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„Unser Sohn starb im Bauch“ – Als Paar den Verlust überstehen

Wenn ein Kind im Mutterleib oder bei der Geburt stirbt, kann das für die Partnerschaft zur Zerreißprobe werden. Zwei betroffene Ehepaare und eine Paartherapeutin erzählen vom Umgang mit der Trauer und was in der Krise wirklich hilft.

Von Lisa-Maria Mehrkens

Kein Herzschlag mehr

Nach der Geburt ihres ersten Kindes dauerte es etwas, bis Angelina endlich wieder schwanger wurde. Nun freuten sie und ihr Mann Michael sich auf Wunschkind Nummer zwei. Dann der Schock: Beim Ultraschall konnte die Ärztin keinen Herzschlag beim Baby mehr finden. „Was, wie kann das sein? Du warst doch ein Versprechen und wirst sehnlichst erwartet?! Unser Baby ging. Die Leere blieb“, fasst Angelina ihr Empfinden damals zusammen. Sie und ihr Mann trauerten eine Zeit gemeinsam, weinten miteinander und ließen den Schmerz zu. Doch schon bald spürten sie, wie unterschiedlich sie als Einzelpersonen das Erlebte verarbeiteten.

Während Michael eher versuchte, allmählich im alltäglichen Leben weiterzugehen und sich weniger auf den Verlust und Schmerz zu fokussieren, war Angelinas Bedürfnis, häufig über das Erlebte zu reden, Gefühle einzuordnen und Dinge zu hinterfragen. Das führte zu Spannungen in der Paarbeziehung, sie mussten neu zueinanderfinden. „Gemeinsam reden, einander zuhören und Gefühlen Platz schaffen, ohne den ganzen Raum für sich allein einzunehmen. Den Bedürfnissen des Partners offen begegnen und gleichzeitig den Blick auf sich selbst nicht verlieren. Unterschiede annehmen und Kommunikation in diesem emotional vielschichtigen und sensiblen Prozess als Brücke zwischen unseren Herzen nutzen, statt gegenseitig Mauern zu bauen“, beschreibt Angelina die Herausforderung. Doch genau dadurch lernten sie, sich gegenseitig noch mehr zu schätzen und sensibler aufeinander zuzugehen, auch ohne den anderen in seiner eigenen Gefühlswelt immer zu verstehen.

Das Wichtigste in dieser Zeit war für sie die Entscheidung, als Paar verbunden zu bleiben und den Schmerz anzunehmen. „Gerade in Krisenzeiten kann es besonders schwer werden, Raum zu schaffen für all die Trauer, Wut und Angst, für unbeantwortete Fragen und persönliche Gedanken. Um sich nicht als Paar zu verlieren, muss man genau dann aneinander festhalten und miteinander durch diesen Prozess gehen.“, erzählt Angelina. Das überraschende Happy End der Geschichte: Ein halbes Jahr nach ihrem Verlust durften sie ein kleines Mädchen in ihre Familie aufnehmen und im gleichen Monat hatte Angelina wieder einen positiven Schwangerschaftstest – nun sind Angelina und Michael stolze Vierfacheltern, mit einem Sternenkind im Himmel.

Geburt und Abschied zugleich

Susann und Renes kleine Welt schien nach der Geburt des ersten Kindes und dem Einzug ins eigene Haus perfekt. Doch ihr zweites Wunschkind hatte den Gendefekt Trisomie 18 und nur sehr schlechte Überlebenschancen. „Man hofft einfach nur, dass ein Wunder geschieht. Doch leider starb unser Sohn zwei Tage nach dem errechneten Termin in meinem Bauch und ich musste ihn still auf die Welt bringen. Meine bis dato heile Welt brach zusammen“, erzählt Susann. Sie und ihr Mann gingen vollkommen verschieden mit der Situation um. Rene begann nach der Diagnose – noch während der Schwangerschaft – mit dem Trauern, Ringen und beten. Er findet Trost in dem Wissen, dass es seinem Sohn jetzt bei Gott gut gehe. „Rene sieht es als Gnade an, dass er nicht leiden musste, sondern von einem geschützten Raum, dem Bauch, in den nächsten, den Himmel, übergegangen ist. Es ist kein Ende, sondern wir sehen uns wieder“, erklärt Susann.

