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Ständig Angst ums Baby

„Seit meiner Schwangerschaft, aber besonders seit mein Baby auf der Welt ist, habe ich ständig Angst, dass es stirbt – am plötzlichen Kindstod zum Beispiel oder bei einem Unfall. Ist das normal? Und wie gehe ich mit der Angst um?“

Oh, wie gut kann ich mich an diese Zeit erinnern: die ersten Monate mit dem ersten Kind – eine ganz besondere Zeit im Leben. Zum einen spürt man die absolute Faszination für das Wesen, das im eigenen Körper gewachsen ist, und das Staunen über die Perfektion dieses kleinen Menschleins. Zum anderen gibt es enorm viele Fragen, Herausforderungen, Unsicherheiten und eben auch Ängste.

Oft werden alltägliche Dinge zu gefühlten Bedrohungen: stark parfümierte Besucher, die mein Kind auf den Arm nehmen wollen, eine laute Umgebung und erst recht der erste Schnupfen. Alles bekommt eine intensive Bedeutung und wird aus dem Blickwinkel heraus betrachtet, was die jeweilige Situation für mein Kind bedeutet und inwiefern es ihm schaden könnte. Wenn sich dann sogar der plötzliche Kindstod oder eventuell auftretende Unfälle in die Gedanken der jungen Mutter schleichen, dann kann das so manche von ihnen kaum aushalten und es entwickeln sich echte Ängste.

Wenn die Ängste zu stark werden

Viele Eltern kennen diese Ängste und bis zu einem gewissen Grad halte ich sie für normal. Die Verantwortung für ein so kleines Lebewesen zu tragen, ist eine große Herausforderung. Und gerade beim ersten Kind weiß man vieles noch nicht und ist in vielen Fragen entsprechend unsicher. Wenn diese Ängste mich jedoch in meinem Alltag zu sehr einschränken, lähmen und mir die Freude am unbeschwerten Umgang mit meinem Kind nehmen, dann ist es an der Zeit, sich mit diesen Ängsten intensiver auseinanderzusetzen und zu fragen, woher sie kommen.

Oft ist es in solchen Situationen hilfreich, sich Unterstützung zu suchen, zum Beispiel bei der Wochenbetthebamme oder der behandelnden Frauenärztin. Sprechen Sie offen über Ihre Gefühle und haben Sie keine Hemmungen, die Situation so zu schildern, wie Sie sie empfinden. Eine andere Möglichkeit wäre es, sich mit dem Verein „Schatten und Licht“ (www.schatten-und-licht.de) in Verbindung zu setzen, der sich auf psychische Probleme rund um die Geburt spezialisiert hat.

Sprechen Sie mit anderen Müttern

Manchen Müttern hilft auch ein einfacher Realitätscheck: Wie häufig passiert das, wovor ich mich fürchte? Und was sind die häufigsten Auslöser? Was kann ich also durch einen aufmerksamen Umgang mit meinem Kind vermeiden?

Für viele Mütter ist auch das Gespräch mit Frauen in der gleichen Lebenssituation das, was ihnen aus dem Grübeln und ihren Ängsten hinaushilft. Gehen Sie mit Müttern aus Ihrem Rückbildungskurs oder Krabbelkurs gemeinsam spazieren oder eine Tasse Kaffee trinken und tauschen sich über dieses neue Universum „Muttersein“ aus. Sie werden staunen, wie viele Frauen ähnlich empfinden wie Sie.

Martina Parrish ist Hebamme, Stillberaterin, Mutter, dreifache Oma und lebt in Berlin.

Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Real Life Guys: YouTube-Star hat Krebs im Endstadium – Wieso er die Hoffnung nicht verliert

Die Ärzte geben dem YouTuber Philipp Mickenbecker (The Real Life Guys) noch maximal zwei Monate zu leben. Trotzdem sprudelt er im Video vor Lebensfreude.

Eigentlich bauen die Brüder Philipp und Johannes Mickenbecker U-Boote aus Badewannen, Seilbahnen und menschliche Drohnen. Am Wochenende zeigte Philipp seinen 1,2 Millionen Abonnenten eine ganz andere Lebensrealität auf: Er hat Krebs, bereits zum dritten Mal. „Der Arzt hat mir einfach gesagt, dass es sehr, sehr schlecht aussieht und dass der Tumor schon im Endstadium ist und dass er mir tatsächlich nur noch zwei Wochen bis zwei Monate zu leben gibt“, sagt er im Video.

Medizinisch aussichtslos, trotzdem hoffnungsvoll

Die Krankheit begleitet Philipp schon seit seiner Jugend. Zwei Mal schien der Tumor bereits besiegt. Drei Jahre lang konnte der YouTube-Star ohne Schmerzen leben. Die Geschichte seiner Heilung beschreibt er in seinem jüngst erschienenen Buch „Meine Real Life Story“ (Adeo-Verlag). Alles schien gut – bis die Schmerzen zurückkamen. Eine Untersuchung zeigte, wie schlecht es um den 23-Jährigen steht. Medizinisch gesehen gebe es keine Möglichkeit, den Krebs zu bekämpfen, erzählt er im Video. Trotzdem ist er voller Hoffnung.

„Auf übernatürliche Weise gesund geworden“

Der Grund: Philipp Mickenbecker ist nach eigener Aussage überzeugter Christ. Dass er den Krebs bereits zwei Mal überlebt hat, erklärt er sich durch das Handeln Gottes: „Ich lag damals ja wirklich im Sterben und bin da auf übernatürliche Art und Weise gesund geworden“, sagt er.  Er glaube, dass es jemanden gebe, der einen Plan mit ihm und „dieser ganzen Sache“ habe.

Schwester starb durch Unfall

Diese Überzeugung hatte Philipp nicht immer. Über Jahre fand er Kirche nach eigener Aussage einfach langweilig. Dann stirbt die Schwester der YouTuber bei einem Flugzeugabsturz. Es folgt die Krebserkrankung. „Durch diese schweren Zeiten haben wir zu Gott gefunden. Ich habe Gott als jemanden erlebt, der mich durchträgt, tröstet und Hoffnung schenkt.“ Auch darüber schreibt er in seinem Buch. Außerdem will er zukünftig darüber auf dem YouTube-Kanal „Life Lion“ erzählen.

Erster Schritt entscheidend

Den Hauptkanal „The Real Life Guys“ wollen die beiden Brüder übrigens so lange wie möglich weiterführen. Darin zeigen sie, wie sie aus Alltagsgegenständen ungewöhnliche Dinge bauen. Ihr neustes Projekt ist ein U-Boot aus einem Gastank. „Wir wollen unsere Zuschauer motivieren, ihre Ideen umzusetzen. Dabei ist der erste Schritt entscheidend. Wenn du nicht loslegst, bleibt es nur bei einer Idee“, sagte Philipp in einem Interview mit der Zeitschrift Teensmag.

Einmal noch öffnete Baby Mia die Augen – Fotograf hält bewegenden Moment für die Ewigkeit fest

Oliver Wendlandt fotografiert Sternenkinder, also Babys, die rund um die Geburt sterben. Seine Fotos helfen den Eltern. Hier erzählt er von seinem intensivsten Auftrag.

Der Alarm kam für Regensburg – 16 Uhr Nottaufe, die Eltern wollen Bilder. Also flugs ins Auto gehüpft und sehr zügig in die Klinik in Regensburg gefahren. Die Zeit war knapp, um die Taufe noch dokumentieren zu können. Einen Stau musste ich auch umfahren. 15 Minuten vor der Taufe erreichte ich die Klinik und ging schnurstracks zur Kinderintensivstation, wo mich die Schwester, die uns gerufen hatte, schon erwartete. Im Raum zwei Häuflein Elend: die Eltern.

Alles sah gut aus …

Beim kurzen Gespräch wurde das ganze Ausmaß des persönlichen Dramas offenbar: Das kleine Mädchen wurde in der 25. Schwangerschaftswoche geboren, es war zu wenig Fruchtwasser vorhanden, und das Kind war unterversorgt. Auf der Intensivstation wurde sie über Tage gepäppelt, alles sah gut aus. Das Kind nahm zu, wuchs, die Hoffnung der Eltern war groß. Dann kam es zu einer Infektion des Darmes, die von den Ärzten trotz aller Versuche nicht in den Griff zu bekommen war. Man könne nichts mehr für die Kleine tun, war die Aussage der Ärzte. So entschieden sich die Eltern, das kleine Mädchen taufen zu lassen und dann die lebenserhaltenden Systeme abzuschalten.

Die Taufe

Ich begann, bevor der Pfarrer kommen sollte, einige Bilder des Mädchens im Brutkasten zu machen – die Scheiben haben das erschwert, aber nicht unmöglich gemacht. Wenige Minuten danach kam der Pfarrer. Die Taufe war würdevoll, ich habe sie für die Eltern gefilmt. Nachdem der Pfarrer sich verabschiedet hatte, wurden dem Mädchen Schmerzmittel verabreicht und der Brutkasten samt Infusionsturm in ein anderes Zimmer gebracht, in das natürlich die Eltern der Kleinen, aber auch einige Schwestern, eine Seelsorgerin und ein Arzt mitkamen.

Winzige Händchen greifen nach der Mutter

Das Mädchen wurde vorsichtig herausgenommen und nach und nach wurden alle Schläuche abgeklemmt, lediglich das EKG lief weiter. Als ich anfing zu fotografieren (die Mutter hatte das Kind auf dem Arm), öffnete die Kleine die Augen und griff immer wieder mit den winzigen Händchen nach dem Daumen der Mutter und dem Finger des Vaters. Das war irgendwie surreal, anders kann ich das nicht beschreiben. Nach etwa 10 Minuten schloss das kleine Mädchen seine Augen für immer.

