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Unerfüllter Kinderwunsch: „Habe mich nicht als ganze Frau empfunden“

Anna Koppri hat für ihr Buch „Wir – mit oder ohne Wunschkind“ mit Paaren gesprochen, die keine Kinder bekommen können. Im Interview erzählt sie, was es bedeutet, wenn der Wunsch nach einem Kind zum alles beherrschenden Thema wird.

Du schreibst in deinem Buch, dass es schwer „nachfühlbar“ ist, was Paare erleben, die sich ein Kind wünschen, aber keins bekommen. Kannst du die Dynamik, die sich da entwickelt, trotzdem mal beschreiben?

Ich denke, das ist eine ähnliche Dynamik wie bei anderem, das man ganz dringend herbeisehnt. Viele sehnen sich ja lange nach einem Partner – und es wird drängender, je älter sie werden. Bei mir war es so, dass ich mein Leben lang schon Mutter werden wollte und dann dachte: So, jetzt ist endlich der Zeitpunkt erreicht. Ich bin ein Jahr verheiratet, jetzt dürfen die Kinder kommen. Doch Monat um Monat ist keins gekommen. Irgendwann haben sich alle meine Gedanken um dieses ersehnte Kind gedreht. Wenn ich durch die Straße gelaufen bin, hab ich nur noch Kinder gesehen. Schon nach wenigen Monaten dachte ich: Was ist, wenn das bei mir überhaupt nicht klappt? Was ist, wenn sich dieser Lebenstraum niemals realisieren lässt?

Mir wurde immer klarer, dass ich das nicht in der Hand habe. Selbst wenn ich medizinische Hilfe in Anspruch nehmen würde, wäre nicht gegeben, dass sich meine Sehnsucht jemals erfüllen wird. Alle anderen Dinge haben in meinem Leben immer mehr an Bedeutung verloren. Ich habe mich gefragt: Wenn ich nie erleben darf, mein eigenes Kind im Arm zu halten, was hat das Leben dann noch für einen Sinn für mich?

Wie hat dein Mann das empfunden?

Den hat das weniger mitgenommen. Mein Mann hatte sich mit dem Gedanken angefreundet, bald Vater zu werden. Gleichzeitig wollte er sich als Künstler und Musiker finden und Projekte realisieren. Deshalb hatte er auch ein bisschen Respekt vor der Verantwortung, eine Familie zu gründen.

Briefe an das ungeborene Kind

War das schmerzhaft für dich, dass du die Sehnsucht nach einem Kind bei ihm zunächst nicht so gesehen hast?

Ich fühlte mich mit diesen starken Gefühlen grundsätzlich sehr alleine und unverstanden. Das fand ich sehr schmerzhaft. Es war aber auch unser gemeinsames Projekt. Wir haben alles Mögliche versucht, um die Fruchtbarkeit zu steigern. Manchmal habe ich mich meinem Mann gegenüber auch schlecht gefühlt, weil ich dachte, ich will jetzt unbedingt meinen Wunsch durchdrücken. Als ich dann das erste Mal schwanger war und das Baby nach ein paar Wochen verloren habe, hat er auch sehr getrauert. Seitdem war ein Kind noch mehr unser gemeinsamer Wunsch.

In deinem Buch schreibst du, dass du dich gerade in dieser Verlustphase deinem Mann sehr nahe gefühlt hast.

Ja, er hat sich in dieser Zeit auch frei genommen. Wir sind zusammen spazieren gegangen, haben darüber gesprochen und Briefe an das Baby geschrieben. Es war für mich sehr wohltuend, dass er diesen Verlust so stark empfunden hat und das ausdrücken konnte. Aber es kann auch ganz anders laufen. In meinem Buch beschreibt eine Frau, dass es ihr geholfen hat, sehr intensiv Tagebuch zu schreiben. Ihrem Mann hat sie manchmal die Tagebucheinträge zu lesen gegeben. Dadurch hatte sie das Gefühl, sich ihm mitteilen zu können, weil das in Gesprächen schwieriger war. Es ist wichtig, dass ich dem anderen seine eigene Art zu trauern zugestehe.

Der unerfüllte Kinderwunsch ist wie sieben Jahre Gefangenschaft

Für das Buch hast du einige Paare gefunden, die Ähnliches erlebt haben.

Ich habe auf einem christlichen Festival einen Workshop zum Thema Kinderwunsch und Fehlgeburt angeboten. Es hat total gut getan, sich mit anderen Paaren auszutauschen. Wir haben uns unsere Geschichten erzählt und zusammen geweint. Manche hatten das Gefühl: Endlich ist da mal jemand, der mich versteht! Da wurde mir klar: Ich möchte unbedingt ein Buch über dieses Thema schreiben, damit sich Menschen in ihrer Not nicht so alleine fühlen.

Du zitierst in deinem Buch eine Autorin, die die Jahre mit dem unerfüllten Kinderwunsch als sieben Jahre Gefangenschaft beschreibt.

Man wünscht sich so sehr ein Kind und hat es nicht in der Hand. Man kann weder mit Fleiß, noch mit Sorgfalt oder irgendwelchen Anwendungen erreichen, dass sich der Wunsch erfüllt. Die Frau hat nur noch ganz bestimmte Tees getrunken und verschiedene Lebensmittel nicht mehr gegessen und natürlich den Sex entsprechend getimt. Ich habe Dokumentationen gesehen über Menschen, die um die ganze Welt gereist sind, um Kinderwunschbehandlungen in Anspruch zu nehmen, die in Deutschland nicht erlaubt sind. Dafür sogar Kredite aufgenommen haben. Es kann passieren, dass sich die sozialen Kontakte immer weiter reduzieren, weil man sich nicht verstanden und gesehen fühlt.

Loslassen ist schwierig

Eine Frau namens Marion beschreibt in deinem Buch, dass es für sie ein wichtiger Schritt in die Freiheit war, damit zu beginnen, den Wunsch nach dem Kind loszulassen. Muss man sich zum Loslassen entscheiden oder kommt das von allein?

Das ist schwierig zu beantworten. Ganz abschließen lässt sich dieser Prozess wohl nie. Das höre ich von allen, die ihren Kinderwunsch ein Stück innerlich loslassen mussten: Der Schmerz kann immer wieder aufflammen. Ich denke, es hilft, wenn man Begleitung in Anspruch nimmt oder den Austausch mit anderen Betroffenen sucht. Es ist sicherlich gesund und sinnvoll, wenn man sich ein Limit setzt. Viele haben gesagt, dass es ihnen geholfen hat, sich vor einer Behandlung ganz klar zu sagen: Wir versuchen drei künstliche Befruchtungen. Wenn es nach der dritten nicht geklappt hat, dann soll es so sein und wir versuchen loszulassen.

Natürlich ist es in diesem Prozess sehr hilfreich, wenn ich vertrauen kann, dass Gott es gut mit mir meint, selbst wenn ich das im Moment nicht so empfinde. Und in einigen Geschichten ist es passiert, dass irgendwann Pflegekinder ins Leben gekommen sind oder doch noch Schwangerschaften möglich waren. Den Kinderwunsch loszulassen ist allerdings unglaublich schwierig, auch, weil ein ganzes Lebenskonzept damit zusammenhängt. Jeder muss seinen eigenen Weg finden.

Marion erzählt auch, dass sie zu sich selbst gefunden hat, als sie begann, den Kinderwunsch loszulassen. Sie hat angefangen, zu malen und Gitarre zu spielen.

Wäre ihr Leben so gelaufen, wie sie das geplant hatte, wäre sie vielleicht gar nicht oder erst viel später an diesen Punkt gekommen. Gerade wenn man sehr früh heiratet und Kinder kriegt, hat man tatsächlich nicht die Zeit, sich so intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Darüber reden kann helfen

Für manche ist das Thema „Kinderwunsch“ Scham besetzt. Du bist sehr offen damit umgegangen.

