Von der Bühne in die Quarantäne: „Mein Sohn versteht die Welt nicht mehr“
Statt eines Vortrags vor 7.000 Menschen warteten auf Patrick Knittelfelder 14 Tage Quarantäne. Mit seiner Frau konnte er sich nur durch die geschlossene Tür hindurch unterhalten.
Ein tolles Leben. Fast wie ein Vorzeigeleben. Nach außen kann es sich auf jeden Fall sehen lassen, siehe mein Profil bei Instagram: Hocherfolgreicher Volksschulschwänzer, schwerer Legastheniker, Firmengründer, Leiter der HOME Mission Base, Hotels, Immobilien & Restaurants, Autor. Vielleicht sollte man noch glücklicher Ehemann, beschenkter Vater und Vortragsredner dazu schreiben. Wobei man den Redner besser weglässt, denn damit ging das Drama los.
Einer baute eine Arche
Seit Wochen denke ich an eine Geschichte aus der Bibel. Da heißt es, die Leute aßen und tranken, gingen ihren Geschäften nach. Sie heirateten, zeugten Kinder. Auf heute übertragen: Sie pflegten ihre Insta- und Facebook-Profile, vertrauten auf eine wachsende Wirtschaft, freuten sich auf Champagner und die nächsten Festspiele. Nur einer baute – mitten in den Bergen – eine Arche. Und dann kam der Regen. Oder fast noch blöder: Es kam ein winzig kleines, nanometerkleines bescheuertes Virus. Und vieles was ich hatte, was meine Identität, meine Unternehmerpersönlichkeit ausmachte, ist nicht mehr, hängt am seidenen Faden oder ist von Staatshilfe abhängig.
130 Mitarbeiter in Kurzarbeit, 20 entlassen
Einer hat eine Arche gebaut. Doch das war nicht ich. Einer war vorbereitet und mich hat es von hinten erwischt. Noch vor knapp zwei Monaten zwei Hände voll florierende Firmen mit 150 Mitarbeitern. Jetzt 130 von ihnen in Kurzarbeit und 20 entlassen. Und seit sechs Wochen nur Ausgaben und so gut wie keinen Cent Umsatz.
Und trotzdem lebe ich. Bin immer öfter wieder gut drauf und fest davon überzeugt, dass es ein höheres Wesen gibt, das es nicht nur gut, sondern sogar sehr gut mit mir und uns allen meint. Dass es einen Gott gibt, der einen Plan hat. Und in dem Plan darf auch so etwas Blödes wie Corona vorkommen. Und nein, es ist keine Strafe Gottes. Genauso wenig wie damals AIDS, genauso wenig wie der große Tsunami eine Strafe war. Auch kein Erdbeben und kein Hochwasser. Auch nicht Tschernobyl. Und doch bin ich mir sicher: Gott will mir, Patrick, und uns allen ganz klar etwas sagen. Aber was?
Leben am Limit
Vor acht Wochen war die Welt noch schön und gut. Das heißt in meinem Fall: Ich habe ein Leben am Limit geführt. Auf mich selbst und meine Familie bezogen. Viel zu lange schon. Auf der einen Seite die Firmen mit all den täglichen Herausforderungen, die zehn Hotel und Restaurants mit sich bringen. Dazu noch einige Immobilien. Nicht die kleinsten an Größe und Sorgen. Auf der anderen Seite die Leitung eines der spannendsten kirchlichen Aufbruchprojekte. Jüngerschaftsschule (ein Ort, an dem man christliches Leben in Freiheit und Schönheit von Grund auf lernt), Medienhaus, Gebetshaus, eine Suppenküche für Menschen am Rande der Gesellschaft, ein wunderschöner Buchladen mit Café mitten in der Altstadt von Salzburg, Studios und einiges mehr. Eine wunderbare Familie und sogar noch ein paar Freunde. Und immer das Gefühl, überall ein bisschen zu wenig zu geben.