Intensiver als alles andere

Das war das zweite Kind, das ich bisher beim Sterben begleitet habe, alle anderen waren schon tot. Dadurch, dass die Kleine die Augen offen hatte und sich bewegt hat, war das aber ungleich intensiver als alles, was ich in diesem Bereich bisher erlebt habe. Die Bilder und der Film, die ich von ihr machen durfte, bedeuten neben den Erinnerungsstücken unglaublich viel für die Eltern. Sie sind sichtbarer Beweis dafür, dass das Kind da war, dass sie für kurze Zeit eine Familie waren. Sie helfen, die Kleine nicht zu vergessen. Erinnerungen verblassen – diese Fotos holen sie zurück, wenn man das Bedürfnis danach hat. Nicht nur visuelle Erinnerungen, sondern auch zum Beispiel Gerüche, Berührungen, Emotionen. Es war mir eine große Ehre, die kleine Mia zu den Sternen zu begleiten.

Oliver Wendlandt (*1966) ist Fotograf und Filmemacher. Der Vater von drei erwachsenen Kindern engagiert sich ehrenamtlich als Fotograf und als Pressesprecher bei „Dein Sternenkind“. Er lebt mit seiner Frau in Pfatter in der Oberpfalz. Dort betreiben sie eine Medienagentur. Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Auf das Leben!“ von Tina Tschage (adeo).

Angst vor dem Tod

„Vergangenes Jahr ist die Mutter der Freundin unserer Tochter (16) an Krebs gestorben. Seitdem hat unsere Tochter große Angst, dass entweder sie oder wir an Krebs erkranken und sterben. Wie können wir ihr helfen, einen Umgang mit dieser Angst zu finden?“

Es ist wunderbar, dass Sie Ihre Tochter so aufmerksam im Blick haben und dass Sie mit ihr im Gespräch sind. Die gemeinsame Verarbeitung von Trauer kann als positive, gemeinsam erlebte Zeit wahrgenommen und abgespeichert werden.

Verlässliche Beziehungen

Einen Trauerfall in einer befreundeten Familie oder in nahen Beziehungen mitzuerleben, ist sehr schwer auszuhalten und kann eine junge Frau überfordern. Dass wir endlich sind, ist eine Wahrheit, die Heranwachsende verständlicherweise weniger vor Augen haben. Vielmehr sind lebensfrohe Gedanken, wie das Leben zu genießen und Freude zu erleben, stärker vorhanden – und das ist auch gut so.

Sie können Ihrer Tochter helfen – wenn auch mit 16 Jahren sehr früh –, in die erwachsene Realität zu kommen. Es ist realistisch, dass tragische Ereignisse wie Krankheit und Tod in unser Leben treten. Trauernde Kinder und Jugendliche brauchen in erster Linie verlässliche und tragfähige Beziehungen zu für sie bedeutungsvollen Erwachsenen. Gehen Sie als Eltern offen und ehrlich mit eigenen Verlusterfahrungen um. Diese Offenheit und eigene Bewältigungsstrategien können Ihrer Tochter helfen. Vielleicht gibt es noch weitere Menschen in Ihrem Umfeld, mit denen Ihre Tochter über ihre Sorgen sprechen kann. Möglicherweise können auch diese Bezugspersonen auf Erfahrungen zurückgreifen, in denen sie mit Verlust umgehen lernen mussten.

Im „Hier und Jetzt“ leben

Gerade in der Zeit, in der Endlichkeit spürbar ist, ist es aber auch wichtig, sich der persönlichen Realität bewusst zu werden. Diese heißt: Im Moment haben wir uns noch. Es gibt keinen Anlass für Schreckensfantasien in unserer Familie, und es ist keine lebensbedrohliche Erkrankung vorhanden. Wenn es Ihnen gelingt, Ruhe und Zuversicht auszustrahlen, geben Sie Ihrer Tochter Sicherheit. Erinnern Sie sie daran, bewusst im „Hier und Jetzt“ zu sein. Das bedeutet: Ohne schlechtes Gewissen die Dinge zu genießen, die sie hat; bei ihrer eigenen Familiensituation zu bleiben; sich vor Augen zu führen, an was sie sich erfreuen kann. Dadurch lernt sie, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die schönen Dinge zu lenken und sich daran zu freuen. Ermutigen Sie sie, sich mit Freunden zu treffen, auszugehen und sich durch Orte oder Zeiten der Entspannung „Freiräume“ ohne Angst und Sorgen zu schaffen – wenn auch anfangs nur für ein paar Stunden.

Darüber hinaus kann es für Ihre Tochter hilfreich sein, Tagebuch zu schreiben, Gedichte zu verfassen, Musik zu hören, selbst zu musizieren oder Internetforen nach Umgangsstrategien zu durchforsten. Vielleicht ist für Sie als Familie auch die Ressource des Glaubens vorhanden und kann hilfreich in Anspruch genommen werden durch Gebet, Lobpreislieder oder biblischen Zuspruch. Für den Fall, dass diese Strategien nicht greifen, ermutigen Sie Ihre Tochter, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, in der geschulte Gesprächspartner sie im Prozess der Trauerbewältigung unterstützen können.

Sandra Schreiber ist Beraterin und systemischer Elterncoach in der christlichen Beratungsstelle „LebensRaum Gießen“.
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

„Mein Kind war dabei zu erlöschen“ – So erlebte Katharina die Krebserkrankung ihres Kindes

Für Katharina Weck ändert sich alles, als ihr Sohn Phileas an Leukämie erkrankt. Wie die Auseinandersetzung mit der Krankheit ihr Leben und ihren Glauben verändert hat.

Es ist ein kühler Donnerstagvormittag, als ich mich auf den Weg zu Katharina Weck mache. Etwa eine halbe Stunde Bahnfahrt heraus aus Berlin an den Stadtrand, ein Fußmarsch durch die ruhige Nachbarschaft. 2015 ist Katharina mit ihrer Familie aus dem lauten Berlin-Kreuzberg nach Brandenburg gezogen. In ein gemütliches Häuschen mit einem Kirschbaum im Garten und einem großen Kamin im Wohnzimmer.

Katharina Weck kommt eigentlich aus Niedersachsen, sie ist leidenschaftliche Sozialpädagogin, verheiratet mit Christopher und hat drei Söhne: Phileas (7), Mio (4) und Sashi (drei Monate). 2017 erkrankte Phileas an Leukämie. Über die zwei Jahre Therapie und was das mit ihr und ihrer Familie gemacht hat, hat Katharina ein Buch geschrieben.

Plötzlich zerbrechlich

Bei einer Tasse Tee sitzen wir zusammen und unterhalten uns. Katharina fotografiert neben dem Schreiben auch viel. Sie zeigt mir ein dickes Fotobuch, in das sie die Zeit der Krankheit eingefangen hat, Bilder von einem wilden Jungen in einer kleinen Familie, einem Jungen, der plötzlich untypisch schlapp ist, irgendwann an Geräten im Krankenhaus hängt, neben seinem kleinen Bruder so zerbrechlich wirkt, müde in Decken eingekuschelt, aufgedunsen, wie er irgendwann wieder Farbe bekommt, wieder tobt, ihm die Haare wieder wachsen. Durch die Seiten des Fotoalbums blätternd bekomme ich einen kurzen Einblick und eine Ahnung, wie viel Zeit zwischen der ersten und der letzten Seite, zwischen der Diagnose und einem „es geht wieder aufwärts“ liegt.

Katharina Weck: Die Zeit, die wir hinter uns haben, andern zu erklären, ist manchmal ganz schwierig, darum habe ich auch das Fotobuch gemacht. Es war gut, es Phileas zum Beispiel in die Schule mitgeben zu können, damit andere sich das vorstellen konnten. Ich glaube, wir Menschen neigen oft zu einem „Ah, alles ist gut. Jetzt hat er ja wieder Haare, Schwamm drüber“ und so ist es halt einfach nicht gewesen. So ist es jetzt nicht und so war es damals nicht.

Die Fotos erzählen von dieser Zeit, aber auch deine einfühlsamen Texte. Wie kam es dazu, dass du ein Buch über eure Geschichte veröffentlicht hast?
Ich bin ganz eifrige Tagebuchschreiberin und vor kurzem habe ich alte Texte gefunden. Ich habe mir anscheinend schon als Jugendliche mit Lesen und Schreiben die Welt erklärt – und mit Fotografieren. Das gefällt mir, Geschichten erzählen mit Bildern, mit Texten. Aber ich habe nie gedacht, dass ich mal ein Buch schreibe. Das ist wirklich aus der Not heraus entstanden. Ich habe einen Text geschrieben und den habe ich gepostet und sehr viele Reaktionen bekommen. Ab da habe ich immer wieder in den Momenten, in denen ich nicht mehr denken konnte, alles aufgeschrieben. Ab und zu habe ich das dann veröffentlicht und daraus sind Gespräche mit Leuten in ähnlichen Situationen und dadurch ein ehrlicher Austausch entstanden. Als ich dann alles nochmal geordnet und weitergeschrieben habe, war das auch Teil des Verarbeitens. Ich merke, vorbei ist das aber noch lange nicht. Gerade die Kinder fangen jetzt erst damit an, die Todesangst sitzt noch ganz schön tief in Phileas‘ Zellen.

Man kann sich nicht nicht verändern

Am Anfang, kurz nach der Diagnose, hast du geschrieben, dass ihr euch von der Krankheit nicht verändern lassen wollt …
Ja (überlegt), also das geht nicht (lacht). Also man kann sich nicht nicht verändern. Man bleibt nicht dieselbe Person, wenn man durch so etwas geht. Es war einfach so ein natürlicher Impuls, als wir die Diagnose bekommen haben, um das durchzustehen. „Du kriegst uns nicht klein, du scheiß Krebs.“ Daran habe ich mich auch lange festgehalten, indem wir trotzdem Dinge getan haben, die früher normal waren. Aber um so schlimmer es wurde, desto weniger ging das. Am Anfang war uns das noch nicht so klar.