Ja, das bin ich. Irgendwann habe ich das ein bisschen bereut, weil ständig Leute nachfragten und gute Tipps gaben. Trotzdem würde ich jedem empfehlen, sich zumindest sehr vertrauten Personen gegenüber zu öffnen, um die Last nicht allein mit sich herumzuschleppen. Scham besetzt – ich habe auf jeden Fall erlebt, dass ich mich nicht als ganze Frau empfunden habe. Als ich dann Schwangerschaften verloren habe, dachte ich: Mein Körper funktioniert nicht, wie er funktionieren soll. Ich fand schön, was Christina Brudereck in meinem Buch dazu sagt: „Ja, das stimmt. Ich bin dann nicht ganz, aber kein Mensch ist ganz und kein Mensch hat alles, was er sich wünscht.“

Versöhnt mit der Vergangenheit

Du hast mittlerweile zwei Kinder. Wie lebst du jetzt Freundschaft zu Menschen, die sich Kinder wünschen?

Dieses Gefühl, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen, hat schon begonnen, als ich schwanger war und es so aussah, dass ich das Kind behalten würde. Durch meine eigene Geschichte kenne ich ja viele Leute, die mit dem Thema zu tun haben. Ich fand es nicht einfach, damit umzugehen. Ich habe versucht, möglichst offen zu fragen: „Wie geht es dir gerade damit? Möchtest du drüber sprechen?“ Für das Buch habe ich Paare interviewt und war selbst gut sichtbar schwanger. Das habe ich möglichst angesprochen, um den Gesprächspartnern den Raum zu geben, auch zu sagen: „Ja, das ist nicht leicht!“ Ich finde es durchaus ratsam, dieses Thema anzusprechen, wenn man mit den Emotionen umgehen kann, die dann vielleicht kommen.

Was hat dich bei den Paaren, die in deinem Buch zu Wort kommen, besonders beeindruckt oder berührt?

Ganz besonders berührt haben mich die beiden, die ihr Kind in der 37. Schwangerschaftswoche verloren haben – das lang ersehnte Kind! Vor diesem Gespräch hatte ich Respekt. Doch die beiden waren total versöhnt mit dem Ganzen. Mittlerweile haben sie weitere Kinder bekommen, aber schon nach dem Tod ihres ersten Babys haben sie gesagt: Das ist nicht Gott, der uns unser Kind weggenommen hat. Es ist Gott, der uns hilft, den Verlust zu bewältigen. Und er trägt uns da durch.

Vielen Dank für das Gespräch!

Anna Koppri, 1982, ist Sozialpädagogin, Systemische Familientherapeutin und freie Autorin. Ihr Buch „Wir – mit oder ohne Wunschkind“ ist bei Gerth Medien erschienen.

Demenz: „Wo ist Thomas?“ – Immer wieder fragt er Sybille nach seinem verstorbenen Sohn

Sybille Funk* begleitet ihren dementen Schwiegervater beim Sterben. Und muss ihm dabei immer wieder die Nachricht überbringen, dass sein Sohn tot ist.

„Wo bleibt Thomas? Warum kommt er nicht?“ – Die Worte klingen in mir nach, als ich das Pflegezimmer kurz verlasse und eine nie gekannte Schwere bleibt zurück.

Thomas, nach dem mein sterbender, demenzkranker Schwiegervater fragt, ist sein Sohn – mein Mann. Doch Thomas ist schon viele Jahre tot. Wieder und wieder werde ich ihm dies neu erklären müssen.

Die Enkel erkennt er bis zuletzt

Die Demenzerkrankung hat meinen Schwiegervater verändert. Was sich erst schleichend abgezeichnet hat, wurde nach und nach zu Gewissheit, bis die Betreuung in einem Pflegeheim unausweichlich war.

In den Jahren im Pflegeheim erkannte er mich immer, ebenso seine Enkelkinder. Obwohl mein Sohn im Ausland lebt und nur einmal im Jahr in Präsenz bei ihm vorbeischauen konnte, hielten wir die Erinnerung an ihn mit kurzen Videogrüßen wach. Die Freude war jedes Mal groß und zugleich war es herzbewegend, wenn mein Schwiegervater ihm lächelnd zuwinkte.

Fotoalben als Erinnerung

Mit der Erinnerung an kürzliche Besuche von Bekannten war es manchmal schwieriger. Doch spielerisch konnten wir es mit einer Fragerunde eingrenzen und freuten uns gemeinsam, wenn wir die Personen herausgefunden hatten. Meine Tochter besuchte ihren Opa gern, wenn sie vom Studienort zu Besuch war, blätterte mit ihm manchmal in Fotoalben und erinnerte sich mit ihm an schöne Ereignisse. Seit dem frühen Tod ihres Papas hatte sie eine besondere Beziehung zu ihrem Opa.

Immer wieder Trauer

Als ich nach der wochenlagen ersten Corona-Lockdown-Phase mit Maske bei ihm ins Zimmer trat, ging ein Lächeln über sein Gesicht und er begrüßte mich mit Namen. Die nächste Frage katapultierte mich schmerzhaft in die Vergangenheit zurück: „Wann kommt Thomas?“ Mit Tränen in den Augen versuchte ich, ihm behutsam zu vermitteln, dass sein Sohn bereits vor vielen Jahren gestorben ist. Es tat so weh, seinen erneuten Schmerz zu erleben und mich mit ihm noch einmal auf diesen Trauerweg zu begeben.

Der letzte Wunsch bleibt unerfüllt

Und nun stehe ich hier vor dem Pflegezimmer und kann dem Sterbenden diesen einen letzten Wunsch nicht erfüllen. „Wo bleibt Thomas?“ Diese Frage stellt er immer wieder. Aus seiner Sicht kann ich ihn so gut verstehen – können wir doch selbst seinen Enkel per Facetime zum Verabschieden ins Zimmer holen, weil ein Heimflug in Corona-Zeiten nicht möglich ist. Wieso also nicht seinen eigenen Sohn?

Ein tiefer Schmerz begleitet meine Tochter und mich in den nächsten Tagen am Bett des Opas und Schwiegervaters. Wieder und wieder gehen wir mit ihm erneut in die Anfangsphase der Trauer um den früh verstorbenen Sohn. Wir trauern noch einmal neu gemeinsam um den geliebten Menschen – bis zum Ende. Als mein Schwiegervater nach vier Tagen für immer ein einschläft, hoffe ich, dass er seinen Frieden bei Gott gefunden hat und seinen Sohn wiedersehen darf.

Ich würde es wieder tun

Manche fragten mich, warum wir nicht einfach gesagt hätten, Thomas würde noch kommen. Doch das wäre nach meiner Einschätzung nicht fair gewesen. Auch ein dementer Mensch hat das Recht, dass wir ehrlich zu ihm sind. Wichtig ist, ihn nicht allein zu lassen, sondern ihm immer wieder zu vermitteln, dass wir das gemeinsam bewältigen, dass wir für ihn da sind.

Ob ich es noch einmal so machen würde? Ja!

*Der Name wurde von der Redaktion geändert. Die Autorin ist der Redaktion bekannt.

Plötzlicher Kindstod: Was tun, wenn die Sorge ums Baby zu groß wird?

Angst um das eigene Kind ist vollkommen normal, sagt Hebamme Martina Parrish. Doch ab einem gewissen Punkt sollten Mütter reagieren.

„Seit meiner Schwangerschaft, aber besonders seit mein Baby auf der Welt ist, habe ich ständig Angst, dass es stirbt – am plötzlichen Kindstod zum Beispiel oder bei einem Unfall. Ist das normal? Und wie gehe ich mit der Angst um?“

Oh, wie gut kann ich mich an diese Zeit erinnern: die ersten Monate mit dem ersten Kind – eine ganz besondere Zeit im Leben. Zum einen spürt man die absolute Faszination für das Wesen, das im eigenen Körper gewachsen ist, und das Staunen über die Perfektion dieses kleinen Menschleins. Zum anderen gibt es enorm viele Fragen, Herausforderungen, Unsicherheiten und eben auch Ängste.