Riesiger Kongress
Dann noch diese große Konferenz in Deutschland. Über 7000 Menschen in einer Halle. Die mit Abstand allergrößte Halle, in der ich jemals sprechen würde. Ich reiste mit 20 meiner Mitarbeiter an. Im Hinterkopf den fixen Plan, mir gleich danach ein, zwei Wellnesstage in einem tollen Spa zu nehmen. Ganz alleine. Sehr ersehnt. Quasi eine Belohnung für den Kongress. Für die letzte stressige Zeit. Für das Viel-zu-viel der letzten Tage. Ach was, gleich für die letzten Jahre …
Konferenz abgebrochen
Dann ist es so weit: Ich stehe in der riesigen Halle, meinen Vortrag scharf und spitz vorbereitet. Soundcheck hinter mir. Dopamin, Testosteron und was weiß ich noch alles mit höchster Ausschüttung. Doch dann wie aus dem Nichts: Alle Sprecher sofort in einen Raum wegen Corona-Gefahr. Notfallplan. Halle geleert, Kongress beendet, alles zu. Rückreise isoliert, von Polizei und Gesundheitsamt zu Hause erwartet. Der Absonderungsbescheid nach dem Seuchengesetz noch in der Nacht zugestellt, 14 Tage Quarantäne. Alles ist sehr aufregend, die Polizei vor der Haustür. Ja, so war das damals. Vor ein paar Wochen. Da konnte man sich das noch leisten. Der erste Verdachtsfall in Salzburg.
14 Quadratmeter für 14 Tage
Meine Frau Dagmar richtet das Gästezimmer her. Wir begrüßen uns nur aus der Ferne. Mein Sohn Moritz, vier Jahre alt, versteht die Welt nicht mehr. Der Papi ist da und doch nicht da. Ja, genau. Da und doch nicht da. Was bin ich eigentlich? Da oder eigentlich weit weg von mir? Die ersten Tage und Nächte sind nicht gut. Gar nicht gut. Sehr viel besser sollte es auch nicht werden. Da sitze ich auf 14 Quadratmetern für 14 Tage. Vier Schritte in die eine Richtung, fünf in die andere. Die Polizei winkt mehrmals täglich vor dem Fenster. Ich sitze brav in meinem Zimmer. Meine Familie kümmert sich um mich, so gut es geht. Adrenalin und Dopamin sind immer noch da. Auf der Bühne konnten sie nicht heraus. In meinem Zimmerchen auch nicht. Und langsam keimt der Verdacht: Da kommt ein dickes Ende.
Gute Ratschläge überall
So viele schreiben mir, Freunde, Partner, Unbekannte. Jeder Zweite freut sich für mich: So schön, jetzt hast du so viel Zeit für fromme Gebete und Ruhe und, und, und … Am liebsten würde ich den Nächsten, der mir so einen Tipp gibt, eigenhändig erschlagen! Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so leere, zähe Zeit in meinem Leben gehabt zu haben.
Meine Büroarbeit geht weiter, so wie das Leben draußen weitergeht. Damals zumindest noch. Damit ist sie endlich da, die Ablenkung, die vieles leichter macht. Videocalls, E-Mails, Briefings, fast jeden Tag Interviews. Ja, noch vor ein paar Wochen war ein Verdachtsfall eine spannende Geschichte für die Medien. Bald ist das Adrenalin verdunstet, die Interviews sind alltäglich, die Polizei ist zu nett und die Arbeit Routine.
Ruhe – und doch nicht ganz
Moment mal – war da nicht meine große Sehnsucht nach Erholung? Nach Wellness und Spa, nach Rastmachen, Buch und Zeitung lesen, Ausschlafen … Das habe ich doch nun alles! Eigentlich. Da spreche ich so gerne davon, dass man nicht das Opfer seiner Umstände ist. Dass man sich überall zurechtfinden kann. Wie wichtig ein strukturierter Tag ist. Wie man seine Zeit nutzen kann. Da wird mir klar, wie weit ich eigentlich von dem entfernt bin, was ich predige. Stattdessen gerate ich ins Wanken und in tiefe Traurigkeit.
Tiefe Gespräche
Jeden Abend sitze ich in meinem Zimmer. Meine Frau sitzt auf dem Gang. Wir sprechen. Ganz anders als sonst. Es sind Gespräche auf Distanz und doch so nah. Vielleicht so nah wie schon lange nicht mehr. Das sind meine Anker. Jeden Tag. Die Zeiten, wo die Traurigkeit weicht. 14 Tage sind lang, länger, als ich gedacht hätte. Die Gespräche tun gut. Langsam ist das Ende in Sicht, die letzten Tage ziehen sich.