Foto: Katharina Weck

Foto: Katharina Weck

Und langsam habt ihr es dann realisiert …
Ja, anfangs dachte ich, wir brauchen das nicht, wir gehören nicht auf die Kinderonkologie, in das alles. Irgendwann habe ich dann aber gemerkt, ich kann hier nicht unverändert herausgehen. Denn diese Todesangst, die sich bei Philli in den Zellen abgespielt hat, die liegt jetzt auf meinem Herzen, das habe ich auch jetzt noch. Es wird weniger, und dennoch gibt es immer wieder Momente, in denen alles wackelig ist. Geliebte Menschen leiden zu sehen, das ist super schlimm. Aber beim eigenen Kind, da ist das noch mal etwas Besonderes. Das Kind, das man auf die Welt gebracht hat, das man liebt, dem geht es plötzlich unglaublich schlecht und ist dabei zu erlöschen. Und ihm dann Sachen zumuten zu müssen, durch die es ihm noch schlechter geht, aber die er braucht, um zu überleben, das verändert einen. Und lässt einen alles überdenken. Manches sehe ich jetzt schwärzer, aber manches hat sich auch zurechtgerückt.

„Schlimm ist, sein Kind zu verlieren“

Du schreibst, dass du lernen musstest, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Meinst du das?
Genau, das mussten wir lernen. So anstrengend der normale Alltag jetzt wieder ist, schlussendlich schlafe ich abends zufrieden ein. Weil ich weiß, das ist nicht schlimm, schlimm ist, sein Kind zu verlieren. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass ich sogar das irgendwie akzeptiert hätte. Ich hätte ihn vielleicht loslassen müssen, so schrecklich das ist. Ich habe verstanden: Das Leben ist so, und der Glaube ist auch keine Garantie, dass schreckliche Dinge nicht auch passieren. Auch wenn Phileas nicht gestorben ist, trauern wir in gewisser Weise, weil er einen Teil seiner Kindheit verloren hat und die ganze Familie eine schreckliche Zeit hatte.

Irgendwann warst du in den zwei Jahren an einem Tiefpunkt. Du beschreibst im Buch, wie du im Wohnzimmer auf dem Boden liegst und nicht mehr aufstehen kannst. Dann schilderst du weiter: „Der Boden, an dem ich jetzt bin, ist auch der, der mich trägt.“ Da war noch keine Heilung in Sicht, und trotzdem fühltest du dich am tiefsten Punkt getragen?
Genau. Es gab kein „jetzt ist alles wieder gut“. Bisher bin ich durchs Leben recht einfach durchgekommen, habe die Dinge angepackt. Aber während der Erkrankung habe ich gemerkt: Im Grunde bin ich niemand, und das, was ich kann und mache und tue, das zählt im Grunde nichts. Jetzt, wo wieder etwas Normalzustand da ist, da packt man natürlich wieder Sachen an und das ist auch gut so. Aber diese Art zu glauben, das Wissen, das ist geblieben. Zum Beispiel bekomme ich jetzt oft die Rückmeldung: Du bist so stark. Nein! Im Gegenteil, ich war ganz schwach, verzweifelt. An dem Punkt musste ich alles abgeben.

Eine Extrem-Erfahrung von Loslassenmüssen …
Ja, ich habe gemerkt, ich kämpfe. Aber irgendwann musste ich sortieren: Wohin fließt das bisschen Kraft, das ich noch habe? Ich habe gemerkt, ich stecke so viel Kraft da hinein, ihn bei mir zu halten, das war irgendwann einfach nicht mehr möglich. Niemand konnte mir sagen, es wird alles gut. Da lag ich irgendwann auf dem Boden und habe gemerkt, ich kann ihn nicht retten, ich muss ihn loslassen. Und vertrauen. Nicht, dass Gott ihn heilt, sondern, dass Gott da ist, egal was passiert.

Danke-Tagebuch hilft

Aus dieser Erfahrung heraus ist für dich auch eine neue Überschrift über dein Leben entstanden: Eucharisteo. Was bedeutet das?
Das wurde inspiriert von der Autorin Ann Voskamp. Sie empfiehlt in ihren Büchern ein Danke-Tagebuch zu führen. Aufzuschreiben, was gut am Tag war, egal, wie voll der mit Mist war. Eucharistie, das Abendmahl, in dem man bittet, aber auch für das dankt, was man hat. Diesen Ansatz fand ich gut, dachte aber gleichzeitig: Wofür soll ich an so einem schrecklichen Tag dankbar sein? Und dann musste ich an den Kuchen der Nachbarin denken und an andere Gesten. Irgendwann hat sich das entwickelt, dann habe ich in den schlimmen Stunden in der Klinik, wenn Phileas im Krankenhaus alles vollspuckte und die Krankenpflegerin alles aufwischte, plötzlich Dankbarkeit verspürt, bei all dem Krebs in unserem Alltag. Und ich konnte meinen Sohn mit Dankbarkeit in den Arm nehmen, mit einem weichen Herzen. Das ist für mich Eucharisteo: Nicht für das Offensichtliche dankbar zu sein, sondern die Fähigkeit zu erlangen, in schlimmen Situationen die kleinen guten Momente zu finden, um zu überleben. Ich glaube, das war der Grund, dass wir nicht kaputtgegangen sind.

Foto: Katharina Weck

Foto: Katharina Weck

Am Schluss des Buches stellst du dir die Frage, was ist, wenn der Geist vom Krebs bleibt und ob es schlimm ist, wenn er bleibt. Wie meinst du das?
Alle vier Wochen müssen wir weiter mit Phileas zur Blutuntersuchung. Da sehen wir auch die ganzen Kinder, die gerade mittendrin sind. Das bleibt also präsent. Da bleibt man irgendwie genügsam und demütig. Ich meine, so oft vergesse ich das auch. Immer wieder sind der Krebs und diese Angst für uns ein Thema. Um die Wut darüber nicht in mich hineinzufressen, ist Eucharisteo immer wieder sehr notwendig. Zu sehen, wie viele Privilegien wir natürlich trotzdem haben. Dennoch ist dieses Leben eben nicht der Himmel und auf der Welt ist vieles ungerecht. Trotzdem ist Gott da. Ich weiß nicht, ob das Verarbeiten irgendwann vorbei ist. Darum möchte ich schon jetzt nicht daran verbittern, sondern es annehmen. Und mutig bleiben.

„Den Mut mussten wir bewusst zurückholen“

Zum Thema mutig bleiben. Oder den Mut wieder- aufnehmen: Irgendwann habt ihr die Entscheidung getroffen, dass das Leben weitergeht. Und jetzt schläft hier euer acht Wochen alter kleiner dritter Sohn, während wir uns unterhalten.
Ja (lacht). Dieser Schritt hat mir riesige Angst gemacht, das kannte ich vorher nicht von mir. Aber wir wollten dieselben bleiben, ja klar (überlegt). Der Mut kam nicht von alleine wieder. Wir mussten ihn bewusst packen und zurückholen. Niemand konnte mir den geben. Ich bin zu Gott gekrochen und habe mir die Zeit genommen, Gott wieder zu vertrauen.
So ein Zeichen davon, dass der Mut wieder ergriffen werden musste, liegt jetzt in der Wippe neben uns (lacht). Von einem Ausnahmezustand in den nächsten, da könnte man schon sagen bescheuert (lacht) und es war auch nicht einfach, auch die Schwangerschaft nicht, da ich eigentlich so erschöpft war.

Es war wahrscheinlich gerade erst alles dabei, wieder normaler zu werden, da holt die Erschöpfung einen erst richtig ein, oder?
Total! Aber wir haben dann auch gesagt, was nützt es zu warten, bis wir hier fertig sind. Es kann sein, dass wir hier nie fertig werden. Es wäre schön zu sagen: „So, der Krebs ist vorbei, jetzt kann es weitergehen.“ Aber wer weiß, wann es vorbei ist, wann wir wirklich sagen können: „Jetzt sind wir da fein raus.“ Unser kleiner Sashi ist jetzt nicht unsere Hoffnung, das legen wir ihm nicht auf die Schultern. Aber er ist ein Neuanfang, und den zwei großen Brüdern gefällt ihre Rolle. Phileas tut es gut, dass er jetzt nicht mehr der ist, um den sich alles dreht. Es gibt momentan viele kleine Momente, die so wertvoll sind.

Vielen Dank, für deine Offenheit. Und auch, wenn du nicht möchtest, dass man sagt wie stark du bist, empfinde ich deine Ehrlichkeit über dein Nicht-Stark-Sein als Stärke. Danke für das Interview!

Nach dem Interview unterhalten wir uns fast nochmal genauso lange darüber, warum Krankheit und Leid oft nur am Rand stattfindet, obwohl es sich fast in allen Leben abspielt. Warum wir diesen Teil so gerne auf Krankenhäuser und andere Ecken verdrängen, heraus aus dem alltäglichen Bewusstsein und unseren Gesprächen. Katharina erzählt, wie ihr Buch oft unter dem Thema Trauer aufgelistet wird. Es enthält auch eine ordentliche Portion Trauer, aber genauso auch eine große Portion Hoffnung. Und wir stellen fest, dass ein Teil dieser Hoffnung auch dadurch entsteht, dass wir unsere schweren und schmerzlichen Geschichten teilen. Katharina trägt mit der Geschichte von ihr und ihrer Familie dazu bei, den Blick zu öffnen für die Welt einer Familie mit der Diagnose Leukämie. Die Fotos, die vor mir liegen, und Katharinas Worte schaffen es Kloß-im-Hals-Schweres auszudrücken und gleichzeitig die hoffnungsvollen Momente festzuhalten.

Das Interview führte Marie Jäckel. Sie studiert in Berlin Politik und Soziologie.

