erwartungen an die Zukunft werden kleiner. Vielleicht gesünder. Ich freue mich über Bäume, die zu grünen beginnen. Das war nie mein Thema, jetzt aber doch. Und all die Leute die mir schreiben: Warum tun sie das? Mögen sie mich? Ich meine, mögen sie mich wirklich? So schlecht sind die Tipps auch wieder nicht. Vielleicht brauche ich einfach nur Zeit für mich. Habe ich genau das verlernt in den letzten Jahren? Familie, Firmen, Dienste, alles war wichtiger als ich selber. Ich habe die Lektion gelernt. In letzter Sekunde. Gerade noch.

Fünf Tage Freiheit

Der erste Tag in Freiheit. Die auflagenstärkste Zeitung hat ein Team geschickt, um mich auf den ersten Metern zu begleiten. Redakteur, Fotograf und Kameramann sind da. Sorry, bitte noch 15 Minuten warten! Wir haben gerade unser »Morning Prayer«, Gott, meine Mitbewohner und ich.

Fünf Tage in Freiheit, dann plötzlich der Lockdown in Österreich. In Salzburg noch einmal schärfer. Und der Lockdown sieht wirklich nach Lockdown aus: Alles ist zu, alles geschlossen. Fast alles steht still. Hektische Krisengespräche überall. Was sollen wir tun? Was wird geschehen? Unsere offizielle Kirche beauftragt uns, „Kirche in die Wohnzimmer“ zu bringen. Hektisch bauen wir aus den Studios aus, was wir glauben zu brauchen, richten neue Studios ein. Vier Stunden später riegeln wir uns ab. Selbstgewählte Quarantäne, um Fernsehen in Krisenzeiten machen zu können. Zwei Tage später ist unsere Quarantäne nicht mehr freiwillig. Massive Ausgangsbeschränkungen im ganzen Land. Jeden Tag müssen wir der Polizei erklären, dass wir keine Versammlung sind, sondern mit 47 Menschen abgeriegelt unter einem Dach leben, um Kirche in die Wohnzimmer zu bringen. Die Menschen essen und trinken, sie heiraten, zeugen Kinder, machen Geschäfte und ein paar bauen eine Arche. Diesmal bin ich mit dabei.

Jeden Tag streamen

Gefühle, Stimmungen, Kämpfe und Ringen. Fragen, warum das Ganze geschieht und wann es endlich vorbei ist. Es ist wieder dasselbe Programm wie in meiner Quarantäne. Aber diesmal es geht deutlich besser. Statt 14 sind es nun 3000 Quadratmeter. Statt allein sind wir 47 und ich habe meine Lektionen gelernt. Jeden Tag reifen wir, jeden Tag streamen wir, jeden Sonntag machen wir Fernsehen und Radio, manchmal streiten wir, meist versöhnen wir uns wieder und kämpfen gemeinsam weiter.

Berufliche Grundlage weggebrochen

Vieles wird sich ändern. Lineares Denken vor, in und nach der Krise wird nicht ausreichen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir unmittelbar vor einer großen Veränderung stehen. Meine berufliche Grundlage ist binnen weniger Tage weggebrochen. Salzburg lebt hauptsächlich von Gästen aus dem asiatischen Raum, den USA, Deutschland und Italien. Unser Geschäftsmodell braucht eine Richtungsänderung. Meine finanzielle Zukunft braucht eine Richtungsänderung. Die halbe Welt braucht eine Richtungsänderung!

Wir können das!

Das ist für mich gleichzeitig Sorge und Hoffnung. Wer und vor allem wie sollen wir diese Neuausrichtung und Umgewichtung, diesen Paradigmenwechsel vollziehen? Von wo kommen neue Ideen, neue Projekte, neue Wertschöpfung? Die Antwort lautet: Von dir und von mir! Wir brauchen ein Klima, eine Umgebung, in der wir beginnen, etwas zu riskieren, unsere Zukunft in die Hand nehmen und die Komfortzone verlassen.

