9 Jahre Loveparade-Tragödie: So erlebte ein Feuerwehrmann die Katastrophe
Branddirektor Jörg Helmrich hat Dienst, als bei der Duisburger Loveparade am 24. Juli 2010 eine Massenpanik ausbricht und 21 Menschen sterben. Zum Jahrestag kehrt er an den Katastrophenort zurück.
Möglichst schnell raus aus diesem Tunnel! Das ist der erste Impuls. Die Straße hindurch ist zweispurig, rund 300 Meter lang, die Decke flach und gewölbt. Es ist dunkel, Fahrzeuge rauschen vorbei, der Geräuschpegel enorm hoch. Dann kommt der Durchlass, nicht besonders groß, nur etwa zehn große Schritte breit, ungefähr die Distanz, die ein Fußball-Schiedsrichter zur Abmessung eines Freistoßes abschreitet. Hier war 2010 der Zugang zum Loveparade-Gelände.
Gleich links liegt die Gedenkstätte. Die Fläche, etwas mehr als 20 Meter lang, 10 Meter breit, Kopfsteinpflaster, läuft keilförmig zu. Eine große Menschenmenge auf engem Raum wurde 21 Menschen zum tödlichen Verhängnis und hat etwa 650 (namenlos) Verletzte hinterlassen. Rechts vor einer meterhohen Betonwand stehen zwei lange Bänke; gegenüber liegt die eigentliche Gedenkstätte. Ein abgeknicktes Verkehrsschild „Vorfahrt gewähren“. Geharkte Kiesrabatte, Gedenk-Steine, Kerzen, Blumen, Fotos. Eine Schrifttafel klagt die „profit- und konsumorientierte Spaßindustrie“ an. Treppenförmig sind Fotos und Namen der 21 Todesopfer auf einer rostbraunen Stahltafel angebracht; „Liebe hört niemals auf“ steht in 7 Sprachen darauf geschrieben. Rechts führt eine schmale Steintreppe nach oben – die für viele der letzte Fluchtweg, für die Opfer am Ende unerreichbar war. Auf jeder Stufe stehen ein Blumentopf und ein Holzkreuz. Ein paar Meter weiter noch einmal 21 Kreuze auf einer schwarzen Fläche, die auf einem Stück Metallzaun montiert ist – Teil des Trennelement-Systems, das die Menschenmassen hätte aufteilen und schützen sollen. Eigentlich.
Das Drama vor der Partymeile
Jörg Helmrich ist Branddirektor bei der Duisburger Feuerwehr. An diesem 24. Juli 2010, einem Samstag, hat er Dienst. Wie alle seine Kolleginnen und Kollegen. Urlaubssperre. Die Stadt rüstet sich für den Ansturm der riesigen Technoparty. Die Veranstalter sprechen von einer Million erwarteten Gästen – was nicht mehr als ein Werbe-Spruch ist, erklärt Helmrich (54): „Das wäre schier unmöglich gewesen: Duisburg hat nicht mal 500.000 Einwohner – die doppelte Menschen-Zahl auf einem überschaubaren Gelände, das war schlicht unvorstellbar.“ Tatsächlich kommen rund 200.000 Menschen zum Tanzen in die Ruhrstadt.
Immer noch eine schwer zu kalkulierende Großveranstaltung „mit hohem Lampenfieberpotenzial“, erinnert sich Helmrich. Bei der Lagebesprechung morgens im Stab der Feuerwehr sind einerseits alle „mit allen Nervenbündeln dabei“, sie wollen ihren „Job so gut wie möglich machen“. Andererseits klingt die „sehr detaillierte Vorplanung“ so durchdacht, mit verschiedenen Notfallszenarien, dass es wirkt, „als könnte es funktionieren“. Mehrere tausend Einsatzkräfte aus der Umgegend sind in Rufbereitschaft, die Duisburger erhalten massive Unterstützung aus Nachbarstädten: „Wir waren aus unserer Sicht sehr gut aufgestellt – bei einer allerdings ständig mitschwingenden Nervosität.“ Wäre die Loveparade wie geplant verlaufen, „wären wir alle in den frühen Morgenstunden mit High Five nach Hause gegangen, hätten uns gefreut – den Einsatz haben wir gerockt – und uns die nächsten vier Wochen ‚in die Eistonne‘ gelegt“, lächelt Helmrich nachdenklich. Es kam anders.