„Wenn ich jetzt sterbe, höre ich nie wieder Bäume rauschen“: Till erzählt von seiner Angst vor dem Tod

Till Pfaff fürchtet sich unglaublich davor zu sterben. Jahrelang helfen nur Antidepressiva in höchster Dosis. Hier erzählt er seine Geschichte.

Ich bin Till, 40 Jahre alt. Ich habe Angst vor dem Tod.

Opa schläft

Es ist der 22. September 1985. Ich bin sechs Jahre alt und gerade eingeschult worden, ein kleiner blonder Frechdachs, aufgeweckt und sensibel. Wir wohnen seit Kurzem neben Oma und Opa im alten Schweinestall ihres stillgelegten Bauernhofes. Mein lieber Opa, der mich immer mit in den Wald nimmt, auf die Pirsch mit seinen Jagdhunden, der mir die heimische Pflanzenwelt erklärt und mich bei seinen Freunden stolz präsentiert, mich liebevoll auf den Schoß nimmt, ist im Krankenhaus, weil er operiert werden muss. Nichts Schlimmes, soweit ich weiß. Ich soll mit den anderen Enkelkindern ins Zimmer meiner Schwester kommen. Meine Mutter und meine Tante wollen uns etwas erzählen. Wir sitzen auf dem Bett und hören gespannt zu: „Opa ist eingeschlafen. Er war zu schwach und hat die Operation nicht überstanden. Er ist tot.“

Es ist 2019, Weihnachten. Fünf Monate Online-Therapie liegen hinter mir. Meine Therapeutin hilft mir, mich meiner Angst vor dem Tod zu stellen. 34 Jahre voller Fragen: Wie ist der Tod? Wie fühlt es sich an, wenn ich keinen Körper mehr habe, den ich steuern kann? Geht es Opa und den anderen inzwischen verstorbenen Menschen, die ich lieb habe, gut? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Kommt die Seele durch den Sarg, wenn ich begraben werde?

Die Brust zugeschnürt

Niemand in meiner Familie oder meinem Freundeskreis kann sich vorstellen, dass ich unter Ängsten leide. Ich bin ein geselliger Typ, der gern feiert und Quatsch macht. Humor ist meine Superkraft! Das Gefühl der Machtlosigkeit überkommt mich jedoch, wenn ich allein bin.

Ich stehe als Erster auf dem Fußballplatz, bin etwa 18 Jahre alt und wärme mich auf. Plötzlich die Frage: Was, wenn ich jetzt sterbe? Ich stoße einen leisen Schrei aus, um der plötzlichen Beengung in meinem Brustkorb ein Ende zu machen. Meine Mitspieler kommen auf den Platz. Niemand merkt etwas.

Es ist 2007. Wir haben seit August eine Tochter. Meine Frau macht mich darauf aufmerksam, dass ich im Schlaf immer mehr seufzen und „jiffeln“ würde. Sie ist der erste Mensch, mit dem ich – immerhin 22 Jahre nach Opas Tod – über meine Angst spreche. Ich suche mir einen Therapeuten, der allerdings keinen Zugang zu mir findet und mich mit Beerdigungsritualen gleich in der zweiten Sitzung überfordert. Die Angst bleibt, die Therapie liegt für die nächsten Jahre brach, da mein Vertrauen in eine solche Maßnahme erloschen ist. Immerhin: Ich bekomme nun ein Antidepressivum, das die Symptome bekämpft und in der höchsten Dosierung zu helfen scheint.

Der Angst auf der Spur

Herbst 2019: Ich halte es inzwischen mit Humboldt, der gesagt hat: „Was dir Angst macht, das erforsche.“ Anna, meine Frau, und ich sind auf dem Heimweg von einem Besuch bei Freunden. Ich fasse den Mut, ihr endlich genauer zu erzählen, was mich bedrückt und ängstigt. Das hätte ich längst tun sollen. Wir sprechen darüber, wie wir uns den Tod vorstellen, wie wir bestattet werden wollen. Ein kleiner Knoten im Geflecht meiner Angst löst sich.

Ich bin Anfang 20, fahre allein mit dem Auto durch die Gegend, an einem Wald vorbei, in dem ich hin und wieder jogge. Aus dem Nichts kommt das beklemmende Gefühl, dass ich den Wald, wenn ich jetzt sterbe, nie wieder sehen, die Bäume bei Wind rauschen hören oder die Tannennadeln riechen könnte. Hilflosigkeit! Ich fahre an den Rand, schreie, flehe zu Gott. Mit Menschen teile ich meine Angst nicht. Ich will kein „Psycho“ sein!

Spätsommer 2008, das Telefon klingelt, der Pastor. Ich hätte doch eine besondere Verbindung zur Kirche, sagt er. Ob ich nicht Lust hätte, im Kirchenvorstand mitzuarbeiten, fragt er. Er hat ja einen ganz guten Draht „nach oben“, denke ich. Warum nicht, frage ich mich und sage zu. Der Einsatz in der Kirchengemeinde, die Gemeinschaft mit Menschen, die im Glauben verbunden sind, die vielen neuen Menschen in meinem Umfeld und vor allem die intensive Auseinandersetzung mit den Geschichten der Bibel geben mir Kraft. Die Angst ist noch da, aber auch eine neue Möglichkeit, mich ihr zu stellen. Ich kann im Laufe der Jahre die Dosierung meines Medikaments um die Hälfte reduzieren. Gott sei Dank!

Gespräch mit Oma

Mit meiner Mutter sitze ich im November 2019 an ihrem Wohnzimmertisch. Ich habe Fragen. Wie stelle ich die nur, ohne ihr das Gefühl zu geben, ihr Vorwürfe zu machen? Sie weiß, dass es um Opas Tod geht. Ich muss das aufräumen, Fragen loswerden. Meine Wahrnehmung der Situation 1985 scheint zu stimmen. Ich lerne, dass Oma nicht wollte, dass sich jemand – auch nicht die Kinder – vom toten Opa verabschiedet. Was, wenn sich das Bild des toten Opas an die Stelle der positiven lebendigen Erinnerungen gestellt hätte? Davor hatte sie Angst. Niemand hat das in Frage gestellt. Im Trauergottesdienst hatten Kinder damals nichts zu suchen. Tod – ein Tabuthema! Mein Angstthema!

Während meiner Therapie stoße ich auf kleine Texte, die mir Mut machen. In einem heißt es, dass man sich in einer fremden Stadt verloren fühlt. Aber wenn ich in dieser Stadt nur einen Menschen kenne, der mich an die Hand nimmt und mir die Stadt zeigt, dann bin ich nicht mehr verloren. So ist es auch mit dem Tod. Jesus wartet auf mich und nimmt mich an die Hand. Mir gefällt dieser Vergleich.

Sprechen hilft zu leben

Als Kind habe ich nicht viele Fragen gestellt. Ab und zu mal gefragt, wo Opa jetzt ist. „Mein lieber Opa!“, hab ich immer gesagt, gefehlt hat er mir schon, vielleicht mehr als den anderen Kindern. Auffällig ist, dass ich ansonsten eher unauffällig war. Ich habe das mit mir ausgemacht, allein. Nah am Wasser gebaut war ich während meiner gesamten Kindheit. Manchmal war ich besonders albern, habe „schwierige Situationen“ mit Humor überspielt. Das Tabu, über Angst und Tod zu sprechen, war für mich – aus heutiger Sicht – immer präsent. Endlich kann ich darüber sprechen. Ich bin erleichtert.

Charlotta ist inzwischen 12 Jahre alt. Sie verbringt auf eigenen Wunsch ein halbes Jahr in Frankreich, lernt dort nicht nur eine andere Sprache kennen. Sie ist so mutig! Ich bin stolz, dass meine Tochter so stark ist. Und wenn sie mal auf ein Problem stößt – 1.500 km von zu Hause entfernt –, dann betet sie.

Oma stirbt

Ich merke, wie ich ein Stück loslassen kann. Wenn ich jetzt von einem Bus überfahren werde, dann hinterlasse ich eine selbstbewusste Tochter, die ihren Weg durchs Leben finden wird. Das haben Anna und ich gut gemacht. Ich beschließe mit meiner Therapeutin, die Dosis meines Antidepressivums zu halbieren.

10. September 2011: Oma ist tot, friedlich eingeschlafen in ihrem Geburtshaus. Sie liegt in ihrem Pflegebett, starr, mit einem Lächeln im Gesicht. In den Gottesdienst möchte Charlotta nicht mitkommen. Sie hat Uroma ja schon „Tschüs“ gesagt, als Pastor Hansen sie zu Hause ausgesegnet hat. Das war schön. Und wenn doch noch einmal die Trauer zurückkommt, lässt sie es einfach raus, stellen wir später fest. Ich bin etwas neidisch.

Kein Antidepressivum mehr

Was mir wohl geholfen hätte damals? Ein persönlicher Abschied? Der Hinweis, dass ich mich an Gott wenden darf? Die Aufmerksamkeit meiner Familie? Die Begleitung meiner Trauer durch Fachkräfte?

2020 steht vor der Tür. Seit 12 Tagen nehme ich kein Antidepressivum mehr. Verlorene Emotionen kämpfen sich – manchmal unkontrollierbar – in mein Leben zurück. Sind das Tränen? Die habe ich lange nicht auf meinen Wangen gespürt. Ich habe Menschen um mich, die mich lieben und verstehen, mir zuhören.

Ich bin Till, 40 Jahre alt. Ich bin mutig.

„Unsere Trauer will Ausdruck finden“

Monika Osmaston-Zakes wurde innerhalb von zwei Jahren mit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter und ihres Mannes konfrontiert. Bei diesen persönlichen Abschieden ist sie viele steinige Trauerwege gegangen. Und hat schließlich eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin gemacht. Mit ihrem Buch „Begleitet in meiner Trauer“ möchte sie anderen Trauernden auf ihren Wegen zur Seite stehen.