Lektion gelernt
Das Zimmer wird irgendwie kleiner. Ich auch. Meine Erwartungen an die Zukunft werden kleiner. Vielleicht gesünder. Ich freue mich über Bäume, die zu grünen beginnen. Das war nie mein Thema, jetzt aber doch. Und all die Leute die mir schreiben: Warum tun sie das? Mögen sie mich? Ich meine, mögen sie mich wirklich? So schlecht sind die Tipps auch wieder nicht. Vielleicht brauche ich einfach nur Zeit für mich. Habe ich genau das verlernt in den letzten Jahren? Familie, Firmen, Dienste, alles war wichtiger als ich selber. Ich habe die Lektion gelernt. In letzter Sekunde. Gerade noch.
Fünf Tage Freiheit
Der erste Tag in Freiheit. Die auflagenstärkste Zeitung hat ein Team geschickt, um mich auf den ersten Metern zu begleiten. Redakteur, Fotograf und Kameramann sind da. Sorry, bitte noch 15 Minuten warten! Wir haben gerade unser »Morning Prayer«, Gott, meine Mitbewohner und ich.
Fünf Tage in Freiheit, dann plötzlich der Lockdown in Österreich. In Salzburg noch einmal schärfer. Und der Lockdown sieht wirklich nach Lockdown aus: Alles ist zu, alles geschlossen. Fast alles steht still. Hektische Krisengespräche überall. Was sollen wir tun? Was wird geschehen? Unsere offizielle Kirche beauftragt uns, „Kirche in die Wohnzimmer“ zu bringen. Hektisch bauen wir aus den Studios aus, was wir glauben zu brauchen, richten neue Studios ein. Vier Stunden später riegeln wir uns ab. Selbstgewählte Quarantäne, um Fernsehen in Krisenzeiten machen zu können. Zwei Tage später ist unsere Quarantäne nicht mehr freiwillig. Massive Ausgangsbeschränkungen im ganzen Land. Jeden Tag müssen wir der Polizei erklären, dass wir keine Versammlung sind, sondern mit 47 Menschen abgeriegelt unter einem Dach leben, um Kirche in die Wohnzimmer zu bringen. Die Menschen essen und trinken, sie heiraten, zeugen Kinder, machen Geschäfte und ein paar bauen eine Arche. Diesmal bin ich mit dabei.
Jeden Tag streamen
Gefühle, Stimmungen, Kämpfe und Ringen. Fragen, warum das Ganze geschieht und wann es endlich vorbei ist. Es ist wieder dasselbe Programm wie in meiner Quarantäne. Aber diesmal es geht deutlich besser. Statt 14 sind es nun 3000 Quadratmeter. Statt allein sind wir 47 und ich habe meine Lektionen gelernt. Jeden Tag reifen wir, jeden Tag streamen wir, jeden Sonntag machen wir Fernsehen und Radio, manchmal streiten wir, meist versöhnen wir uns wieder und kämpfen gemeinsam weiter.
Berufliche Grundlage weggebrochen
Vieles wird sich ändern. Lineares Denken vor, in und nach der Krise wird nicht ausreichen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir unmittelbar vor einer großen Veränderung stehen. Meine berufliche Grundlage ist binnen weniger Tage weggebrochen. Salzburg lebt hauptsächlich von Gästen aus dem asiatischen Raum, den USA, Deutschland und Italien. Unser Geschäftsmodell braucht eine Richtungsänderung. Meine finanzielle Zukunft braucht eine Richtungsänderung. Die halbe Welt braucht eine Richtungsänderung!
Wir können das!
Das ist für mich gleichzeitig Sorge und Hoffnung. Wer und vor allem wie sollen wir diese Neuausrichtung und Umgewichtung, diesen Paradigmenwechsel vollziehen? Von wo kommen neue Ideen, neue Projekte, neue Wertschöpfung? Die Antwort lautet: Von dir und von mir! Wir brauchen ein Klima, eine Umgebung, in der wir beginnen, etwas zu riskieren, unsere Zukunft in die Hand nehmen und die Komfortzone verlassen.
Patrick Knittelfelder leitet ein Unternehmen mit rund 150 Mitarbeitern in Salzburg und Graz in den Bereichen Hotellerie, Gastronomie und Immobilien und ist Geschäftsführer der »HOME Mission Base Salzburg«, wo er mit seiner Familie und 40 jungen Erwachsenen lebt.
Der Artikel erschien zuerst im Buch „Hoffnung – Zuversicht in Zeiten von Corona“ bei SCM Hänssler.
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