Der christliche Glaube hilft Rene, besonnen und ausgeglichen mit der Situation und auch den beiden gemeinsamen Kindern hier auf Erden umzugehen. „Mein Mann ist der Fels in der Brandung, der Anker und das Licht unserer Familie. Ich bin so dankbar, dass er so ist, wie er ist und dass er gelernt hat, mich so zu nehmen mit all den Veränderungen, die dieser Verlust mit sich gebracht hat“, meint Susann. Sie selbst musste intensiver mit dem Erlebten kämpfen. Zunächst lebte jeder in der eigenen Trauerblase, funktionierte. „Es ging in den ersten Monaten nach der Beerdigung ums reine ‚Überleben‘“, erinnert sie sich. Wichtig war für beide, sich gegenseitig Freiraum zum individuellen Trauern und Verarbeiten zu geben und die Unterschiede anzunehmen. Dadurch lernten sie, den anderen so zu akzeptieren, wie er ist, und genau zu überlegen, wie sie sich gegenseitig das geben können, was sie jeweils brauchen. Trotz unterschiedlicher Empfindungen halten sie aneinander, an ihrer Liebe und am Glauben fest.

Auch der ehrliche Austausch untereinander sowie mit Freunden, Familie oder anderen Betroffenen brachte Trost durch die Erfahrung, nicht allein zu sein. Das Erlebte hat Susann und Rene dankbarer gemacht für Gesundheit, Wohlstand und andere Menschen und gleichzeitig gelassener gegenüber scheinbar banalen Alltagsproblemen und den Macken des Partners. Obwohl der Verlust zwei Jahre zurückliegt, stecken sie noch mitten im schwierigen Trauerprozess. „Wir sind auf dem Weg aus dem Tal hinaus und gehen diesen Hand in Hand, manchmal jeder für sich, manchmal schiebt der eine den anderen an oder trägt ihn hindurch. Trotz dieser Wunde im Herzen sind wir als Familie und Paar stärker geworden“, fasst Susann zusammen.

Unterschiede akzeptieren

Diana Muschiol, Paartherapeutin und langjährige Begleiterin von Paaren in Krisenzeiten, weiß, wie unterschiedlich Männer und Frauen trauern. „Jeder sieht und spürt erst einmal hauptsächlich den eigenen Schmerz. Man weiß, wie sich das anfühlt. Wenn man dann vom Partner oder der Partnerin eine andere Reaktion sieht, kann das irritieren, verunsichern oder auch verärgern“, sagt sie. Männer kommen oft in den Problemlöse-Modus, fühlen sich dadurch weniger ohnmächtig dem Erlebten gegenüber. Für die Frau kann es einerseits hilfreich sein, zu wissen, dass der Mann sich kümmert, den organisatorischen Teil übernimmt etc. Doch andererseits besteht die Gefahr, dass der Mann nur auf der Handlungsebene bleibt, seine Gefühle unterdrückt oder sich mit diesen alleingelassen fühlt. Das Verdrängen von Gefühlen kann den falschen Eindruck erwecken, der Tod des eigenen Kindes berühre den Mann emotional gar nicht. Dies kann zu Konflikten als Paar führen.

Frauen spüren den Verlust eines Kindes nicht nur emotional, sondern auch noch physisch durch körperliche und hormonelle Veränderungen in einer Schwangerschaft und nach Fehl- oder Totgeburten. Durch diese weitere Komponente sind sie möglicherweise näher am Verlust dran und wollen eher von anderen in ihrer Not gesehen und wahrgenommen werden.

Sich gegenseitig zu erlauben, auf unterschiedliche Art und Weise zu trauern, ist daher sehr wichtig. Ebenso, negative Gefühle wie Wut oder Fassungslosigkeit zu akzeptieren und sich dann gemeinsam ehrlich und verständnisvoll über die verschiedenen Bedürfnisse, Gedanken und Gefühle auszutauschen. „Denn auch wenn beide in so großer Not und starkem Schmerz sind, so ist der Partner oder die Partnerin die Person auf Erden, von der man den besten und hilfreichsten Trost, Mitgefühl und Mitleid erwartet“, beschreibt Muschiol.

Damit sich weder Männer noch Frauen mit ihrem Schmerz über den Verlust alleingelassen fühlen, braucht es Kommunikation untereinander und nach außen. „Doch manchmal – gerade zu Beginn oder kurz nach der Fehlgeburt –, wenn der Schock, der Schmerz oder der Verlust so groß ist, kann es zu schwer sein, darüber zu reden. Man findet keine Worte für den großen Schmerz. Auch das ist in Ordnung“, weiß die Expertin. Dann sollte man seinem Gegenüber das auch zu verstehen geben und auf andere Arten Kontakt, Nähe oder Trost suchen. Zum Beispiel kann man sich im Arm halten, schweigend zusammensitzen, händchenhaltend spazieren gehen oder durch andere Gesten signalisieren, dass man da ist und an den anderen denkt.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin.

Witwe durch Suizid: Wie sich eine Frau zurück ins Leben kämpft

Durch den Suizid ihres Mannes geht Nics Leben über Nacht in die Brüche. Doch in Trauer und Chaos findet sie Wege, ihr Leben neu zu gestalten.