Ein Buch zum Thema „Trauer“ zu schreiben, stelle ich mir schwierig vor. Trauer ist ja sehr individuell, oder?
Ja, Trauer ist etwas sehr Individuelles. Je nachdem, wen ich verloren habe, unter welchen Umständen, je nach Lebensgeschichte und nach Temperament zeigt sich Trauer sehr unterschiedlich. Und trotzdem bewegt sie sich für jeden auch in ähnlichen Themenfeldern. Mein Trauerbuch sollte kein Rezeptbuch werden, sondern vor allem ermutigen zu einem eigenen Weg. Dadurch dass ich Beispiele aus meinem eigenen Erleben oder dem anderer Trauernder erzähle, will ich verschiedene Fenster öffnen: „Aha, so könnte ich damit umgehen.“ Und dann muss jeder schauen, was für ihn oder sie stimmig ist. Von daher sind es immer Angebote, aber keine Rezepte.

Gibt es denn bestimmte Phasen der Trauer?
Ich schreibe in meinem Buch nicht von Phasen, sondern von Gezeiten, in Anlehnung an Ruthmarijke Smeding und ihr Modell „Gezeiten der Trauer“. Ich finde die Bilder aus diesem Modell sehr passend: Die Schleusenzeit beginnt mit dem Eintritt des Todes und findet in der Beerdigung ihren Abschluss. Sie ist damit eine nicht wiederkehrende Zeit im Trauerprozess. Im Bild des Januskopfes – benannt nach dem römischen Gott Janus, der ein nach vorn und hinten gerichtetes Gesicht hat – kommt sehr treffend zum Ausdruck: Das, was war, ist nicht mehr, und die Zukunft ist noch nicht vorstellbar. Dies ist häufig begleitet von heftigen Trauerreaktionen. In der Labyrinthzeit geht es darum: Wer bin ich ohne den anderen? Und wie finde ich ohne den anderen in mein neues Leben? Hier ist das Labyrinth ein wunderschönes Bild: Ich gehe nicht verloren wie im Irrgarten, sondern ich werde meinen Weg finden – über viele Kehren und Wendungen. Ich werde zu meiner Mitte finden und auch wieder herausfinden aus der Trauer. Eine weitere der Gezeiten ist die Regenbogenzeit. Der Regenbogen steht ja schon in der Bibel für Hoffnung und für die Zusage Gottes: „Ich bin mit dir.“ Trauer ist kein linearer Prozess. Schon am Anfang des Trauerprozesses kann ich ganz viel Hoffnung und Trost empfinden, und dann wieder holen mich heftige Reaktionen ein, weil ich den anderen schmerzlich vermisse.

Heilt die Zeit alle Wunden?
Nein, das tut sie nicht. Die Zeit schafft Abstand zu dem, was geschehen ist. Die Zeit eröffnet mir einen Zeitraum, in dem Heilung geschehen kann. Aber die Zeit an sich heilt keine Wunden. Es gibt Trauerverläufe, in denen die Trauer nach ganz langer Zeit aufbricht, da sie vorher keinen Ausdruck gefunden hat.

Wie kann ich der Trauer denn Ausdruck geben?
Die Trauer will mir helfen, den Verlust in mein Leben zu integrieren. Wenn ich der Trauer Ausdruck gebe, dann wird sie sich mit der Zeit verändern. Eine Möglichkeit, der Trauer Ausdruck zu geben, ist es, den Tränen freien Lauf zu lassen und zu wissen, dass darin auch der Schmerz abfließen kann. Tränen signalisieren ja auch den anderen: Ich brauche euch jetzt, ich brauche eure Nähe, eure Zuwendung. Wenn ich Menschen habe, die dafür offen sind, kann ich mich ihnen mitteilen. Oder ich kann kreative Ausdrucksformen finden. Ob im Erzählen, im Schreiben, im Gestalten, im Weinen, im Schreien, in der Klage Gott gegenüber. Und dann kann sich langsam etwas verändern. Und sich vielleicht in Dankbarkeit, vielleicht in neue Zuversicht wandeln.

Sie haben gerade die Klage Gott gegenüber erwähnt. Wie kann der Glaube in der Trauer helfen?
Auf ganz vielfältige Weise. Zum einen bietet mir der Glaube einen Raum und ein Gegenüber für meine Klage. Meine Klage geht nicht ins Leere, ich kann darüber mit Gott ins Gespräch kommen. Sie ihm vor die Füße werfen. Mit ihm ringen. Und selbst wenn ich keine Worte finde, hört Gott meinen stillen Schrei. Und der Glaube gibt mir eine Hoffnung, die Hoffnung auf Auferstehung. Er gibt mir damit auch einen Platz für den Verstorbenen. Ich glaube, alle Trauernden fragen sich nach dem Tod eines nahen Menschen: Wo ist mein Verstorbener jetzt? Und jeder macht sich ein Bild. Hier hat der Glaube ganz starke Hoffnungsbilder. Und das kann mich mit meinem Verstorbenen verbinden, dass er bei dem Gott ist, an den ich auch glaube. Außerdem hilft der Glaube durch seine Rituale: sowohl die gemeinschaftlich praktizierten wie das Totengedenken am Ewigkeitssonntag, die Auferstehungsfeier am Ostermorgen oder die Fürbitten in der Kirche, als auch die individuell praktizierten, indem Sie ein Abendgebet sprechen oder morgens Ihren Tag bewusst mit Gott beginnen. Ich finde, dass der Glaube eine große Stütze und eine große Stärke sein kann.

Wo finde ich Hilfe, wenn ich merke, dass ich allein nicht klarkomme?
Sie können sich an das örtliche Hospiz wenden. Hospize haben meist nicht nur Angebote für sterbende Menschen, sondern auch für trauernde Menschen: Einzelbegleitungen oder Trauergruppen, Trauercafés oder Trauerseminare. Im Internet findet man auch verlustspezifische Angebote, wie den Verband für verwaiste Eltern, für verwitwete Menschen oder für Angehörige nach Suizid oder Gewaltverbrechen. Der Bundesverband Trauerbegleitung hat eine Homepage, wo man lokale Trauerbegleiter/innen finden kann. Niemand muss allein unterwegs sein. Es gibt vielfältige Angebote.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Bettina Wendland.

 

Buchtipp: Monika Osmaston-Zakes: Begleitet in meiner Trauer. Ein Hoffnungsbuch für schwere Zeiten (SCM Hänssler)

„Weihnachten war Überleben“: Bruder nimmt sich an Heiligabend das Leben

Das Weihnachtsfest ist für den Gospelsänger Chris Lass mit einer Familientragödie verknüpft: Sein Bruder begeht am Heiligen Abend Suizid. Doch Chris findet einen Weg aus der Trauer – und bricht dabei mit allen Traditionen.

Das Weihnachtsfest 1999 war in vielerlei Hinsicht gewöhnlich. Das Wirtschaftsmagazin „Brand Eins“ titelte „Oh, My Holy Creditcard!“ und das Orkantief „Lothar“ verhagelte so manchem Feierwütigen die besinnlichen Abendstunden. Nicht so Familie Lass: In Bremen saß Chris mit seiner Familie im 17 Uhr-Weihnachtsgottesdienst, voller Vorfreude auf den Kartoffelsalat mit Bockwurst – den besten der Welt, klar! –, holte Oma zur Bescherung ab und zeigte, was er so im Klavierunterricht gelernt hatte. Christmas as usual also. So unbeschwert wie an diesem Abend sollte es trotzdem nicht wieder werden. Denn als sich Olli, Chris’ großer Bruder, an diesem Abend verabschiedete, ahnte noch keiner, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen würden. Olli nahm sich in dieser Nacht das Leben.

Nie wieder so wie früher

Für den 15-jährigen Chris bedeutete es das Ende des kindlichen Weihnachten, wie er es kannte. Beim ersten Weihnachtsfest nach Ollis Tod hofften noch alle, es würde wie immer. Aber daran war angesichts der traurigen Erinnerung nicht zu denken. „So eine Situation verwirrt einfach alle“, sagt Chris heute mit Blick auf damals. Irgendwie hatte jeder seine Strategie, mit der Situation umzugehen. Die Familienrollen wurden neu verhandelt. Die Eltern kämpften mit der Trauer, Chris fühlte sich verantwortlich, für den „anwesenden Teil der Familie“ Atmosphäre zu schaffen. „Da fing ich an, zum jungen Erwachsenen zu werden und hab mir gesagt: Sorg dafür, dass es für deine Eltern angenehm wird. Für dich wird’s eh nicht geil.“

Einer fehlt immer

In den Folgejahren wurden die Rituale zu Ankern, an denen sich die Familie festhielt. Aber der Charakter von Weihnachten hatte sich ein für allemal gewandelt. „Weihnachten war kein fröhliches Fest mehr. Weihnachten war Überleben. Du kannst dich mental überhaupt nicht darauf einstellen, bis du das 2-3 Mal erlebt hast. Du guckst in die Runde und da fehlt halt jemand.“ Äußerlich änderte sich nicht viel, aber Olli war Jahr für Jahr mit im Raum – ob man über ihn sprach oder nicht. In dieser Zeit lernte Chris – eigentlich, wie er sagt, ein „sehr emotionaler Mensch“ –, seine Gefühle zu kontrollieren und den Raum zu geben, der ihnen zusteht. „Ich versuche mich da zu disziplinieren: Wenn ich nicht in dem Raum bin, in dem die Emotion wohnt, dann darf die auch nicht da sein. Also: Ende November ist noch nicht die Zeit, traurig zu sein. Denn es ist noch nicht Weihnachten.“ Den Advent über gibt er seinem Weihnachtsschmerz keinen Raum, spielt Gospelkonzerte und Firmenfeiern mit „Jingle Bells“ und „Chestnuts Roasting on an Open Fire“. An Weihnachten selbst sieht er den Schmerz in den Augen seiner Mutter. Weihnachten zerbricht in fröhliche Oberflächlichkeit und familiäre Traurigkeit.