Patrick Knittelfelder leitet ein Unternehmen mit rund 150 Mitarbeitern in Salzburg und Graz in den Bereichen Hotellerie, Gastronomie und Immobilien und ist Geschäftsführer der »HOME Mission Base Salzburg«, wo er mit seiner Familie und 40 jungen Erwachsenen lebt.

Der Artikel erschien zuerst im Buch „Hoffnung – Zuversicht in Zeiten von Corona“ bei SCM Hänssler.

#socialdistancing – was daran gar nicht neu ist

„Mich nervt das so sehr ….“, nörgelt meine Freundin mir per Sprachnachricht ins Ohr. „Am Wochenende hier rumhängen. Sonst bin ich mit unendlich vielen Menschen unterwegs. Und nun sind wir zu viert als Familie. Das kann ich nicht!“

Das geforderte #socialdistancing stresst viele. Aber ich finde ja, es hat sich gar nicht viel verändert.

Saßen wir nicht vor #socialdistancing auch zu oft allein vor dem Tatort? Brauchten wir nicht zum Runterkommen auch vorher schon ruhige Auszeiten im Wald oder Park? Vielleicht haben wir sie uns nicht genommen: die Konzentration auf uns persönlich und enge Menschen um uns herum. Mein Eindruck ist: Wir sind schon vorher nicht darin geübt gewesen, uns nah zu sein …

Vor einiger Zeit sprach ich mit einer Frau – ich hätte sie als Freundin bezeichnet. Sie erklärte mir, was für sie tiefe und echte Beziehungen sind und wieso sie nur ein bis zwei Freundinnen habe. Ich nicke lächelnd, innerlich irritiert und kann dem Rest des Gespräches kaum folgen. Ich bin also nicht für tiefe Gespräche zu haben, verdiene keine Auszeichnung „Freundin“.

Wenn mein Mann telefoniert, lacht er gern über den Austausch des Wetterberichtes mit vielen Menschen. Anderen einen Einblick in Fragen und Sorgen, in stürmische Gebete oder stumme Ratlosigkeit zu geben, haben wir irgendwie verlernt. Oder haben wir es schon länger einfach zugelassen, in #socialdistancing zu leben?

Derzeit tapsen wir mit unseren erwachsenen Kindern in eine ähnliche Falle. Wir versuchen trotz #socialdistancing uns nah zu bleiben und plaudern über gekochte Köstlichkeiten und über andere. Aber uns ins Herz blicken lassen? Puh. Das ist schwer.

Vor ein paar Jahren haben wir jeden Sonntag Menschen an unserem Tisch gehabt. Nach dem Essen haben kleine und große Menschen dann die Frage beantwortet: „Was war dir heute im Gottesdienst wertvoll?“ Es war eine unspektakuläre Runde und hat doch gutgetan. Innere Themen gemeinsam zu reflektieren, mag als pädagogischer Schnickschnack abgewertet werden. Ich werde gern dafür belächelt, bin aber aus Erfahrung überzeugt: Erst durch das Teilen von persönlichen Gedanken entsteht Nähe. Ich kann als Familie jeden Tag sechs Stunden Kniffel-Turniere erleben oder als Paar jeden Tag drei Stunden wandern – ohne einen Einblick in innere Gedanken verfliegt Nähe wie ein billiges Parfum.

So erzählen wir uns als Familie beim Chatten also: Was haben wir von der Predigt, die wir gestreamt haben, mitgenommen. Wir fragen: Was macht dir Sorgen? Auf was oder wen bist du gerade stolz oder ärgerlich? Wem kannst du bewusst Gutes tun? Was kannst du an dir beobachten?

Über die angeordnete Distanz können wir Sehnsucht nach Worten, Tränen und glucksendem Lachen bekommen. Nutzen wir die Chance!

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.