Die innere Welt

Vor sechs Jahren ist mein Mann gestorben. An Suizid. Das war definitiv etwas, das ich mir nicht ausgesucht hatte. Gewählt hatte ich zuvor ein Leben auf dem Land mit meinem Mann und meiner Tochter, Hund und Katze, und einem gemeinsamen Beruf. Dieses Leben war mit der Entscheidung meines Mannes, nicht mehr leben zu wollen, genauso plötzlich gestorben wie er. Ich hatte dabei kein Mitspracherecht.

Ein plötzlicher Todesfall – besonders ein Suizid – beendet aber nicht nur ein Leben, wie es vorher war. Es löst auch eine Menge Neues aus: Wellen voll Emotionen und Gedanken spülen über uns hinweg, und wir wissen kaum noch, wo oben und unten ist. Oft funktionieren wir dann nur noch, weil wir sonst untergehen würden. Erst später, wenn wir uns etwas an den Wellengang gewöhnt haben, können wir uns diesen neuen Gedanken und Gefühlen stellen, die mit der Trauer angerauscht kommen.

Mit der Zeit nimmt die Wucht der Wellen ab, und sie werden seltener und flacher. Wir können die Gedanken und Gefühle besser wahrnehmen und sortieren. Ab und an schwimmen wir mit ihnen oder trauen uns sogar, mit ihnen zu spielen und auf ihnen zu surfen. Denn dazu sind sie eigentlich da. Sie helfen uns, einen neuen Platz zu finden, nachdem etwas unser vorheriges Leben zerstört hat.

Die äußere Welt

Ob wir wollen oder nicht – die Welt um uns herum nimmt uns anders wahr. Ich war nun Witwe. Das waren für mich bis dahin alte Frauen in schwarzer Kleidung gewesen, aber doch nicht ich, mit Mitte dreißig!

Als ich versuchte, eventuell eine neue Wohnung für mich und meine Tochter zu finden, stellte ich zudem fest, dass ich nicht nur Witwe, sondern auch alleinerziehend war. Und damit kamen Annahmen wie: überarbeitet, überfordert, nicht zahlungsfähig. Zumindest wenn es nach den Maklern ging, die mich nicht mehr zurückriefen, sobald sie erfuhren, dass ich keinen Mann mehr an meiner Seite hatte. Sozialer Abstieg innerhalb von Sekunden in den Köpfen fremder Leute.

„Kein Mann mehr“ hieß bei anderen aber auch: Sie ist Single. Nach fast zwanzig Jahren in einer Beziehung wurde ich wieder angeflirtet. Schon drei Tage nach dem Tod meines Mannes. Was ich zunächst gar nicht begriff, weil ich daran zuletzt dachte: wieder Platz zu machen in meinem Herzen für einen anderen Menschen.

Denn für mich hatte sich an meiner Definition wenig geändert. Ich war mit meiner Tochter immer noch eine Familie. Ich hatte nur meinen Mann verloren. Ich hatte nicht um neue Beschreibungen gebeten, wie Witwe, alleinerziehend, Single. Ich war immer noch ich. Zwar mit inneren Trauerwellen in Richtung Veränderung, aber doch nicht so, wie andere mich sahen! Auch das: etwas, das ich mir nicht ausgesucht hatte. Und woran ich nichts oder nur wenig ändern konnte.

Die Umwelt

Akzeptanz und Annahme von dem, was man nicht ändern kann, gehört zu den ersten und gleichzeitig schwersten Aufgaben, wenn man um ein Leben trauert, das nicht mehr da ist. Umso schwieriger ist es aber auch zu entscheiden, was man akzeptieren muss und was nicht.

Mit dem Tod meines Mannes war lange nicht klar, ob ich auch noch unser Haus verliere. Es hat drei Jahre gedauert, bis deutlich wurde: Wir können bleiben und es sanieren – die zweite Hälfte der Sanierung fiel in den ersten Lockdown der Pandemie; auch etwas, was wir uns nicht ausgesucht hatten. Ein Zuhause zu haben – und damit ein soziales Umfeld, das einem Sicherheit und Geborgenheit gibt –, ist in Umbruchphasen immens wichtig. Wenn das auch noch wegbricht, wackelt das Leben auf allen Ebenen. Ich fühle deshalb sehr mit Menschen nach einer Flutkatastrophe oder auf der Flucht. Denn unser Haus war das Einzige, was ich aus meinem alten Leben retten konnte.

Meinen Beruf musste ich aufgeben. Mein Mann und ich hatten eine Beratungsstelle, die ich allein nicht weiterführen konnte. Mich davon zu verabschieden, tat weh, machte aber auch Platz für Neues. Für etwas, das schon lange in mir geschlummert, aber bis dahin keinen Raum hatte: Ich habe Bildhauerei studiert. Und einen Verein gegründet, der anderen Hinterbliebenen nach einem Suizid eine Stütze sein soll: Blattwenden e. V.