Alles wird zur potenziellen Gefahr

Oft werden alltägliche Dinge zu gefühlten Bedrohungen: stark parfümierte Besucher, die mein Kind auf den Arm nehmen wollen, eine laute Umgebung und erst recht der erste Schnupfen. Alles bekommt eine intensive Bedeutung und wird aus dem Blickwinkel heraus betrachtet, was die jeweilige Situation für mein Kind bedeutet und inwiefern es ihm schaden könnte. Wenn sich dann sogar der plötzliche Kindstod oder eventuell auftretende Unfälle in die Gedanken der jungen Mutter schleichen, dann kann das so manche von ihnen kaum aushalten und es entwickeln sich echte Ängste.

Wenn die Ängste zu stark werden

Viele Eltern kennen diese Ängste und bis zu einem gewissen Grad halte ich sie für normal. Die Verantwortung für ein so kleines Lebewesen zu tragen, ist eine große Herausforderung. Und gerade beim ersten Kind weiß man vieles noch nicht und ist in vielen Fragen entsprechend unsicher. Wenn diese Ängste mich jedoch in meinem Alltag zu sehr einschränken, lähmen und mir die Freude am unbeschwerten Umgang mit meinem Kind nehmen, dann ist es an der Zeit, sich mit diesen Ängsten intensiver auseinanderzusetzen und zu fragen, woher sie kommen.

Oft ist es in solchen Situationen hilfreich, sich Unterstützung zu suchen, zum Beispiel bei der Wochenbetthebamme oder der behandelnden Frauenärztin. Sprechen Sie offen über Ihre Gefühle und haben Sie keine Hemmungen, die Situation so zu schildern, wie Sie sie empfinden. Eine andere Möglichkeit wäre es, sich mit dem Verein „Schatten und Licht“ in Verbindung zu setzen, der sich auf psychische Probleme rund um die Geburt spezialisiert hat.

Mit anderen Müttern sprechen

Manchen Müttern hilft auch ein einfacher Realitätscheck: Wie häufig passiert das, wovor ich mich fürchte? Und was sind die häufigsten Auslöser? Was kann ich also durch einen aufmerksamen Umgang mit meinem Kind vermeiden?

Für viele Mütter ist auch das Gespräch mit Frauen in der gleichen Lebenssituation das, was ihnen aus dem Grübeln und ihren Ängsten hinaushilft. Gehen Sie mit Müttern aus Ihrem Rückbildungskurs oder Krabbelkurs gemeinsam spazieren oder eine Tasse Kaffee trinken und tauschen sich über dieses neue Universum „Muttersein“ aus. Sie werden staunen, wie viele Frauen ähnlich empfinden wie Sie.

Martina Parrish ist Hebamme, Stillberaterin, Mutter, dreifache Oma und lebt in Berlin.

Ständig Angst ums Baby

„Seit meiner Schwangerschaft, aber besonders seit mein Baby auf der Welt ist, habe ich ständig Angst, dass es stirbt – am plötzlichen Kindstod zum Beispiel oder bei einem Unfall. Ist das normal? Und wie gehe ich mit der Angst um?“

Oh, wie gut kann ich mich an diese Zeit erinnern: die ersten Monate mit dem ersten Kind – eine ganz besondere Zeit im Leben. Zum einen spürt man die absolute Faszination für das Wesen, das im eigenen Körper gewachsen ist, und das Staunen über die Perfektion dieses kleinen Menschleins. Zum anderen gibt es enorm viele Fragen, Herausforderungen, Unsicherheiten und eben auch Ängste.

Oft werden alltägliche Dinge zu gefühlten Bedrohungen: stark parfümierte Besucher, die mein Kind auf den Arm nehmen wollen, eine laute Umgebung und erst recht der erste Schnupfen. Alles bekommt eine intensive Bedeutung und wird aus dem Blickwinkel heraus betrachtet, was die jeweilige Situation für mein Kind bedeutet und inwiefern es ihm schaden könnte. Wenn sich dann sogar der plötzliche Kindstod oder eventuell auftretende Unfälle in die Gedanken der jungen Mutter schleichen, dann kann das so manche von ihnen kaum aushalten und es entwickeln sich echte Ängste.

Wenn die Ängste zu stark werden

Viele Eltern kennen diese Ängste und bis zu einem gewissen Grad halte ich sie für normal. Die Verantwortung für ein so kleines Lebewesen zu tragen, ist eine große Herausforderung. Und gerade beim ersten Kind weiß man vieles noch nicht und ist in vielen Fragen entsprechend unsicher. Wenn diese Ängste mich jedoch in meinem Alltag zu sehr einschränken, lähmen und mir die Freude am unbeschwerten Umgang mit meinem Kind nehmen, dann ist es an der Zeit, sich mit diesen Ängsten intensiver auseinanderzusetzen und zu fragen, woher sie kommen.

Oft ist es in solchen Situationen hilfreich, sich Unterstützung zu suchen, zum Beispiel bei der Wochenbetthebamme oder der behandelnden Frauenärztin. Sprechen Sie offen über Ihre Gefühle und haben Sie keine Hemmungen, die Situation so zu schildern, wie Sie sie empfinden. Eine andere Möglichkeit wäre es, sich mit dem Verein „Schatten und Licht“ (www.schatten-und-licht.de) in Verbindung zu setzen, der sich auf psychische Probleme rund um die Geburt spezialisiert hat.

Sprechen Sie mit anderen Müttern

Manchen Müttern hilft auch ein einfacher Realitätscheck: Wie häufig passiert das, wovor ich mich fürchte? Und was sind die häufigsten Auslöser? Was kann ich also durch einen aufmerksamen Umgang mit meinem Kind vermeiden?

Für viele Mütter ist auch das Gespräch mit Frauen in der gleichen Lebenssituation das, was ihnen aus dem Grübeln und ihren Ängsten hinaushilft. Gehen Sie mit Müttern aus Ihrem Rückbildungskurs oder Krabbelkurs gemeinsam spazieren oder eine Tasse Kaffee trinken und tauschen sich über dieses neue Universum „Muttersein“ aus. Sie werden staunen, wie viele Frauen ähnlich empfinden wie Sie.

Martina Parrish ist Hebamme, Stillberaterin, Mutter, dreifache Oma und lebt in Berlin.

Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Real Life Guys: YouTube-Star hat Krebs im Endstadium – Wieso er die Hoffnung nicht verliert

Die Ärzte geben dem YouTuber Philipp Mickenbecker (The Real Life Guys) noch maximal zwei Monate zu leben. Trotzdem sprudelt er im Video vor Lebensfreude.

Eigentlich bauen die Brüder Philipp und Johannes Mickenbecker U-Boote aus Badewannen, Seilbahnen und menschliche Drohnen. Am Wochenende zeigte Philipp seinen 1,2 Millionen Abonnenten eine ganz andere Lebensrealität auf: Er hat Krebs, bereits zum dritten Mal. „Der Arzt hat mir einfach gesagt, dass es sehr, sehr schlecht aussieht und dass der Tumor schon im Endstadium ist und dass er mir tatsächlich nur noch zwei Wochen bis zwei Monate zu leben gibt“, sagt er im Video.

Medizinisch aussichtslos, trotzdem hoffnungsvoll

Die Krankheit begleitet Philipp schon seit seiner Jugend. Zwei Mal schien der Tumor bereits besiegt. Drei Jahre lang konnte der YouTube-Star ohne Schmerzen leben. Die Geschichte seiner Heilung beschreibt er in seinem jüngst erschienenen Buch „Meine Real Life Story“ (Adeo-Verlag). Alles schien gut – bis die Schmerzen zurückkamen. Eine Untersuchung zeigte, wie schlecht es um den 23-Jährigen steht. Medizinisch gesehen gebe es keine Möglichkeit, den Krebs zu bekämpfen, erzählt er im Video. Trotzdem ist er voller Hoffnung.

„Auf übernatürliche Weise gesund geworden“

Der Grund: Philipp Mickenbecker ist nach eigener Aussage überzeugter Christ. Dass er den Krebs bereits zwei Mal überlebt hat, erklärt er sich durch das Handeln Gottes: „Ich lag damals ja wirklich im Sterben und bin da auf übernatürliche Art und Weise gesund geworden“, sagt er.  Er glaube, dass es jemanden gebe, der einen Plan mit ihm und „dieser ganzen Sache“ habe.