„Irgendwas läuft ganz gehörig aus dem Ruder!'“
An die heutige Gedenkstätte schloss sich früher die Rampe zum Festivalgelände, einem ehemaligen Güterbahnhof, an. Anstelle der Rampe folgt man heute einem kleinen Aufstieg, der zwischen gepflegten Kies- und Blumenbeeten hindurch führt und ein paar Meter weiter oben auf einer kleinen Freifläche an einem brusthohen Zaun endet, der den Blick auf die Partymeile von 2010 freigibt, die eingebettet ist zwischen Hauptbahnhof, ICE-Trasse und der Autobahn A 59.
Jörg Helmrich nimmt das Gelände am Unglückstag um 15 Uhr in der Nähe der ICE-Trasse selbst in Augenschein. Man kann dort dicht mit dem Pkw heranfahren und hat einen guten Überblick über das Gelände. „Die Besucherzahlen waren da noch sehr übersichtlich. Mit nicht viel Mühe hätte man alle einzeln zählen können.“ Das ändert sich in den nächsten anderthalb Stunden dramatisch. In der Stabsstelle blickt Helmrich auf einmal auf „Bilder, die mir sagten: Irgendwas läuft ganz gehörig aus dem Ruder!“
Um den Besucherstrom zu dirigieren, wurden die Partygäste vom Bahnhof über einen Umweg erstmal um das Gelände herumgeführt, um sie von beiden Tunnelköpfen aus auf das Festgelände zu leiten. Aus der Menschenmasse sollte – so der Gedanke – ein „Bandwurm“ werden, der die Menge so kanalisierte, dass es eigentlich „gar nicht zu einer Gedränge-Situation kommen durfte“, erzählt Helmrich, „trotzdem ist das Drama passiert“, schüttelt er immer noch ungläubig und ohne wirkliche Erklärung den Kopf.
Scham und Angst: Die Monate danach
Mit beiden Armen und schwankendem Oberkörper zeichnet er die wogende Menschenmasse nach, in der Einzelne nicht mehr Herr des eigenen Körpers sind, sondern im Rhythmus der Masse mitgehen müssen – und um Himmels willen nicht ins Straucheln geraten dürfen!
Er ist nicht oft hier, gesteht der Branddirektor, der heute in Zivil an der Gedenkstätte steht. „Ich meide den Platz – nicht aktiv, aber ich such auch nicht die Begegnung“, räumt er ein. Aber die Verantwortlichen der Stadt haben schnell erkannt, dass sie „der Trauer auch einen Raum geben“ und „einen Ort für Angehörige“ schaffen müssen, an dem sie Abschied nehmen und trauern können. Wenige Tage nach der Katastrophe sorgen Mittrauernde mit Kerzen für „ein Lichtermeer“ im Tunnel. Jedes Jahr zum 24. Juli gibt es hier eine Gedenkveranstaltung. Der Tunnel wird ab 23. abends gesperrt und ist für begrenzte Zeit nur für die Angehörigen offen, um ihnen einen angemessenen Rahmen zum Trauern und stillen Gedenken zu geben.
Für Jörg Helmrich war in den Monaten nach dem Unglückstag „Scham das vorherrschende Gefühl“: Er sieht sich als „Teil dieser Mannschaft, die es nicht hingekriegt hat, den Einsatz ohne Verletzte und Tote zu beenden“. Dazu kam Angst: die Furcht davor, selbst Gegenstand der Ermittlungen und „für das ‚Versagen‘ zur Rechenschaft gezogen zu werden“. Zwar war die Feuerwehr zu keiner Zeit Gegenstand polizeilicher Ermittlungen. Aber wenn es bei einem Anruf hieß „die Kripo ist am anderen Ende“, hatte Helmrich „viel zu hohen Puls“.
Ein Nachbar sagt in der Zeit mal zu ihm: „Als ihr kamt, da wurde der Einsatz doch gut!“ Er bekennt: „Das waren Momente, die mir gut getan haben.“ Auch seine Ehefrau Claudia ist eine wichtige Stütze. Sie stellt ihm die Frage, was er anders gemacht hätte, wenn er für jede Entscheidung eine Stunde Zeit zum Überlegen gehabt hätte. „Nichts“, antwortet er. Und doch: Am Ende standen 21 Tote – „da kann man nicht sagen: der Einsatz lief gut“.