Die Glaubenswelt

Ich bin Christin und finde in Gott meinen Halt. Umso überraschter war ich, als ich letztens gefragt wurde, ob meine andauernde Müdigkeit vielleicht daran liegt, dass ich mich von Gott entfernt hätte. Über solche Mutmaßungen kann ich nur gähnen. Denn Veränderungen, die wir uns nicht ausgesucht haben, machen einfach müde. Sie verlangen Kräfte und Fähigkeiten von uns, von denen wir vorher gar nicht wussten, dass wir sie hatten. Sie zwingen uns aber auch dazu, nicht nur einmal, sondern für eine lange Zeit über unsere Grenzen zu gehen.

Viele haben genau das in den letzten Jahren erlebt, in der Pandemie, den Flutgebieten und jetzt durch den Krieg in der Ukraine. Besonders Menschen im Sozial- und Gesundheitswesen wurden und werden mit Veränderungen konfrontiert, die sie sich nicht ausgesucht haben. Irgendwie müssen wir da durch. Dass wir danach müde sind, liegt sicherlich nicht an unserer Gottlosigkeit. Es liegt daran, dass wir den Sonntag, den Ruhetag, den Gott uns empfohlen hat, für mehrere Jahre nicht leben konnten.

Ich bin deshalb umso dankbarer, dass ich in all dem Chaos namens Leben eine stabile Konstante an meiner Seite weiß: Meine himmlische Begleitung, die mich aushält mit meinen Trauerwellen, die mich schützt vor Verurteilungen und Geringschätzung von außen, die mir Weisheit schenkt bei meinen Entscheidungen, und die mir Mut macht, nach vorn zu gehen.

Natürlich hadere ich mit Gott. Natürlich finde ich vieles unverständlich und doof. Natürlich bin ich ungeduldig und genervt und wütend und tieftraurig – aber Gott hält das aus! Gott versteht mich. Und das gibt mir Trost und Erdung, um daraus zu wachsen. Es lässt aber auch eine Menge unnötigen Kram hinter mir. Viele Glaubensdiskussionen werden unwichtig. Sie stehlen mir nur meine wertvolle Zeit, die ich hier auf der Welt noch habe, mit meiner Tochter und meinem neuen Mann. Das finden manche befremdlich. Ich finde es befreiend.

Weiter in die neue Welt

Leider haben wir keine Garantie, dass nach einem Abschied alles wieder gut wird. Manchmal kommen neue Abschiede hinzu. Zwei Jahre nach dem Suizid meines Mannes ist mein Vater gestorben, letztes Jahr unsere Katze und vor drei Wochen unser Kater – wieder plötzlich, von einem Auto angefahren. Das hat bei meiner Tochter neue Trauerprozesse ausgelöst. Denn nicht nur ich habe das alles erlebt, sondern auch mein heute neunjähriges Kind. Jetzt ist sie dran. Jetzt kann sie endlich Worte für ihre Veränderungsprozesse finden. Und ich kann und will für sie da sein.

Um das zu können, kann ich aber nicht mehr jeden Tag ums Thema Trauer kreisen. Bisher war ich auf Spendenbasis bei meinem Verein angestellt. Durch die Pandemie und die Wirtschaftslage haben bereits und werden noch viele unserer Förderer ihre Spenden einstellen. Gleichzeitig geht mein Bildhauerei-Studium zu Ende. Ich muss also umdenken. Schon wieder.

Auch wenn ich Veränderungsprozesse gut begleiten kann, heißt das ja nicht, dass ich das auch tun muss. Und genau da befinde ich mich jetzt: Bei der Bürde und dem Luxus, (relativ) frei zu entscheiden, was als Nächstes kommt. Ob ich tatsächlich so bescheuert bin und ausgerechnet in einer Wirtschaftskrise einen Beruf ergreife, in dem ich einfach nur schöne Dinge herstelle, wofür andere kein Geld mehr haben, weil es für sie ums pure Überleben geht?

Aber: Es zeigt auch, dass bei allen erzwungenen Veränderungen von außen immer Möglichkeiten bleiben, sich für etwas zu entscheiden. Auch wenn es nur verborgen oder klein ist. Irgendwo gibt es immer eine Chance für einen Neubeginn. Jesu Auferstehung ist das beste Beispiel dafür. Und mit diesem Beispiel lebe ich weiter, immer.

Nic Schaatsbergen ist gelernte Journalistin und Diplom-Bildhauerin: art.greenwoman.de. Sie engagiert sich für Suizid-Hinterbliebene bei Blattwenden e. V.: blattwenden.eu

 

Falls ihr selbst in einer verzweifelten Situation seid, sprecht mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch die Beratung über E-Mail ist möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

„Mein Kind ist ständig traurig“ – Checkliste, wann sie reagieren sollten

Ist mein Kind depressiv? Acht Anzeichen können Eltern bei der Entscheidung helfen, ob ihr Sohn oder ihre Tochter professionelle Hilfe brauchen.