Schwester starb durch Unfall

Diese Überzeugung hatte Philipp nicht immer. Über Jahre fand er Kirche nach eigener Aussage einfach langweilig. Dann stirbt die Schwester der YouTuber bei einem Flugzeugabsturz. Es folgt die Krebserkrankung. „Durch diese schweren Zeiten haben wir zu Gott gefunden. Ich habe Gott als jemanden erlebt, der mich durchträgt, tröstet und Hoffnung schenkt.“ Auch darüber schreibt er in seinem Buch. Außerdem will er zukünftig darüber auf dem YouTube-Kanal „Life Lion“ erzählen.

Erster Schritt entscheidend

Den Hauptkanal „The Real Life Guys“ wollen die beiden Brüder übrigens so lange wie möglich weiterführen. Darin zeigen sie, wie sie aus Alltagsgegenständen ungewöhnliche Dinge bauen. Ihr neustes Projekt ist ein U-Boot aus einem Gastank. „Wir wollen unsere Zuschauer motivieren, ihre Ideen umzusetzen. Dabei ist der erste Schritt entscheidend. Wenn du nicht loslegst, bleibt es nur bei einer Idee“, sagte Philipp in einem Interview mit der Zeitschrift Teensmag.

Einmal noch öffnete Baby Mia die Augen – Fotograf hält bewegenden Moment für die Ewigkeit fest

Oliver Wendlandt fotografiert Sternenkinder, also Babys, die rund um die Geburt sterben. Seine Fotos helfen den Eltern. Hier erzählt er von seinem intensivsten Auftrag.

Der Alarm kam für Regensburg – 16 Uhr Nottaufe, die Eltern wollen Bilder. Also flugs ins Auto gehüpft und sehr zügig in die Klinik in Regensburg gefahren. Die Zeit war knapp, um die Taufe noch dokumentieren zu können. Einen Stau musste ich auch umfahren. 15 Minuten vor der Taufe erreichte ich die Klinik und ging schnurstracks zur Kinderintensivstation, wo mich die Schwester, die uns gerufen hatte, schon erwartete. Im Raum zwei Häuflein Elend: die Eltern.

Alles sah gut aus …

Beim kurzen Gespräch wurde das ganze Ausmaß des persönlichen Dramas offenbar: Das kleine Mädchen wurde in der 25. Schwangerschaftswoche geboren, es war zu wenig Fruchtwasser vorhanden, und das Kind war unterversorgt. Auf der Intensivstation wurde sie über Tage gepäppelt, alles sah gut aus. Das Kind nahm zu, wuchs, die Hoffnung der Eltern war groß. Dann kam es zu einer Infektion des Darmes, die von den Ärzten trotz aller Versuche nicht in den Griff zu bekommen war. Man könne nichts mehr für die Kleine tun, war die Aussage der Ärzte. So entschieden sich die Eltern, das kleine Mädchen taufen zu lassen und dann die lebenserhaltenden Systeme abzuschalten.

Die Taufe

Ich begann, bevor der Pfarrer kommen sollte, einige Bilder des Mädchens im Brutkasten zu machen – die Scheiben haben das erschwert, aber nicht unmöglich gemacht. Wenige Minuten danach kam der Pfarrer. Die Taufe war würdevoll, ich habe sie für die Eltern gefilmt. Nachdem der Pfarrer sich verabschiedet hatte, wurden dem Mädchen Schmerzmittel verabreicht und der Brutkasten samt Infusionsturm in ein anderes Zimmer gebracht, in das natürlich die Eltern der Kleinen, aber auch einige Schwestern, eine Seelsorgerin und ein Arzt mitkamen.

Winzige Händchen greifen nach der Mutter

Das Mädchen wurde vorsichtig herausgenommen und nach und nach wurden alle Schläuche abgeklemmt, lediglich das EKG lief weiter. Als ich anfing zu fotografieren (die Mutter hatte das Kind auf dem Arm), öffnete die Kleine die Augen und griff immer wieder mit den winzigen Händchen nach dem Daumen der Mutter und dem Finger des Vaters. Das war irgendwie surreal, anders kann ich das nicht beschreiben. Nach etwa 10 Minuten schloss das kleine Mädchen seine Augen für immer.

Intensiver als alles andere

Das war das zweite Kind, das ich bisher beim Sterben begleitet habe, alle anderen waren schon tot. Dadurch, dass die Kleine die Augen offen hatte und sich bewegt hat, war das aber ungleich intensiver als alles, was ich in diesem Bereich bisher erlebt habe. Die Bilder und der Film, die ich von ihr machen durfte, bedeuten neben den Erinnerungsstücken unglaublich viel für die Eltern. Sie sind sichtbarer Beweis dafür, dass das Kind da war, dass sie für kurze Zeit eine Familie waren. Sie helfen, die Kleine nicht zu vergessen. Erinnerungen verblassen – diese Fotos holen sie zurück, wenn man das Bedürfnis danach hat. Nicht nur visuelle Erinnerungen, sondern auch zum Beispiel Gerüche, Berührungen, Emotionen. Es war mir eine große Ehre, die kleine Mia zu den Sternen zu begleiten.

Oliver Wendlandt (*1966) ist Fotograf und Filmemacher. Der Vater von drei erwachsenen Kindern engagiert sich ehrenamtlich als Fotograf und als Pressesprecher bei „Dein Sternenkind“. Er lebt mit seiner Frau in Pfatter in der Oberpfalz. Dort betreiben sie eine Medienagentur. Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Auf das Leben!“ von Tina Tschage (adeo).

Angst vor dem Tod

„Vergangenes Jahr ist die Mutter der Freundin unserer Tochter (16) an Krebs gestorben. Seitdem hat unsere Tochter große Angst, dass entweder sie oder wir an Krebs erkranken und sterben. Wie können wir ihr helfen, einen Umgang mit dieser Angst zu finden?“

Es ist wunderbar, dass Sie Ihre Tochter so aufmerksam im Blick haben und dass Sie mit ihr im Gespräch sind. Die gemeinsame Verarbeitung von Trauer kann als positive, gemeinsam erlebte Zeit wahrgenommen und abgespeichert werden.

Verlässliche Beziehungen

Einen Trauerfall in einer befreundeten Familie oder in nahen Beziehungen mitzuerleben, ist sehr schwer auszuhalten und kann eine junge Frau überfordern. Dass wir endlich sind, ist eine Wahrheit, die Heranwachsende verständlicherweise weniger vor Augen haben. Vielmehr sind lebensfrohe Gedanken, wie das Leben zu genießen und Freude zu erleben, stärker vorhanden – und das ist auch gut so.

Sie können Ihrer Tochter helfen – wenn auch mit 16 Jahren sehr früh –, in die erwachsene Realität zu kommen. Es ist realistisch, dass tragische Ereignisse wie Krankheit und Tod in unser Leben treten. Trauernde Kinder und Jugendliche brauchen in erster Linie verlässliche und tragfähige Beziehungen zu für sie bedeutungsvollen Erwachsenen. Gehen Sie als Eltern offen und ehrlich mit eigenen Verlusterfahrungen um. Diese Offenheit und eigene Bewältigungsstrategien können Ihrer Tochter helfen. Vielleicht gibt es noch weitere Menschen in Ihrem Umfeld, mit denen Ihre Tochter über ihre Sorgen sprechen kann. Möglicherweise können auch diese Bezugspersonen auf Erfahrungen zurückgreifen, in denen sie mit Verlust umgehen lernen mussten.