Neuer Raum, neues Glück

Dann kommt Sandra in sein Leben und mit ihr der Wunsch, der bedrückenden Tradition ein Schnippchen zu schlagen. Der Wandel kommt mit einer Banalität: einem Raumwechsel. „Das ist ja einfachste Psychologie: Wenn du in den Raum gehst – also ganz im Sinne des Wortes –, dann hat dieser Raum Macht über dich. Du kannst nicht in die Kirche gehen und so tun, als wärst du in einer Disko. Der Raum diktiert dir, wie du dich benimmst. Da haben wir uns gedacht: Lass uns doch mal komplett diese Mechanik aushebeln und woanders hingehen.“

Bye Tradition

Weihnachten 2012 wird ihr Wendepunkt. Sandra und Chris entscheiden sich, Weihnachten diesmal anders zu feiern, und laden seine Eltern zum Abendessen in ein kleines Hotelrestaurant ein. Der Raum, der für gut 30 Personen Platz bietet, ist spärlich gefüllt. An einem zweiten Tisch sitzt ein Paar, außerdem noch ein Typ allein. Über allem der Geist der Weihnacht und Musik zwischen Sinatra und Remixes von Christina Aguilera. Die Stimmung: heiter. „Du beobachtest erstmal die anderen. Warum sind die denn wohl hier? Jeder, der Weihnachten in einem Hotel feiert, hat seinen Grund.“ Schnell kommt man ins Gespräch mit dem Kellner, der revanchiert sich mit einer 1A-Führung durchs Hotel. Chris isst Ente mit Rotkohl – wie der Papa. Und jeder fragt sich: Warum gab es über all die Jahre eigentlich Würstchen mit Kartoffelsalat? Familie Lass erlebt das erste Weihnachten in Freiheit.

Mehr tiefe Musik

Gleichzeitig häufen sich die Ereignisse, die Chris ins Nachdenken über den Wert des Weihnachtsfestes und der Weihnachtslieder bringen. Auf Betriebsweihnachtsfeiern spielt er als Chorleiter jahrelang „ganz stumpfe Weihnachtsmusik“, bis ihm einer aus dem Chor zurückschreibt: „Boah, ist aber schon ein bisschen flach, oder?“ Eine satte Ohrfeige. „Das tat mir richtig weh, weil mir bewusst war, dass die Songs, die wir spielten, mehr Entertainment als Theologie waren. Ich wusste gerade selbst nicht, wie ich diesen inneren Konflikt in mir auflösen sollte, und jetzt wurde voll mit dem Finger drauf gezeigt.“ Andererseits erlebt Chris die Kraft der Weihnachtshymnen, als eine Frau auf Umwegen erst in ein Gospelkonzert von Chris gelangt und dann in der Krise eben diesen Ort wieder aufsucht, an dem sie diese Form von Verbundenheit mit Christen erlebt hatte. Chris und sein Chor werden zu ihrer Taufe eingeladen, auf der sie dann die volle Story erfahren. „Da wurde mir bewusst: Die Frau kam in die Kirche, weil auf dem Plakat ganz schlicht ‚Weihnachtsgospel‘ draufstand. Das war nicht irgendwie tief, aber es war der Beginn ihrer Reise. Mir hat das Mut gemacht. Die Dinge müssen nicht immer ‚deep‘ sein, damit sie am Ende ‚deep‘ werden können.“

Weihnachten als Lebensthema

Für Chris ist das einer der Auslöser zu sagen: Weihnachten ist eines der Themen, zu denen er mehr beitragen kann, als er vermutet. Weil er sich an den Kern des „frohen Fests“ heranrobben musste. Und das tut er dann auch. So, wie es ihm am besten liegt: musikalisch. Seit 2010 ist er hauptberuflich im Musikbusiness unterwegs, arbeitet als Songwriter, Produzent, Sänger und Chorleiter. Zum Weihnachtsfest 2016 bringt er schließlich sein eigenes Weihnachtsgospelalbum heraus – teils mit bekannten Gospelsongs, aber es sind drei Eigenkompositionen dabei, in denen er sich mit dem Kern von Weihnachten auseinandersetzt. „Ein Kind wurde für dich und mich geboren“, heißt es im Song „Have you heard?“. Und: „Es bringt uns Hoffnung, die uns freimachen kann.“ Frei. Auch von der Trauer.

Weihnachten zelebrieren

Und jetzt? Chris und Sandra laden beide Eltern zu sich nach Hause ein. Chris wird vorher noch das Auto durch die Waschstraße schieben und den besten Anzug aus dem Kleiderschrank holen. „Früher dachte ich: Ich zieh mir doch jetzt keinen Anzug an, wenn ich gleich eh auf der Couch lande.“ Heute setzt er bewusst einen Kontrast zum Alltag. Kulinarisch bedeutet das Rehrücken oder Rumpsteak statt Bockwurst und Kartoffelsalat. „Damit werde ich mich nicht mehr zufrieden geben.“ Dafür aber mit „Feliz Navidad“. Denn Weihnachten ist inzwischen auch biografisch ein richtig frohes Fest.

Motorradunfall in Peru: „Ich habe meine Tochter verloren, aber nicht meinen Glauben.“

Vor einem Jahr starb Lara Barthel während eines Auslandsaufenthaltes. Ihre Mutter Anja schreibt darüber, wie sie diese schreckliche Zeit durchgestanden und was ihr geholfen hat.

Im Sommer 2018 empfinde ich eine ganz neue, ungewohnte Leichtigkeit. Meine Kinder sind jetzt 13, 17 und 18 Jahre alt. Im September möchte ich eine Ausbildung zur PTA beginnen, nachdem ich mich 18 Jahre lang außer Minijobs fast ausschließlich um Kinder und Haushalt gekümmert habe.

Alles ist gut

Ich bin stolz auf Lara, unsere älteste Tochter, die nun ihr Abitur, ihren Führerschein, große Lust auf das Leben und eine Menge Pläne hat. Am 23. August bringen wir sie zum Flughafen. Sie möchte für ein Jahr in einem Projektzentrum in Peru arbeiten. Dafür hat sie extra Spanisch gelernt. Sie wird sich dort für die Rechte der indianischen Völker, sozial benachteiligte Kinder und den nachhaltigen Umgang mit der Natur einsetzen und ist voller Vorfreude und Tatendrang. Lara kommt gut in Peru an, lebt sich prima in ihrer neuen Umgebung ein, hat weder Heimweh noch sonstige Schwierigkeiten. Sie meldet sich selten, schickt kaum Fotos, und ich möchte ihr nicht mit meiner Anhänglichkeit auf die Nerven gehen. Am 19. September, sie ist inzwischen seit vier Wochen in Peru, ruft sie mich zum ersten Mal per Videoanruf an. Auch ihre Geschwister sind da, und wir können über eine Stunde mit ihr sprechen. Es geht ihr ausgesprochen gut. Darüber bin ich sehr glücklich. Das Leben erscheint mir spannend und unbeschwert. Doch es sollte das letzte Mal sein, dass wir miteinander sprechen können.

Polizisten vor der Tür

Zwei Tage später ist es mit dieser Unbeschwertheit vorbei. Um 23:45 Uhr klingelt es an der Haustür. Mein Mann ist in Rom auf Klassenfahrt, die beiden Kinder schlafen schon. Ich öffne das Fenster und sehe zwei Polizisten. Im ersten Moment denke ich, dass ich falsch geparkt oder aus Versehen ein Auto angefahren habe. Sie fragen, ob ich Frau Anja Barthel sei und ob sie hereinkommen können.

Mir wird etwas komisch, aber noch befürchte ich nichts wirklich Schlimmes. Als sie im Hausflur stehen, fragen sie mich, ob ich eine Tochter namens Lara habe, die in Peru arbeitet. Vielleicht wurden bei Lara Drogen entdeckt, denke ich. Oder es gibt politische Unruhen. Aber mein Herz klopft schon gewaltig, und ich bekomme Angst. Dann sagen sie den fürchterlichen Satz, den ich nur aus Filmen kenne: „Wir haben eine traurige Nachricht für Sie …“ Es fängt in meinen Ohren an zu rauschen, meine Knie werden weich, ich hebe abwehrend die Hände und sage immer wieder „Nein, nein, nein …“ Ich weiß, was jetzt kommt. Nun weiß ich es sicher. Und da sagt der Polizist: „Ihre Tochter Lara hatte einen Motorradunfall. Sie ist tot.“

Im Schockzustand

Alles verschwimmt vor meinen Augen. Ich versuche, meine Augen aufzureißen, weil ich glaube, mich in einem Alptraum zu befinden. Ich fühle mich wie gelähmt und stumm. Ich kann mich nicht erinnern, was dann geschieht. Irgendwann sitzen meine Schwiegereltern bei uns im Wohnzimmer. Sie erscheinen mir um Jahre gealtert. Irgendwann kommen Nachbarn rüber, dann meine Freundin. Sie bleibt die ganze Nacht bei mir. Ich bin in einem absoluten Schockzustand. Die folgende Nacht ist die schlimmste meines Lebens. Ich schlafe nicht eine einzige Minute. Irgendwie erzähle ich es den anderen beiden Kindern. Ganz schonungslos.

Endlose Traurigkeit

Die folgenden Tage erlebe ich wie in Trance. Das Haus füllt sich, es kommen Freunde und Familie. Man stellt mir Essen und Trinken hin, sagt, ich solle schlafen. Aber ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht essen. Ich kann nicht denken. Als mein Mann am Samstagmittag von der Klassenfahrt nach Hause kommt, wirft er sich auf den Boden und weint laut. Wir liegen uns mit den Kindern in den Armen und fallen in eine endlose Traurigkeit und Verzweiflung. Ich bin noch zu erstarrt, um richtig zu weinen. Man bringt mir Beruhigungsmittel, aber ich will sie nicht nehmen. Ich will alles, was jetzt kommt, ganz genau spüren, auch wenn es noch so weh tut.