Wenn Kinder ständig niedergeschlagen wirken, dann besorgt das die meisten Eltern – zurecht! Denn Kinder sind grundsätzlich eher fröhlich und entdeckungsfreudig, auch wenn es natürlich Unterschiede im Naturell gibt, so wie bei Erwachsenen auch. Wenn Ihr Kind Ihnen ungewöhnlich traurig erscheint, sollten Sie genauer hinschauen. Denn auch Kinder können eine Depression entwickeln. Folgende Checkliste hilft Ihnen bei der Einschätzung des Problems:

  • Wie lange ist das schon so? Wenn die Stimmung zwei Wochen oder länger schlechter ist als sonst, dann wird es ernst.
  • Gibt es bestimmte Stressfaktoren, die kurz vor dem Stimmungstief aufgetreten sind, und lassen sich diese eventuell mildern? Werden sie sehr bald von selbst enden (zum Beispiel in der Prüfungsphase), sodass eine Besserung realistisch ist? Wenn das der Fall ist und Sie keine akute Gefährdung sehen, kann es sich lohnen, ein bis zwei Wochen abzuwarten.

Schlafprobleme und Schmerzen?

  • Zeigt Ihr Kind zusätzliche körperliche Auffälligkeiten wie weniger oder mehr Appetit, Schlafprobleme, Müdigkeit, Schmerzen …? Auch das können Anzeichen einer Depression sein.
  • Hat Ihr Kind das Interesse an Aktivitäten oder Themen verloren, für die es sich sonst begeistert hat?
  • Zieht sich Ihr Kind zunehmend zurück und vermeidet Kontakte? Auch das ist ein wichtiges Alarmzeichen für eine Depression.

Spricht es vom Wunsch zu sterben?

  • Ist Ihr Kind neben der Betrübtheit auch gereizt oder genervt?
  • Spricht Ihr Kind sehr schlecht über sich selbst, zeigt es Probleme im Selbstbewusstsein?
  • Benennt es vielleicht sogar den Wunsch, lieber tot zu sein? Wenn das der Fall ist, sollten Sie sofort handeln und sich an die nächste Kinder- und Jugendpsychiatrie wenden (notfalls auch erfragen unter der Telefonnummer 112).

Erziehungsberatungsstellen können helfen

Wenn ein oder mehrere Kriterien erfüllt sind, dann sollten Sie besonnen, aber entschlossen reagieren. Erklären Sie Ihrem Kind, dass Sie sich Sorgen machen, weil Sie spüren, dass es ihm nicht gut geht. Und dass Sie wollen, dass es ihm besser geht und sich deswegen um Hilfe kümmern.

Holen Sie professionelle Hilfe zum Beispiel bei einer Erziehungsberatungsstelle (Adressen finden Sie unter dajeb.de) oder einer Praxis für Kinder- und Jugendpsychotherapie. Dort gibt es meist lange Wartelisten, man kann die Wartezeit aber gut mit Terminen in einer Erziehungsberatungsstelle überbrücken. Dort gibt es Angebote sowohl für das Kind allein als auch für die Eltern oder die ganze Familie, je nachdem, was sich als passend herausstellt.

Melanie Schüer ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Autorin (neuewege.me).

„Führten sogar seine Beerdigung gemeinsam auf“: Das erlebt ein Klinikclown

Peter Spiel ist Klinikclown. Er begleitet Kinder und Senioren beim Heilen – und Abschiednehmen. Ein Besuch im Münchner Kinderspital.

Rote Nase, geschminkte Bäckchen, etwas Kajal um die Augen und eine Mütze auf dem Kopf – das ist das Arbeitsstyling von Klinikclown Peter Spiel. Er winkt in den Bildschirm des Laptops und ruft seinem Gegenüber Grüße zu, dann stellt er die Kamera aus. Die positive Energie schwebt auch nach der Clownsvisite durch den Büroraum. Normalerweise geht er mit seiner Kollegin Barbara Draeger auf Kinderstationen und besucht seine Patienten an den Betten. In Pandemiezeiten ist nichts mehr normal und so müssen auch die Clowns ihre Visite virtuell absolvieren.