Im „Hier und Jetzt“ leben

Gerade in der Zeit, in der Endlichkeit spürbar ist, ist es aber auch wichtig, sich der persönlichen Realität bewusst zu werden. Diese heißt: Im Moment haben wir uns noch. Es gibt keinen Anlass für Schreckensfantasien in unserer Familie, und es ist keine lebensbedrohliche Erkrankung vorhanden. Wenn es Ihnen gelingt, Ruhe und Zuversicht auszustrahlen, geben Sie Ihrer Tochter Sicherheit. Erinnern Sie sie daran, bewusst im „Hier und Jetzt“ zu sein. Das bedeutet: Ohne schlechtes Gewissen die Dinge zu genießen, die sie hat; bei ihrer eigenen Familiensituation zu bleiben; sich vor Augen zu führen, an was sie sich erfreuen kann. Dadurch lernt sie, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die schönen Dinge zu lenken und sich daran zu freuen. Ermutigen Sie sie, sich mit Freunden zu treffen, auszugehen und sich durch Orte oder Zeiten der Entspannung „Freiräume“ ohne Angst und Sorgen zu schaffen – wenn auch anfangs nur für ein paar Stunden.

Darüber hinaus kann es für Ihre Tochter hilfreich sein, Tagebuch zu schreiben, Gedichte zu verfassen, Musik zu hören, selbst zu musizieren oder Internetforen nach Umgangsstrategien zu durchforsten. Vielleicht ist für Sie als Familie auch die Ressource des Glaubens vorhanden und kann hilfreich in Anspruch genommen werden durch Gebet, Lobpreislieder oder biblischen Zuspruch. Für den Fall, dass diese Strategien nicht greifen, ermutigen Sie Ihre Tochter, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, in der geschulte Gesprächspartner sie im Prozess der Trauerbewältigung unterstützen können.

Sandra Schreiber ist Beraterin und systemischer Elterncoach in der christlichen Beratungsstelle „LebensRaum Gießen“.
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

„Mein Kind war dabei zu erlöschen“ – So erlebte Katharina die Krebserkrankung ihres Kindes

Für Katharina Weck ändert sich alles, als ihr Sohn Phileas an Leukämie erkrankt. Wie die Auseinandersetzung mit der Krankheit ihr Leben und ihren Glauben verändert hat.

Es ist ein kühler Donnerstagvormittag, als ich mich auf den Weg zu Katharina Weck mache. Etwa eine halbe Stunde Bahnfahrt heraus aus Berlin an den Stadtrand, ein Fußmarsch durch die ruhige Nachbarschaft. 2015 ist Katharina mit ihrer Familie aus dem lauten Berlin-Kreuzberg nach Brandenburg gezogen. In ein gemütliches Häuschen mit einem Kirschbaum im Garten und einem großen Kamin im Wohnzimmer.

Katharina Weck kommt eigentlich aus Niedersachsen, sie ist leidenschaftliche Sozialpädagogin, verheiratet mit Christopher und hat drei Söhne: Phileas (7), Mio (4) und Sashi (drei Monate). 2017 erkrankte Phileas an Leukämie. Über die zwei Jahre Therapie und was das mit ihr und ihrer Familie gemacht hat, hat Katharina ein Buch geschrieben.

Plötzlich zerbrechlich

Bei einer Tasse Tee sitzen wir zusammen und unterhalten uns. Katharina fotografiert neben dem Schreiben auch viel. Sie zeigt mir ein dickes Fotobuch, in das sie die Zeit der Krankheit eingefangen hat, Bilder von einem wilden Jungen in einer kleinen Familie, einem Jungen, der plötzlich untypisch schlapp ist, irgendwann an Geräten im Krankenhaus hängt, neben seinem kleinen Bruder so zerbrechlich wirkt, müde in Decken eingekuschelt, aufgedunsen, wie er irgendwann wieder Farbe bekommt, wieder tobt, ihm die Haare wieder wachsen. Durch die Seiten des Fotoalbums blätternd bekomme ich einen kurzen Einblick und eine Ahnung, wie viel Zeit zwischen der ersten und der letzten Seite, zwischen der Diagnose und einem „es geht wieder aufwärts“ liegt.

Katharina Weck: Die Zeit, die wir hinter uns haben, andern zu erklären, ist manchmal ganz schwierig, darum habe ich auch das Fotobuch gemacht. Es war gut, es Phileas zum Beispiel in die Schule mitgeben zu können, damit andere sich das vorstellen konnten. Ich glaube, wir Menschen neigen oft zu einem „Ah, alles ist gut. Jetzt hat er ja wieder Haare, Schwamm drüber“ und so ist es halt einfach nicht gewesen. So ist es jetzt nicht und so war es damals nicht.

Die Fotos erzählen von dieser Zeit, aber auch deine einfühlsamen Texte. Wie kam es dazu, dass du ein Buch über eure Geschichte veröffentlicht hast?
Ich bin ganz eifrige Tagebuchschreiberin und vor kurzem habe ich alte Texte gefunden. Ich habe mir anscheinend schon als Jugendliche mit Lesen und Schreiben die Welt erklärt – und mit Fotografieren. Das gefällt mir, Geschichten erzählen mit Bildern, mit Texten. Aber ich habe nie gedacht, dass ich mal ein Buch schreibe. Das ist wirklich aus der Not heraus entstanden. Ich habe einen Text geschrieben und den habe ich gepostet und sehr viele Reaktionen bekommen. Ab da habe ich immer wieder in den Momenten, in denen ich nicht mehr denken konnte, alles aufgeschrieben. Ab und zu habe ich das dann veröffentlicht und daraus sind Gespräche mit Leuten in ähnlichen Situationen und dadurch ein ehrlicher Austausch entstanden. Als ich dann alles nochmal geordnet und weitergeschrieben habe, war das auch Teil des Verarbeitens. Ich merke, vorbei ist das aber noch lange nicht. Gerade die Kinder fangen jetzt erst damit an, die Todesangst sitzt noch ganz schön tief in Phileas‘ Zellen.

Man kann sich nicht nicht verändern

Am Anfang, kurz nach der Diagnose, hast du geschrieben, dass ihr euch von der Krankheit nicht verändern lassen wollt …
Ja (überlegt), also das geht nicht (lacht). Also man kann sich nicht nicht verändern. Man bleibt nicht dieselbe Person, wenn man durch so etwas geht. Es war einfach so ein natürlicher Impuls, als wir die Diagnose bekommen haben, um das durchzustehen. „Du kriegst uns nicht klein, du scheiß Krebs.“ Daran habe ich mich auch lange festgehalten, indem wir trotzdem Dinge getan haben, die früher normal waren. Aber um so schlimmer es wurde, desto weniger ging das. Am Anfang war uns das noch nicht so klar.

Foto: Katharina Weck

Foto: Katharina Weck

Und langsam habt ihr es dann realisiert …
Ja, anfangs dachte ich, wir brauchen das nicht, wir gehören nicht auf die Kinderonkologie, in das alles. Irgendwann habe ich dann aber gemerkt, ich kann hier nicht unverändert herausgehen. Denn diese Todesangst, die sich bei Philli in den Zellen abgespielt hat, die liegt jetzt auf meinem Herzen, das habe ich auch jetzt noch. Es wird weniger, und dennoch gibt es immer wieder Momente, in denen alles wackelig ist. Geliebte Menschen leiden zu sehen, das ist super schlimm. Aber beim eigenen Kind, da ist das noch mal etwas Besonderes. Das Kind, das man auf die Welt gebracht hat, das man liebt, dem geht es plötzlich unglaublich schlecht und ist dabei zu erlöschen. Und ihm dann Sachen zumuten zu müssen, durch die es ihm noch schlechter geht, aber die er braucht, um zu überleben, das verändert einen. Und lässt einen alles überdenken. Manches sehe ich jetzt schwärzer, aber manches hat sich auch zurechtgerückt.

„Schlimm ist, sein Kind zu verlieren“

Du schreibst, dass du lernen musstest, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Meinst du das?
Genau, das mussten wir lernen. So anstrengend der normale Alltag jetzt wieder ist, schlussendlich schlafe ich abends zufrieden ein. Weil ich weiß, das ist nicht schlimm, schlimm ist, sein Kind zu verlieren. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass ich sogar das irgendwie akzeptiert hätte. Ich hätte ihn vielleicht loslassen müssen, so schrecklich das ist. Ich habe verstanden: Das Leben ist so, und der Glaube ist auch keine Garantie, dass schreckliche Dinge nicht auch passieren. Auch wenn Phileas nicht gestorben ist, trauern wir in gewisser Weise, weil er einen Teil seiner Kindheit verloren hat und die ganze Familie eine schreckliche Zeit hatte.