Motorradunfall

Die ersten Tage übernehmen enge Freunde und Nachbarn Telefonate mit Versicherungen, Botschaft und Beerdigungsinstitut. Ich schaffe es auch nicht, entfernt wohnende Angehörige und Freunde über Laras Tod zu informieren. Meine Familie aus Süddeutschland trifft ein und kümmert sich. Mein Schwager findet über Facebook ein Video, in welchem von einem peruanischen Radiosender über den Unfall in Villa Rica berichtet wird. Lara befand sich als Beifahrerin auf einem Motorrad. Wegen eines entgegenkommenden LKWs wich die Fahrerin aus, wobei Lara gegen den LKW geschleudert wurde. Durch den Aufprall erlitt sie einen Genickbruch. Sie war sofort tot. Die Fahrerin überlebte schwerverletzt.

Ich sehe den riesigen LKW auf dem Bildschirm des Laptops, und ich sehe mein totes Kind auf der Straße liegen. Es ist furchtbar. Viele Menschen stehen dort herum, und mitten auf der Straße liegt mein Kind. Tot. Und ich kann nicht bei ihr sein. Wie soll ein Mensch das ertragen?

Zum allerletzten Mal

Die folgenden Tage lebe ich darauf hin, Lara noch einmal wiedersehen zu können. Am Abend des 2. Oktober kommt Laras Körper bei unserem Bestatter an. Wir wollen sie gern selbst ankleiden und in den Sarg betten. Doch nachdem der Bestatter den Zinksarg geöffnet hat, kommt er persönlich bei uns zu Hause vorbei und rät uns davon ab, Lara noch einmal zu sehen. Sie ist nun schon zwölf Tage tot, musste quer über die Anden transportiert werden und durch den Genickbruch und die anderen Verletzungen sei ihr Körper nicht in einem Zustand, den man uns zumuten möchte. Aber ich muss mein Kind sehen, um ihren Tod zu begreifen! Es ist mir egal, wie Lara aussieht. Wir einigen uns darauf, dass die Bestatter Lara ankleiden und sie so herrichten, dass wir uns am nächsten Tag von ihr verabschieden können.

Lara ist längt fort

Als ich Lara im Sarg liegen sehe, erkenne ich sie nicht wieder. Sie sieht nicht schlimm aus, nur ganz anders. Wir haben drei Tage hintereinander viel Zeit, um uns von ihr zu verabschieden. Ich kann sie sehen und anfassen und begreife, dass das der Körper meines Kindes ist. Aber Lara ist längst fort. Ich erkenne ihre Hände, ihr Muttermal am Bauch, ihre Augenbrauen. Aber ihr Körper ist mir fremd. Ich streichle über ihre wunderschönen, blonden Haare, ihr Gesicht. Es ist kaum etwas „kaputt“ an ihrem Körper, sie hat nur ein paar Schürfwunden und eine Verletzung am Ohr. Sie ist eiskalt. Alles an ihr ist schwer. Ich bin froh, dass ich mich so von ihr verabschieden kann, ihr noch mal nah sein kann. Dass ich sie noch mal berühren kann. Zum allerletzten Mal.

Und gleichzeitig ist so offensichtlich, dass Lara schon längst nicht mehr in diesem Körper ist, dass sie längst woanders ist, an einem schöneren Ort. Ich spüre, dass es ihr dort gut geht. Es wird mir nicht so schwerfallen, diese Hülle von ihr zu beerdigen. Die Vorstellung, mein Kind in die dunkle, kalte Erde hinunterzulassen, erschien mir zuvor unerträglich. Ich dachte, die Beerdigung könnte ich nicht überstehen. Doch nun weiß ich, dass ich es schaffen werde.

Ort des Trostes

Die nächsten Tage sind ausgefüllt mit den Vorbereitungen für die Beerdigung und den Abschiedsgottesdienst. Am Tag der Beerdigung bin ich ganz ruhig. Und ich bin überwältigt, als ich die vielen Menschen – etwa 500 – wahrnehme, die gekommen sind, um Lara auf ihrem letzten Weg zu begleiten.

Während des Abschiedsgottesdienstes vergieße ich keine einzige Träne. Danach wird Laras Sarg zu uns nach Hause gebracht. Von dort wird er von engen Freunden und Verwandten zum Friedhof getragen. Als der Sarg in die Erde hinuntergelassen wird, werde ich mir zum ersten Mal dieser Endgültigkeit bewusst. Der Schmerz ist kaum zu ertragen. Lara ist tot. Nie wieder wird sie zu uns nach Hause zurückkehren. Wir müssen uns nun von ihr verabschieden. Für immer.

Wir werden es gemeinsam durchstehen

Wir werfen Blütenblätter und Physalis hinunter auf ihren Sarg. Mein Mann, Mila, Silas und ich. Dann gehen wir zur Seite und bleiben neben Laras Grab stehen. Viele Menschen kommen zu uns, nehmen uns in den Arm und wünschen uns viel Kraft, diesen schweren Verlust zu überstehen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das durchstehen würde. Aber nun fühle ich mich getröstet. Jede einzelne Umarmung gibt uns Trost und Kraft, und ich bin zuversichtlich, auch wenn wir das Schlimmste erfahren müssen, was Eltern passieren kann: Wir werden es gemeinsam durchstehen.

Bei uns zu Hause hat die gesamte Nachbarschaft ein Zusammenkommen organisiert. Dort stehen Pavillons vor dem Haus, Tische und Bänke. Es gibt reichlich Essen und Trinken, und es sieht alles schön und einladend aus. Die Sonne wärmt uns mit ihren letzten, herbstlichen Sonnenstrahlen. Man meint, sie hätte ihre allerletzten Kräfte genau für diesen Tag aufgespart, um uns in unserer Trauer und unserem Schmerz zu wärmen. Es wird viel geredet und viel geweint. Und trotz all dieses ungeheuerlichen Schmerzes und der endlosen Trauer empfinden wir unser Zuhause mit all den nahestehenden Menschen und dieser liebevollen Nachbarschaft als einen Ort des Trostes und der Hoffnung.

Erinnerungen teilen

Was mir sehr geholfen hat, ist ein Buch von Roland Kachler („Meine Trauer wird dich finden“), der selbst einen Sohn durch einen Unfall verloren hat. Es erleichterte mich zu lesen, dass die Liebe niemals aufhört und ich weiter eine Beziehung zu Lara haben kann. Und so zweifle ich nicht mehr an meinen Gefühlen, sondern lasse sie zu, weil sie richtig sind. Außerdem hilft mir meine Familie, für die es sich lohnt, weiterzumachen. Ich habe noch zwei Kinder, die ich liebe und die mich brauchen. Und einen Mann, der mich liebt und den ich liebe. Außerdem freue ich mich über meine kleine Nichte Lina, die im Dezember geboren wurde und die zum Gedenken an unsere Tochter mit zweitem Namen Lara heißt.

Was mich trägt, ist die Hoffnung, dass wir Lara eines Tages wiedersehen. Ich habe meinen Glauben an Gott nicht verloren. Ich weiß nicht, warum Gott den Unfall nicht verhindert hat, aber ich vertraue ihm, dass er weiter für uns sorgt. Wenn alles nur glatt liefe auf dieser Welt, dann würde Gott uns nur wie Marionetten in einem Puppenspiel unsere Rollen spielen lassen. Ich habe mich für Gott entschieden, und ohne diese Entscheidung und ohne die Hoffnung, Lara wiederzusehen, könnte ich nicht weiterleben.

Menschen sind da

Was mich tröstet, sind all die lieben Menschen, die mich immer wieder anrufen und besuchen, die uns Mittagessen oder Kuchen vorbeibringen, die uns auf der Straße ansprechen und uns nicht aus dem Weg gehen. Die Verkäuferin aus dem Bioladen, die mich einfach in den Arm nimmt. Die Kieferorthopädin meiner Kinder, die mit einem Blumenstrauß vor unserer Tür steht und mir zum 42. Geburtstag gratuliert, den ich vergessen habe. Die Freundinnen von Lara, die mir so viel Schönes von Lara erzählen, was ich noch nicht wusste. Meine Nachbarin, die mir täglich eine Nachricht schreibt und mich mit guten Ratschlägen verschont.

Was es etwas leichter macht, ist, dass Lara keine Angst hatte, dass sie sofort tot war und nicht gelitten hat, und dass sie in den letzten Wochen ihres Lebens glücklich war.

An Laras Grab

Was mir gut tut, ist eine gute Balance zwischen Alleinsein und Zusammensein mit Menschen, die mir nahe stehen. Es hilft mir auch, über Lara zu sprechen und mich an schöne Erlebnisse mit ihr zu erinnern, auch wenn es gleichzeitig schmerzt. Ich bin auch gern an Laras Grab und mache dort alles schön. Nahe fühle ich mich Lara dort nicht. Ich kann auch nicht mit ihr reden. Aber ich zeige ihr meine Liebe, indem ich etwas einpflanze und schöne Blumen niederlege. Lara ist in meinem Herzen und überall um mich herum. Im Wind, in der Wärme der Sonne. Bei Gott. Eine konkrete Vorstellung davon habe ich nicht, aber ich habe das Vertrauen, dass es ihr bei Gott gut geht.

Was den Schmerz lindert? Der Schmerz kann durch nichts gelindert werden, er wird mich mein Leben lang begleiten. Ich will ihn auch gar nicht loswerden, weil ich mich durch ihn mit Lara verbunden fühle. Ich glaube nicht, dass ich einmal wieder richtig glücklich werde. Zu viel wurde mir genommen. Ich freue mich über Mila und Silas und meinen Mann und gute Freunde. Aber ich glaube nicht, dass ich jemals wieder tiefes Glück empfinden kann.