„Virtuelle Besuche machen vieles möglich“, sagt Peter Spiel. „Wenn wir ein Kind besuchen, schalten sich Geschwister dazu oder die Eltern sind per Smartphone dabei. Wir mussten uns neue Tricks überlegen, um die Kinder zu überraschen. Zum Beispiel bitten wir die Eltern, eine Clownsnase im Schubkasten oder unter dem Kopfkissen ihres Kindes zu verstecken. Dann kündige ich einen großen Zauber an und werfe die Clownsnase über meinen Bildschirm. Die Überraschung ist groß, wenn das Kind die Nase findet. Für uns ist es auch immer aufregend, ob Neues gelingt. Einmal reagierte ein Kind nur mit ‚Na endlich, da ist ja meine Nase‘. Für kleine Kinder ist es selbstverständlich, dass wir zaubern können.“

Die Mission: Ein schöner Moment

Professor Dr. Roger Paletti alias Peter Spiel und Rhabarber Rosella alias Barbara Draeger besuchen nicht nur Kinder, sondern auch Jugendliche und Erwachsene auf Palliativstationen. Sie gehen in Behinderteneinrichtungen und Seniorenheime. Als Paar können sie besser interagieren und sich auf die Bedürfnisse ihres Publikums einstellen. Ihr Auftrag: einen schönen Moment verschenken!

Peter Spiel ist Schauspieler, Regisseur und Clown. Er sucht nicht die große Bühne, sondern die Begegnungen mit den Menschen. Für seine Arbeit in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen hat er eine spezielle Ausbildung absolviert. „Als Clowns können wir nichts an der Situation verändern, aber wir können das Jetzt gestalten. In meiner Arbeit zählt immer der Moment.“

Auch rausgeschmissen werden gehört dazu

Der Moment zählt, selbst wenn dieser traurig, frustrierend oder enttäuschend ist. Peter Spiel fragt sich, was ein Mensch genau in dieser Situation braucht. Dabei kann er keine Liste abarbeiten. „Es gibt Jugendliche, die mich nicht sehen wollen, weil sie alles zum Kotzen finden. Sie liegen im Bett, haben Schmerzen, sehen ihre Freunde nicht und müssen ständig tun, was man ihnen sagt, aber mich können sie rausschmeißen.“ Peter lacht, und er meint es ernst. Als Clown gibt er ihnen ihre Selbstbestimmung zurück. Roger Paletti kann weggeschickt oder ermahnt werden, kann angemotzt oder belehrt werden. Der Clown versteht und urteilt nicht, und häufig ergibt sich dann doch ein Miteinander, weil sich die Anspannung gelegt hat.

Vor (und hoffentlich auch nach) der Pandemie öffnen die Clowns das Krankenzimmer und lassen den Raum auf sich wirken: Wie ist die Stimmung? Wer ist da? Was passiert gerade? Übrigens ist das eine Empfehlung an uns alle: nicht gleich loslegen und sprechen, sondern erst einmal den Raum und den Moment wahrnehmen. Dann ergibt sich die Rolle, die Roger Paletti einnimmt, von allein. Peter erzählt von einem Kind, dessen Unterschenkel amputiert werden musste. Damit die zukünftige Prothese passt, wurde die Ferse an das Knie fixiert. „Ja mei, was haben die Doktoren für einen Schmarrn gemacht. Sie haben deinen Fuß falsch angenäht“, rief Roger Paletti. Das Kind war stolz, dass es dem Clown erklären konnte, wieso das gemacht wurde, und dass es bald wieder laufen kann. Kinder lieben es, wenn sie mehr wissen als der Clown. Wenn Roger Paletti in den Kleiderschrank geht, weil er denkt, das sei die Tür, ist die Freude groß.

Eine Wohltat für die Eltern

Die Clownsvisiten sind für die ganze Familie eine Wohltat. Manche Eltern gehen dann Kaffee trinken und haben endlich Zeit für sich. Andere bleiben und freuen sich am Lachen ihrer Kinder. Häufig sind auch Geschwisterkinder dabei. „Gerade sie müssen viel zurückstecken, denn alles dreht sich um das kranke Kind. Wenn die Hygieneregeln es erlauben, folgen sie uns in mehrere Zimmer.“ Lachen ist gesund, sagt der Volksmund, inzwischen bestätigen es auch Studien. Wer lacht, atmet tiefer, spürt sich besser und nimmt Schmerzen weniger intensiv wahr. Ängste und Sorgen verlieren etwas von ihrer Kraft. Humor hilft heilen und Clowns spüren ihn auf. So wie bei Claudia. Die Zwölfjährige war allein in ihrem Zimmer und wirkte abweisend. „Zuerst schaute ich mich einfach um“, erzählt Peter. „Auf ihrem Schlafanzug waren rote Punkte. Ich begann, weitere Punkte an ihr und im Zimmer zu suchen, bis ich eine rote Clownsnase fand. Über diese roten Punkte kamen wir ins Spiel und Claudia begann zu reden.“

Clowns haben Zeit

Die Welt des Clowns ist schön, faszinierend und bunt. Er betrachtet die Welt in seiner Naivität und kann über alles staunen. Ein Kleidungsstück, ein Foto, ein Schokoriegel oder eben rote Punkte geben dem Clown Einstiegsmöglichkeiten. Immer ist der Mensch der Gradmesser, ob etwas lustig ist oder nicht.