Irgendwann warst du in den zwei Jahren an einem Tiefpunkt. Du beschreibst im Buch, wie du im Wohnzimmer auf dem Boden liegst und nicht mehr aufstehen kannst. Dann schilderst du weiter: „Der Boden, an dem ich jetzt bin, ist auch der, der mich trägt.“ Da war noch keine Heilung in Sicht, und trotzdem fühltest du dich am tiefsten Punkt getragen?
Genau. Es gab kein „jetzt ist alles wieder gut“. Bisher bin ich durchs Leben recht einfach durchgekommen, habe die Dinge angepackt. Aber während der Erkrankung habe ich gemerkt: Im Grunde bin ich niemand, und das, was ich kann und mache und tue, das zählt im Grunde nichts. Jetzt, wo wieder etwas Normalzustand da ist, da packt man natürlich wieder Sachen an und das ist auch gut so. Aber diese Art zu glauben, das Wissen, das ist geblieben. Zum Beispiel bekomme ich jetzt oft die Rückmeldung: Du bist so stark. Nein! Im Gegenteil, ich war ganz schwach, verzweifelt. An dem Punkt musste ich alles abgeben.

Eine Extrem-Erfahrung von Loslassenmüssen …
Ja, ich habe gemerkt, ich kämpfe. Aber irgendwann musste ich sortieren: Wohin fließt das bisschen Kraft, das ich noch habe? Ich habe gemerkt, ich stecke so viel Kraft da hinein, ihn bei mir zu halten, das war irgendwann einfach nicht mehr möglich. Niemand konnte mir sagen, es wird alles gut. Da lag ich irgendwann auf dem Boden und habe gemerkt, ich kann ihn nicht retten, ich muss ihn loslassen. Und vertrauen. Nicht, dass Gott ihn heilt, sondern, dass Gott da ist, egal was passiert.

Danke-Tagebuch hilft

Aus dieser Erfahrung heraus ist für dich auch eine neue Überschrift über dein Leben entstanden: Eucharisteo. Was bedeutet das?
Das wurde inspiriert von der Autorin Ann Voskamp. Sie empfiehlt in ihren Büchern ein Danke-Tagebuch zu führen. Aufzuschreiben, was gut am Tag war, egal, wie voll der mit Mist war. Eucharistie, das Abendmahl, in dem man bittet, aber auch für das dankt, was man hat. Diesen Ansatz fand ich gut, dachte aber gleichzeitig: Wofür soll ich an so einem schrecklichen Tag dankbar sein? Und dann musste ich an den Kuchen der Nachbarin denken und an andere Gesten. Irgendwann hat sich das entwickelt, dann habe ich in den schlimmen Stunden in der Klinik, wenn Phileas im Krankenhaus alles vollspuckte und die Krankenpflegerin alles aufwischte, plötzlich Dankbarkeit verspürt, bei all dem Krebs in unserem Alltag. Und ich konnte meinen Sohn mit Dankbarkeit in den Arm nehmen, mit einem weichen Herzen. Das ist für mich Eucharisteo: Nicht für das Offensichtliche dankbar zu sein, sondern die Fähigkeit zu erlangen, in schlimmen Situationen die kleinen guten Momente zu finden, um zu überleben. Ich glaube, das war der Grund, dass wir nicht kaputtgegangen sind.

Foto: Katharina Weck

Foto: Katharina Weck

Am Schluss des Buches stellst du dir die Frage, was ist, wenn der Geist vom Krebs bleibt und ob es schlimm ist, wenn er bleibt. Wie meinst du das?
Alle vier Wochen müssen wir weiter mit Phileas zur Blutuntersuchung. Da sehen wir auch die ganzen Kinder, die gerade mittendrin sind. Das bleibt also präsent. Da bleibt man irgendwie genügsam und demütig. Ich meine, so oft vergesse ich das auch. Immer wieder sind der Krebs und diese Angst für uns ein Thema. Um die Wut darüber nicht in mich hineinzufressen, ist Eucharisteo immer wieder sehr notwendig. Zu sehen, wie viele Privilegien wir natürlich trotzdem haben. Dennoch ist dieses Leben eben nicht der Himmel und auf der Welt ist vieles ungerecht. Trotzdem ist Gott da. Ich weiß nicht, ob das Verarbeiten irgendwann vorbei ist. Darum möchte ich schon jetzt nicht daran verbittern, sondern es annehmen. Und mutig bleiben.

„Den Mut mussten wir bewusst zurückholen“

Zum Thema mutig bleiben. Oder den Mut wieder- aufnehmen: Irgendwann habt ihr die Entscheidung getroffen, dass das Leben weitergeht. Und jetzt schläft hier euer acht Wochen alter kleiner dritter Sohn, während wir uns unterhalten.
Ja (lacht). Dieser Schritt hat mir riesige Angst gemacht, das kannte ich vorher nicht von mir. Aber wir wollten dieselben bleiben, ja klar (überlegt). Der Mut kam nicht von alleine wieder. Wir mussten ihn bewusst packen und zurückholen. Niemand konnte mir den geben. Ich bin zu Gott gekrochen und habe mir die Zeit genommen, Gott wieder zu vertrauen.
So ein Zeichen davon, dass der Mut wieder ergriffen werden musste, liegt jetzt in der Wippe neben uns (lacht). Von einem Ausnahmezustand in den nächsten, da könnte man schon sagen bescheuert (lacht) und es war auch nicht einfach, auch die Schwangerschaft nicht, da ich eigentlich so erschöpft war.

Es war wahrscheinlich gerade erst alles dabei, wieder normaler zu werden, da holt die Erschöpfung einen erst richtig ein, oder?
Total! Aber wir haben dann auch gesagt, was nützt es zu warten, bis wir hier fertig sind. Es kann sein, dass wir hier nie fertig werden. Es wäre schön zu sagen: „So, der Krebs ist vorbei, jetzt kann es weitergehen.“ Aber wer weiß, wann es vorbei ist, wann wir wirklich sagen können: „Jetzt sind wir da fein raus.“ Unser kleiner Sashi ist jetzt nicht unsere Hoffnung, das legen wir ihm nicht auf die Schultern. Aber er ist ein Neuanfang, und den zwei großen Brüdern gefällt ihre Rolle. Phileas tut es gut, dass er jetzt nicht mehr der ist, um den sich alles dreht. Es gibt momentan viele kleine Momente, die so wertvoll sind.

Vielen Dank, für deine Offenheit. Und auch, wenn du nicht möchtest, dass man sagt wie stark du bist, empfinde ich deine Ehrlichkeit über dein Nicht-Stark-Sein als Stärke. Danke für das Interview!

Nach dem Interview unterhalten wir uns fast nochmal genauso lange darüber, warum Krankheit und Leid oft nur am Rand stattfindet, obwohl es sich fast in allen Leben abspielt. Warum wir diesen Teil so gerne auf Krankenhäuser und andere Ecken verdrängen, heraus aus dem alltäglichen Bewusstsein und unseren Gesprächen. Katharina erzählt, wie ihr Buch oft unter dem Thema Trauer aufgelistet wird. Es enthält auch eine ordentliche Portion Trauer, aber genauso auch eine große Portion Hoffnung. Und wir stellen fest, dass ein Teil dieser Hoffnung auch dadurch entsteht, dass wir unsere schweren und schmerzlichen Geschichten teilen. Katharina trägt mit der Geschichte von ihr und ihrer Familie dazu bei, den Blick zu öffnen für die Welt einer Familie mit der Diagnose Leukämie. Die Fotos, die vor mir liegen, und Katharinas Worte schaffen es Kloß-im-Hals-Schweres auszudrücken und gleichzeitig die hoffnungsvollen Momente festzuhalten.

Das Interview führte Marie Jäckel. Sie studiert in Berlin Politik und Soziologie.

„Wenn ich jetzt sterbe, höre ich nie wieder Bäume rauschen“: Till erzählt von seiner Angst vor dem Tod

Till Pfaff fürchtet sich unglaublich davor zu sterben. Jahrelang helfen nur Antidepressiva in höchster Dosis. Hier erzählt er seine Geschichte.