Ein besserer Mensch

Was sich verändert hat: Es kamen neue Menschen in unser Leben, und andere sind verschwunden. Zu sehr hat es mich verletzt, dass einige Menschen sich nie wieder gemeldet haben. Kleinigkeiten regen mich nicht mehr auf. Früher habe ich mich ständig geärgert oder aufgeregt, doch nun nehme ich diese Dinge gar nicht mehr wahr. Ich bin langsamer, aufmerksamer, geduldiger, demütiger, nachsichtiger und verständnisvoller geworden. Eigentlich bin ich ein besserer Mensch geworden und finde es tragisch, dass ich dies erst wurde, nachdem ich mein Kind verloren habe.

Was verletzt, sind Menschen, die uns aus dem Weg gehen, als hätten wir eine ansteckende Krankheit, und Leute, die meinen, uns Ratschläge geben zu müssen.

Briefe an Lara

Die Zukunft ist ungewiss. Ich habe zu viel verloren und habe niemals im Leben die Sicherheit, dass nicht noch ein weiterer Verlust folgt. Ich habe Angst. Wenn mein Sohn den Motorradführerschein hat, werde ich immer Angst haben, wenn er unterwegs ist. Aber ich will ihn mit meiner Angst auch nicht behindern, Dinge zu tun, die er gerne tun möchte. Ich habe Angst vor dem Zeitpunkt, an dem auch unsere jüngste Tochter auszieht und ihre eigenen Wege geht. Angst vor Einsamkeit. Aber ich vertraue weiter auf Gott, dass er mich trägt und mir einen Weg zeigt, den ich gehen kann. Meine Ausbildung zur PTA werde ich nicht fortsetzen. Mir fehlt die Kraft dazu. Ich brauche viel Zeit und Ruhe, schlafe und lese viel, und ich schreibe Briefe an Lara und schreibe meine Träume auf. Diese intensive Zeit der Trauer ist wichtig für mich. Ich möchte sie mir nehmen. Mein Mann hat fünf Wochen nach Laras Tod wieder angefangen zu arbeiten. Ihm tut die Ablenkung gut. Die Kinder sind eine Woche nach Laras Tod wieder zur Schule gegangen. Sie wollten das und es tut ihnen gut, eine Tagesstruktur und Aufgaben zu haben.

Die Liebe ist das Wichtigste

Der Glaube an Gott ist wichtig, und das Vertrauen, dass er es gut mit uns meint. Auch wenn wir manches nicht verstehen. Und die Hoffnung ist wichtig. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben, und dass wir Lara eines Tages wiedersehen. Aber die Liebe ist das Wichtigste im Leben. Und das Füreinanderdasein. Das habe ich gelernt.

Für die Liebe lohnt es sich zu leben. Denn sie hört niemals auf. Sie bleibt bis in alle Ewigkeit.

Anja Barthel ist seit 20 Jahren verheiratet und Mutter von drei Kindern. Sie ist gelernte ländliche Hauswirtschafterin, zur Zeit Hausfrau und Mutter und lebt in Velbert.

„Meine Gefühle stritten mit meinem Glauben“

Ihr Kind zu begraben, hat Regina Neufelds Glauben an Gott, an einen guten, fürsorglichen Gott, stark erschüttert. Und dann gestärkt. Doch um zu dieser neuen Tiefe zu gelangen, musste sie den Zerbruch zulassen und sich den unangenehmen Fragen stellen, die sie als „gute Christin“ eigentlich nicht denken wollte.

Sechs Jahre ist es nun her. Wir hatten uns so auf unser drittes Kind gefreut. Und dann der Schock: Samuel hatte einen Herzfehler und andere Fehlbildungen. In der 34. Schwangerschaftswoche wurde er per Kaiserschnitt geholt und unsere Welt hörte auf, sich zu drehen. Er war zwar stabil, doch die Diagnose Trisomie 18 sagte uns, dass er nicht lange bei uns bleiben würde.

Wir haben gebetet. Viel gebetet. Und auch unsere Familien, Freunde, Bekannten und Menschen, die wir gar nicht persönlich kannten, haben für Samuel gebetet. Dass er gesund zur Welt kommen würde. Doch das ist er nicht. Dass er bald nach Hause kommen würde, um Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Doch auch diesen Wunsch hat Gott uns nicht erfüllt. An Tag 54 ist er vom Krankenhaus aus in den Himmel geflogen. Warum, Gott? Warum war Samuel krank? Warum hatten wir so wenig Zeit?

BETROGEN UND LEER

Ich kann die Menschen nur zu gut verstehen, die sagen, dass sie nach einer solchen Erfahrung nicht mehr an einen guten, liebenden Gott glauben können. Die Wahrheit ist: Wir sahen einfach keine Alternative. Wohin hätten wir gehen sollen? Wir wussten rein rational, dass Gott der Einzige war, der uns halten konnte, obwohl wir uns noch nie so von ihm im Stich gelassen fühlten. Meine Gefühle stritten mit meinem Glauben und ich musste entscheiden, welchen Weg ich einschlagen wollte.

Ich zog mich stark zurück in das dunkle Tal und wollte weder Menschen noch Gott an mich heranlassen. Enttäuschung, Verzweiflung und Wut konnten jedoch nicht meine Sehnsucht nach Gott auslöschen. Ich habe mich danach gesehnt, verstanden und gehalten zu werden. Mein Mann und unsere Kinder Benjamin und Hannah waren ein großer Trost für mich, aber sie konnten mich nicht dort erreichen, wo der Schmerz am größten war. Ich lag einfach da in dieser Dunkelheit, sah keinen Lichtstrahl und weinte und wurde dabei noch von meinem schlechten Gewissen geplagt, weil ich gegen Gottes Weg für mich rebellierte. Schließlich dienen denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten (nach Römer 8,28). Er weiß, was er tut. Er ist alles, was ich brauche. Und doch fühlte ich mich betrogen und leer.

IM DUNKLEN TAL DES TODES

Die Dunkelheit drohte, mir den letzten Lebensmut zu entreißen. Immer wieder versuchte ich, mich aufzurappeln und weiterzumachen mit dem Leben. Doch diesmal war nichts mehr da. Keine Kraft, keine Hoffnung. Plötzlich spürte ich einen starken Arm um meine Schultern. Eine warme Hand wischte mir die Tränen von den Wangen. Gott saß neben mir im Staub. Ich versuchte, mich aufzusetzen, doch ich war zu schwach. Trotzdem meinten meine geschwollenen Augen, dass es etwas heller geworden war. Gott wartete. Sagte nichts. Er hielt mich. Hielt mich aus. Mein Weinen, mein Schreien, mein Schweigen. Erst als ich mich etwas beruhigt hatte, umfasste er meine Hand und zog mich ein Stück höher. Mit der Zeit spürte ich mich wieder. Ich versuchte aufzustehen, und er stützte mich. Dann wagten wir den ersten Schritt. Wir kamen nur langsam voran, doch er drängte mich nicht. Er blieb dicht an meiner Seite und stützte mich. Der Weg hinaus aus diesem dunklen Tal war lang. Die Verzweiflung meldete sich wieder. Doch ich wusste: Mit Gott an meiner Seite würde ich es schaffen. Irgendwann würde ich wieder Licht sehen. Ich würde wieder leben. Ich würde wieder lachen.

Es ist meine Entscheidung, ob ich im Dunkel liegen bleibe oder mir aufhelfen lasse und dabei sage: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ (Psalm 73,23-26)

EIN LEBEN IN ALLEN FARBFACETTEN

Heute lebe ich mit einer tiefen Lebensfreude und mit Dankbarkeit im Herzen. Mein Glaube ist fester und weiter als vor Samuels Tod. Nicht aufgrund einer Leistung oder weil ich so stark wäre. Im Gegenteil. Ich hatte komplett aufgegeben, die Kontrolle losgelassen, meine Schwäche zugelassen. Und da war Gott. Mitten in meinem Leid. Gottes Gegenwart und Stärke in meiner Leere.

Kein strenger Blick, sondern mitfühlende Tränen. Als ich in seine Augen blickte, wurde das Warum immer kleiner, das Schwarz wurde – langsam – zu grau. Und heute ist mein Leben voller Farben – kräftige neben Pastelltönen, hier und da dunkle Schattierungen. Manchmal erlebe ich auch heute noch einen grauen oder tiefschwarzen Tag. Die Sehnsucht nach meinem Sohn raubt mir immer noch den Atem. Doch ich bin nicht allein. Gott versteht mich. Er hält mich. Und das genügt. Ich muss es nicht verstehen. Ich muss es nicht gut finden und ganz sicher nicht dafür dankbar sein. Stattdessen darf ich fühlen, was ich fühle und werde dabei ausgehalten, festgehalten und wieder hochgehoben.

GOTT IST GRÖSSER ALS MEIN WARUM

Ich glaube an Gott und seine grenzenlose Liebe. Nicht weil ich ihn verstehe oder es inzwischen leichter geworden wäre. Sondern weil er da ist, ohne mich zu drängen oder etwas von mir zu erwarten. Er gibt mir Zeit und hält meine Fragen und Klagen aus. Ich darf schwach sein. Ich darf wütend sein. Ich darf trauern. Meine Tränen sind Zeugen davon, dass die Liebe zu meinem Kind größer ist als der Tod. Und das ist auch mein Glaube, der sich auf das Wissen stützt, dass Gott auch dann bei mir ist, wenn ich ihn weder erlebe noch spüre. Er ist mitten in meinem Schmerz, tiefer als meine Wut und größer als mein Warum. Darum glaube ich noch immer.

Regina Neufeld

Regina Neufeld. Foto: Mel Erdmann

Regina Neufeld ist Autorin, Referentin und Bloggerin. Sie ist Ehefrau und Mutter von vier Kindern, drei auf der Erde und eins im Himmel. Über den Umgang mit Samuels Tod hat sie ein Buch geschrieben: Viel zu kurz und doch für immer. (Gerth Medien)