In der Arbeit mit Seniorinnen und Senioren steht die Kommunikation im Vordergrund. „In unserer Anfangszeit hatte man Sorge, dass wir uns über die Bewohner lustig machen. Doch darum geht es nie! Der Clown lacht mit und nicht über jemanden.“ Schabernack und Slapstick funktionieren an diesen Orten nicht. „Wenn ich gegen die Wand laufe, machen sich die Seniorinnen eher Sorgen um mich, ob ich mich verletzt habe. Wir reden und singen Lieder. Die Menschen entspannen sich, fühlen sich weniger einsam. Das Personal sagt, dass der Umgang mit den Bewohnern leichter ist, wenn wir da waren. Wir haben etwas, das andere leider nicht haben: Zeit.“

Spielerische Beerdigung

Die Clowns zelebrieren die Langeweile. Sie haben eine lange Weile Zeit, um den Menschen zu begegnen und zu spüren, was sie bewegt. Dabei sind die Clowns ehrlich. Sie kennen ihre Grenzen, sie versprechen nichts, was sie nicht halten können. Sie werden nichts verheimlichen und nichts beschönigen. „Wir wissen, dass manche Kinder todkrank sind. Wir können ihnen nicht sagen, dass alles wieder gut wird. Aber wir wollen bei ihnen sein.“

Peter erzählt, wie sie monatelang ein Kind besuchten und alle wussten, dass der Abschied bevorstand. „Häufig fällt den Kindern das Loslassen leichter als den Erwachsenen. Wir hatten lange einen Jungen begleitet. Er war zehn Jahre alt. Bei unseren letzten Begegnungen wollte er alle Szenen nachspielen, die wir gemeinsam erlebt hatten, sogar seine Beerdigung führten wir gemeinsam auf. Spielerisch schloss er mit seinem Leben ab.“

Clownstränen

Wenn man einen Menschen über einen langen Zeitraum begleitet, bewegt es auch den privaten Peter Spiel. „Manchmal fließen auch bei mir Tränen und dann spreche ich mit meiner Frau darüber. Ich muss immer wieder lernen, mich abzugrenzen. Roger Paletti ist eine Rolle und sie hilft mir, innerlich auf Distanz zu gehen. Dann konzentriere ich mich auf den nächsten Menschen und den nächsten Moment.“

„Auch mein Glaube hilft mir, aufzutanken“ erklärt Peter. „Im Gebet kann ich alles, was mich belastet, abgeben. Und wenn ich Menschen beobachte, finde ich neue Inspirationen.“ Zu gern sitzt er in einem Café und sieht Menschen zu, wie sie sich bewegen, gestikulieren oder laufen. Wenn man Peter zuhört, spürt man, dass der Clown ein Menschenfreund ist. Er staunt, bewundert, ermutigt und hält so vieles für möglich. „Wer gehen kann, kann auch tanzen. Wer reden kann, kann auch singen.“ Wie meint er das? „Erziehung hat uns verzogen. Ständig zog man an uns – das macht man nicht, das tut man nicht, das sagt man nicht. Wir trauen uns vieles nicht zu, weil wir uns sorgen, was andere über uns denken. Als Clown habe ich gelernt, mich von der Zerrerei zu befreien. Ich habe den Rückzug in das Leben angetreten, auch wenn ich manchmal durchs Leben stolpere.“

Susanne Ospelkaus lebt mit ihrer Familie in Zorneding bei München, bloggt unter susanne-ospelkaus.com und arbeitet als Autorin und Therapeutin.

Keine Angst vorm Tod: Schon als Kind schiebt Bestattungsfahrer Benjamin Särge durch die Gegend

Wie ist es, als Kind neben Toten zu spielen? Benjamin Rosenthal weiß es, denn seine Familie fährt seit Generationen die Toten zu ihrer Ruhestätte.

Böhmisch-Rixdorf. Wer in diesem Teil von Berlin-Neukölln ankommt, hat das Gefühl, in eine andere Zeit zurückversetzt worden zu sein. Die Betlehemskirche aus dem 15. Jahrhundert mit ihrem hölzernen Glockenturm. Berlins älteste Schmiede, in der heute immer noch Schmuckstücke oder Messer in der heißen Glut geschmiedet werden. Die historischen, blumenberankten Häuser und die alte Dieselzapfsäule aus den 50ern. Das Kopfsteinpflaster führt direkt in den Hof des Familienunternehmens Gustav Schöne. „1894“ prangt groß auf einem der Gebäude – das Gründungsjahr. Geschäftsführer Benjamin Rosenthal empfängt mich dort in kurzer Lederhose und blauem T-Shirt. Aufschrift: SUPERDAY. Viele, die auf diesem Hof eintreffen, haben allerdings keinen super Tag, sondern ihren letzten bereits erlebt. Das Bestattungsfuhrunternehmen befördert seit vielen Jahren die Toten Berlins: Abholung aus der Wohnung oder dem Krankenhaus, Zwischenlagerung in einem der 100 Kühlfächer, Fahrt zum Friedhof oder Krematorium.