Ich bin Till, 40 Jahre alt. Ich habe Angst vor dem Tod.

Opa schläft

Es ist der 22. September 1985. Ich bin sechs Jahre alt und gerade eingeschult worden, ein kleiner blonder Frechdachs, aufgeweckt und sensibel. Wir wohnen seit Kurzem neben Oma und Opa im alten Schweinestall ihres stillgelegten Bauernhofes. Mein lieber Opa, der mich immer mit in den Wald nimmt, auf die Pirsch mit seinen Jagdhunden, der mir die heimische Pflanzenwelt erklärt und mich bei seinen Freunden stolz präsentiert, mich liebevoll auf den Schoß nimmt, ist im Krankenhaus, weil er operiert werden muss. Nichts Schlimmes, soweit ich weiß. Ich soll mit den anderen Enkelkindern ins Zimmer meiner Schwester kommen. Meine Mutter und meine Tante wollen uns etwas erzählen. Wir sitzen auf dem Bett und hören gespannt zu: „Opa ist eingeschlafen. Er war zu schwach und hat die Operation nicht überstanden. Er ist tot.“

Es ist 2019, Weihnachten. Fünf Monate Online-Therapie liegen hinter mir. Meine Therapeutin hilft mir, mich meiner Angst vor dem Tod zu stellen. 34 Jahre voller Fragen: Wie ist der Tod? Wie fühlt es sich an, wenn ich keinen Körper mehr habe, den ich steuern kann? Geht es Opa und den anderen inzwischen verstorbenen Menschen, die ich lieb habe, gut? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Kommt die Seele durch den Sarg, wenn ich begraben werde?

Die Brust zugeschnürt

Niemand in meiner Familie oder meinem Freundeskreis kann sich vorstellen, dass ich unter Ängsten leide. Ich bin ein geselliger Typ, der gern feiert und Quatsch macht. Humor ist meine Superkraft! Das Gefühl der Machtlosigkeit überkommt mich jedoch, wenn ich allein bin.

Ich stehe als Erster auf dem Fußballplatz, bin etwa 18 Jahre alt und wärme mich auf. Plötzlich die Frage: Was, wenn ich jetzt sterbe? Ich stoße einen leisen Schrei aus, um der plötzlichen Beengung in meinem Brustkorb ein Ende zu machen. Meine Mitspieler kommen auf den Platz. Niemand merkt etwas.

Es ist 2007. Wir haben seit August eine Tochter. Meine Frau macht mich darauf aufmerksam, dass ich im Schlaf immer mehr seufzen und „jiffeln“ würde. Sie ist der erste Mensch, mit dem ich – immerhin 22 Jahre nach Opas Tod – über meine Angst spreche. Ich suche mir einen Therapeuten, der allerdings keinen Zugang zu mir findet und mich mit Beerdigungsritualen gleich in der zweiten Sitzung überfordert. Die Angst bleibt, die Therapie liegt für die nächsten Jahre brach, da mein Vertrauen in eine solche Maßnahme erloschen ist. Immerhin: Ich bekomme nun ein Antidepressivum, das die Symptome bekämpft und in der höchsten Dosierung zu helfen scheint.

Der Angst auf der Spur

Herbst 2019: Ich halte es inzwischen mit Humboldt, der gesagt hat: „Was dir Angst macht, das erforsche.“ Anna, meine Frau, und ich sind auf dem Heimweg von einem Besuch bei Freunden. Ich fasse den Mut, ihr endlich genauer zu erzählen, was mich bedrückt und ängstigt. Das hätte ich längst tun sollen. Wir sprechen darüber, wie wir uns den Tod vorstellen, wie wir bestattet werden wollen. Ein kleiner Knoten im Geflecht meiner Angst löst sich.

Ich bin Anfang 20, fahre allein mit dem Auto durch die Gegend, an einem Wald vorbei, in dem ich hin und wieder jogge. Aus dem Nichts kommt das beklemmende Gefühl, dass ich den Wald, wenn ich jetzt sterbe, nie wieder sehen, die Bäume bei Wind rauschen hören oder die Tannennadeln riechen könnte. Hilflosigkeit! Ich fahre an den Rand, schreie, flehe zu Gott. Mit Menschen teile ich meine Angst nicht. Ich will kein „Psycho“ sein!

Spätsommer 2008, das Telefon klingelt, der Pastor. Ich hätte doch eine besondere Verbindung zur Kirche, sagt er. Ob ich nicht Lust hätte, im Kirchenvorstand mitzuarbeiten, fragt er. Er hat ja einen ganz guten Draht „nach oben“, denke ich. Warum nicht, frage ich mich und sage zu. Der Einsatz in der Kirchengemeinde, die Gemeinschaft mit Menschen, die im Glauben verbunden sind, die vielen neuen Menschen in meinem Umfeld und vor allem die intensive Auseinandersetzung mit den Geschichten der Bibel geben mir Kraft. Die Angst ist noch da, aber auch eine neue Möglichkeit, mich ihr zu stellen. Ich kann im Laufe der Jahre die Dosierung meines Medikaments um die Hälfte reduzieren. Gott sei Dank!

Gespräch mit Oma

Mit meiner Mutter sitze ich im November 2019 an ihrem Wohnzimmertisch. Ich habe Fragen. Wie stelle ich die nur, ohne ihr das Gefühl zu geben, ihr Vorwürfe zu machen? Sie weiß, dass es um Opas Tod geht. Ich muss das aufräumen, Fragen loswerden. Meine Wahrnehmung der Situation 1985 scheint zu stimmen. Ich lerne, dass Oma nicht wollte, dass sich jemand – auch nicht die Kinder – vom toten Opa verabschiedet. Was, wenn sich das Bild des toten Opas an die Stelle der positiven lebendigen Erinnerungen gestellt hätte? Davor hatte sie Angst. Niemand hat das in Frage gestellt. Im Trauergottesdienst hatten Kinder damals nichts zu suchen. Tod – ein Tabuthema! Mein Angstthema!

Während meiner Therapie stoße ich auf kleine Texte, die mir Mut machen. In einem heißt es, dass man sich in einer fremden Stadt verloren fühlt. Aber wenn ich in dieser Stadt nur einen Menschen kenne, der mich an die Hand nimmt und mir die Stadt zeigt, dann bin ich nicht mehr verloren. So ist es auch mit dem Tod. Jesus wartet auf mich und nimmt mich an die Hand. Mir gefällt dieser Vergleich.

Sprechen hilft zu leben

Als Kind habe ich nicht viele Fragen gestellt. Ab und zu mal gefragt, wo Opa jetzt ist. „Mein lieber Opa!“, hab ich immer gesagt, gefehlt hat er mir schon, vielleicht mehr als den anderen Kindern. Auffällig ist, dass ich ansonsten eher unauffällig war. Ich habe das mit mir ausgemacht, allein. Nah am Wasser gebaut war ich während meiner gesamten Kindheit. Manchmal war ich besonders albern, habe „schwierige Situationen“ mit Humor überspielt. Das Tabu, über Angst und Tod zu sprechen, war für mich – aus heutiger Sicht – immer präsent. Endlich kann ich darüber sprechen. Ich bin erleichtert.

Charlotta ist inzwischen 12 Jahre alt. Sie verbringt auf eigenen Wunsch ein halbes Jahr in Frankreich, lernt dort nicht nur eine andere Sprache kennen. Sie ist so mutig! Ich bin stolz, dass meine Tochter so stark ist. Und wenn sie mal auf ein Problem stößt – 1.500 km von zu Hause entfernt –, dann betet sie.

Oma stirbt

Ich merke, wie ich ein Stück loslassen kann. Wenn ich jetzt von einem Bus überfahren werde, dann hinterlasse ich eine selbstbewusste Tochter, die ihren Weg durchs Leben finden wird. Das haben Anna und ich gut gemacht. Ich beschließe mit meiner Therapeutin, die Dosis meines Antidepressivums zu halbieren.