Nach anderthalb Wochen Pause hat Helmrich damals die Arbeit wieder aufgenommen: „Das war auch gut.“ So konnten sie als Kollegen über das Erlebnis sprechen, nicht ständig, und auch mal „um unsere Wunden zu lecken“, räumt er ein. Vor allem aber, um in einer vertrauensvollen Atmosphäre über die Ereignisse sprechen zu können: „Das war auch ein Stück Familie und hat mit einigen Kollegen enger zusammengeschweißt, bis heute“, sagt er.
Anklage und Vergebung
Jetzt sitzt er ein paar Autominuten vom Tunnel entfernt in einem Park, Vögel zwitschern, und Helmrich denkt laut darüber nach, warum ihn der Besuch an der Gedenkstätte heute nicht so stark angefasst hat. „Weil ich jetzt in Zivil unterwegs bin“, überlegt er. Vor einem Jahr, im Juli 2018, war es anders: Spontan wollte er da – erkennbar – in Dienstkleidung zur Gedenkveranstaltung, ist aber umgedreht. „Auch heute hätte es mir in Dienstkleidung nicht behagt“, sinniert er. Kommt er also immer noch nicht ganz aus diesen Klamotten raus? Er nickt.
Wesentlich findet er allerdings eine Erfahrung, von der er auch erzählen will: Jörg Helmrich, der sich auf seinem Facebook-Profil als „Ehemann, Vater, Familienmensch, Christ und Firefighter“ charakterisiert, der Mitglied einer Baptistengemeinde in Mülheim ist, wo er seit diesem Jahr E-Bass spielt, der gern an der Ruhr spazieren geht, um den Kopf freizukriegen – er hat nach vielen, vielen Monaten, in denen er mit sich gerungen hat, „tatsächlich einen inneren Frieden gefunden, den Gott mir schenkt“. Seine Frau hat ihm in den Zeiten des Zweifelns den Satz gesagt, der schon viele Menschen getröstet und einen Halt gegeben hat: „Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Wieder nickt er. Aber erst 2014, vier Jahre später, als er im Neuen Testament – zum x-ten Mal – den Bibelvers studiert, in dem von dem „Frieden Gottes“ die Rede ist, „der den menschlichen Verstand übersteigt“, da kapiert er: Ich muss „aus der Endlosspirale“ der Sorgen, zermürbenden Fragen und Selbstanklagen „aussteigen und Gott beim Wort nehmen – der meint das wirklich so“. Also hat er „einen Deal gemacht“ – und zu Gott gebetet: „Ich überlasse dir die Sorgen – den Rest musst du machen. Und Gott hat mir deutlich gemacht: Okay. Läuft!“, lacht Helmrich. „Ich bin ein nüchterner Typ, aber diese Aussage erzeugt in mir eine regelrecht wohlige Wärme.“
„Da ist mein Kind umgekommen – und die Leute werden freigesprochen?!“
Trotz der positiven Aspekte, die es gibt: Die Loveparade hat keine Chance auf ein Happy End. Als Anfang dieses Jahres sieben städtische Angeklagte im Prozess freigesprochen wurden, hat Helmrich das auch mit etwas Erleichterung aufgenommen. Zugleich versteht er, dass das für die Angehörigen der Opfer „überhaupt nicht vermittelbar“ ist; dass es furchtbar ist, wenn der Prozess – was gut möglich ist – ohne Verurteilungen beendet wird: „Da ist mein Kind umgekommen – und die Leute werden freigesprochen?!“ Nein, schüttelt er den Kopf, „was damals passiert ist, ist nicht ungeschehen zu machen“. Die Tragödie hat in der Stadt oft den Reflex ausgelöst: „Duisburg ist mehr als nur Loveparade!“ Regelmäßig zum 24. Juli „poppt das wieder hoch“, sagt Helmrich mit Verständnis. 2020 wird es wohl noch mal stärker werden, zum zehnjährigen Gedenken.
Er selbst hofft auf die heilsame Kraft der Vergebung. Besonders für die Angehörigen wünscht er sich, dass sie „für sich das schwierige Kapitel Vergebung bewältigen können“. Jörg Helmrich sagt das nicht ohne Grund. Er hat selbst Vergebung als „Heilmittel, das so einen schlimmen Verlust zumindest verkraftbarer macht“ erfahren. Kein leichter Satz. Und doch wünscht Helmrich sich, „dass Menschen den Gott kennenlernen, der Vergebung möglich macht“.