10. September 2011: Oma ist tot, friedlich eingeschlafen in ihrem Geburtshaus. Sie liegt in ihrem Pflegebett, starr, mit einem Lächeln im Gesicht. In den Gottesdienst möchte Charlotta nicht mitkommen. Sie hat Uroma ja schon „Tschüs“ gesagt, als Pastor Hansen sie zu Hause ausgesegnet hat. Das war schön. Und wenn doch noch einmal die Trauer zurückkommt, lässt sie es einfach raus, stellen wir später fest. Ich bin etwas neidisch.

Kein Antidepressivum mehr

Was mir wohl geholfen hätte damals? Ein persönlicher Abschied? Der Hinweis, dass ich mich an Gott wenden darf? Die Aufmerksamkeit meiner Familie? Die Begleitung meiner Trauer durch Fachkräfte?

2020 steht vor der Tür. Seit 12 Tagen nehme ich kein Antidepressivum mehr. Verlorene Emotionen kämpfen sich – manchmal unkontrollierbar – in mein Leben zurück. Sind das Tränen? Die habe ich lange nicht auf meinen Wangen gespürt. Ich habe Menschen um mich, die mich lieben und verstehen, mir zuhören.

Ich bin Till, 40 Jahre alt. Ich bin mutig.

„Unsere Trauer will Ausdruck finden“

Monika Osmaston-Zakes wurde innerhalb von zwei Jahren mit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter und ihres Mannes konfrontiert. Bei diesen persönlichen Abschieden ist sie viele steinige Trauerwege gegangen. Und hat schließlich eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin gemacht. Mit ihrem Buch „Begleitet in meiner Trauer“ möchte sie anderen Trauernden auf ihren Wegen zur Seite stehen.

Ein Buch zum Thema „Trauer“ zu schreiben, stelle ich mir schwierig vor. Trauer ist ja sehr individuell, oder?
Ja, Trauer ist etwas sehr Individuelles. Je nachdem, wen ich verloren habe, unter welchen Umständen, je nach Lebensgeschichte und nach Temperament zeigt sich Trauer sehr unterschiedlich. Und trotzdem bewegt sie sich für jeden auch in ähnlichen Themenfeldern. Mein Trauerbuch sollte kein Rezeptbuch werden, sondern vor allem ermutigen zu einem eigenen Weg. Dadurch dass ich Beispiele aus meinem eigenen Erleben oder dem anderer Trauernder erzähle, will ich verschiedene Fenster öffnen: „Aha, so könnte ich damit umgehen.“ Und dann muss jeder schauen, was für ihn oder sie stimmig ist. Von daher sind es immer Angebote, aber keine Rezepte.

Gibt es denn bestimmte Phasen der Trauer?
Ich schreibe in meinem Buch nicht von Phasen, sondern von Gezeiten, in Anlehnung an Ruthmarijke Smeding und ihr Modell „Gezeiten der Trauer“. Ich finde die Bilder aus diesem Modell sehr passend: Die Schleusenzeit beginnt mit dem Eintritt des Todes und findet in der Beerdigung ihren Abschluss. Sie ist damit eine nicht wiederkehrende Zeit im Trauerprozess. Im Bild des Januskopfes – benannt nach dem römischen Gott Janus, der ein nach vorn und hinten gerichtetes Gesicht hat – kommt sehr treffend zum Ausdruck: Das, was war, ist nicht mehr, und die Zukunft ist noch nicht vorstellbar. Dies ist häufig begleitet von heftigen Trauerreaktionen. In der Labyrinthzeit geht es darum: Wer bin ich ohne den anderen? Und wie finde ich ohne den anderen in mein neues Leben? Hier ist das Labyrinth ein wunderschönes Bild: Ich gehe nicht verloren wie im Irrgarten, sondern ich werde meinen Weg finden – über viele Kehren und Wendungen. Ich werde zu meiner Mitte finden und auch wieder herausfinden aus der Trauer. Eine weitere der Gezeiten ist die Regenbogenzeit. Der Regenbogen steht ja schon in der Bibel für Hoffnung und für die Zusage Gottes: „Ich bin mit dir.“ Trauer ist kein linearer Prozess. Schon am Anfang des Trauerprozesses kann ich ganz viel Hoffnung und Trost empfinden, und dann wieder holen mich heftige Reaktionen ein, weil ich den anderen schmerzlich vermisse.

Heilt die Zeit alle Wunden?
Nein, das tut sie nicht. Die Zeit schafft Abstand zu dem, was geschehen ist. Die Zeit eröffnet mir einen Zeitraum, in dem Heilung geschehen kann. Aber die Zeit an sich heilt keine Wunden. Es gibt Trauerverläufe, in denen die Trauer nach ganz langer Zeit aufbricht, da sie vorher keinen Ausdruck gefunden hat.

Wie kann ich der Trauer denn Ausdruck geben?
Die Trauer will mir helfen, den Verlust in mein Leben zu integrieren. Wenn ich der Trauer Ausdruck gebe, dann wird sie sich mit der Zeit verändern. Eine Möglichkeit, der Trauer Ausdruck zu geben, ist es, den Tränen freien Lauf zu lassen und zu wissen, dass darin auch der Schmerz abfließen kann. Tränen signalisieren ja auch den anderen: Ich brauche euch jetzt, ich brauche eure Nähe, eure Zuwendung. Wenn ich Menschen habe, die dafür offen sind, kann ich mich ihnen mitteilen. Oder ich kann kreative Ausdrucksformen finden. Ob im Erzählen, im Schreiben, im Gestalten, im Weinen, im Schreien, in der Klage Gott gegenüber. Und dann kann sich langsam etwas verändern. Und sich vielleicht in Dankbarkeit, vielleicht in neue Zuversicht wandeln.

Sie haben gerade die Klage Gott gegenüber erwähnt. Wie kann der Glaube in der Trauer helfen?
Auf ganz vielfältige Weise. Zum einen bietet mir der Glaube einen Raum und ein Gegenüber für meine Klage. Meine Klage geht nicht ins Leere, ich kann darüber mit Gott ins Gespräch kommen. Sie ihm vor die Füße werfen. Mit ihm ringen. Und selbst wenn ich keine Worte finde, hört Gott meinen stillen Schrei. Und der Glaube gibt mir eine Hoffnung, die Hoffnung auf Auferstehung. Er gibt mir damit auch einen Platz für den Verstorbenen. Ich glaube, alle Trauernden fragen sich nach dem Tod eines nahen Menschen: Wo ist mein Verstorbener jetzt? Und jeder macht sich ein Bild. Hier hat der Glaube ganz starke Hoffnungsbilder. Und das kann mich mit meinem Verstorbenen verbinden, dass er bei dem Gott ist, an den ich auch glaube. Außerdem hilft der Glaube durch seine Rituale: sowohl die gemeinschaftlich praktizierten wie das Totengedenken am Ewigkeitssonntag, die Auferstehungsfeier am Ostermorgen oder die Fürbitten in der Kirche, als auch die individuell praktizierten, indem Sie ein Abendgebet sprechen oder morgens Ihren Tag bewusst mit Gott beginnen. Ich finde, dass der Glaube eine große Stütze und eine große Stärke sein kann.

Wo finde ich Hilfe, wenn ich merke, dass ich allein nicht klarkomme?
Sie können sich an das örtliche Hospiz wenden. Hospize haben meist nicht nur Angebote für sterbende Menschen, sondern auch für trauernde Menschen: Einzelbegleitungen oder Trauergruppen, Trauercafés oder Trauerseminare. Im Internet findet man auch verlustspezifische Angebote, wie den Verband für verwaiste Eltern, für verwitwete Menschen oder für Angehörige nach Suizid oder Gewaltverbrechen. Der Bundesverband Trauerbegleitung hat eine Homepage, wo man lokale Trauerbegleiter/innen finden kann. Niemand muss allein unterwegs sein. Es gibt vielfältige Angebote.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Bettina Wendland.

 

Buchtipp: Monika Osmaston-Zakes: Begleitet in meiner Trauer. Ein Hoffnungsbuch für schwere Zeiten (SCM Hänssler)