Hochzeitsfahrten lohnen sich nicht mehr

Benjamin Rosenthal öffnet die schwere, hölzerne Tür und führt mich in den Kutschenstall. Zwei weiße Hochzeitskutschen stehen hier, ein schwarzer, eindrucksvoll düsterer Bestattungswagen aus handgeschnitzter Eiche, eine gelbe Postkutsche. An der Wand hängt altes Pferdegeschirr. Im 19. Jahrhundert startete der Firmengründer Gustav Schöne seinen Fuhrbetrieb mit zwei Pferden und fuhr Ärzte zu Patienten. Nach und nach kamen Fahrten für die Müllabfuhr und die Post hinzu, später auch Hochzeitsfahrten. 1927 wurde das erste Auto angeschafft. Heute werden die Kutschen nur noch als Filmrequisiten ausgeliehen, selbst die Hochzeitsfahrten lohnen sich nicht mehr. So hat sich das Unternehmen mittlerweile auf Bestattungsfahrten spezialisiert. Benjamin Rosenthal leitet das Geschäft in fünfter Generation, gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Mutter.

Die letzte Fahrt in Würde

Um sechs Uhr morgens war er heute schon auf dem Hof, um aufzuschließen. „Dann kommen die ersten, liefern Särge oder es kommt jemand vom Krematorium und holt eine Verstorbene ab“, erklärt er. Der Großteil seiner Arbeit besteht aus logistischen Tätigkeiten. Wer fährt mit welchem Wagen wann wohin? Um die Übersicht zu behalten, hat der Betrieb im Büro einen Bildschirm, der den Standort der Transporter anzeigt. Diese Woche ist es ruhig, es sind nur 6 von seinen 20 „Jungs“, so wie er sie nennt, im Einsatz. Manchmal ist auch mehr los, dann befördern sie zwischen 20 und 40 Tote jeden Tag.

Auch heute fährt Benjamin Rosenthal manchmal noch mit und holt Verstorbene mit einem der Bestattungswagen ab. Gerade steht die neue, cremeweiße E-Klasse auf dem Hof. Rosenthal öffnet den Kofferraum. Der Sargraum ist hell und schlicht ausgestattet. Zwei Panoramafenster mit Vorhängen geben den Hinterbliebenen die Möglichkeit, einen letzten Blick auf den Sarg werfen zu können. An der Decke leuchten kleine LED-Sterne, wie am schwarzen Nachthimmel.

Fußballspiel zwischen Särgen

Benjamin Rosenthal ist auf dem Hof groß geworden, spielte als Kind hier oft Fußball oder sauste mit dem Fahrrad herum. Wenn die Türen zum Kühlraum mal aufstanden und ein Sarg zum Abschiednahme-Raum geschoben wurde, dann fassten er und sein Bruder mit an. „Für mich war das was ganz Normales“, erzählt er. Tod und Sterben waren für ihn schon als Kind so selbstverständlich, dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, wann er das erste Mal verstand, wer in den Särgen liegt. Oft wird der Familienunternehmer gefragt, wie er als Kind damit umgegangen sei. Dann antwortet er, dass der Tod für ihn schon immer mit zum Leben gehörte.

Mit 16 Jahren fuhr er zum ersten Mal im Bestattungswagen mit und holte einen Verstorbenen ab – so wie auch andere Kinder aus familiengeführten Unternehmen irgendwann mitarbeiten. An seinen ersten Toten erinnert er sich nicht mehr, er hatte auch nie Berührungsängste. „Aber den ersten Verstorbenen, der nicht mehr so schön war, den vergisst man nicht. Schon allein wegen des Geruchs“, sagt er. „Wenn jemand zum Beispiel schon sehr lange in der Wohnung lag und dann sind da schon überall die Fliegen.“

Kinder gehen ganz offen mit dem Tod um

Die vierjährige Tochter von Benjamin Rosenthal wächst, wie er damals, auf dem Hof auf. Ist sie gerade da und er schiebt einen Sarg aus der Kühlung, dann bittet er sie manchmal, mit anzupacken. Einmal hat sie ihn gefragt, wer da im Sarg liegen würde. „Und dann sagt man ganz normal: Das ist jemand, der verstorben ist und nicht mehr lebt“, berichtet er. „Alles klar“, war dann die schlichte Antwort seiner Tochter. Mehr Fragen hatte sie bisher nicht. Auch die Kitakinder, die regelmäßig den Hof besuchten, als dort noch Pferde standen, waren mit einer simplen Antwort zufrieden, erzählt Benjamin Rosenthal. „Kinder gehen oft viel offener mit dem Tod um, als wir. Deswegen ist es schade, wenn versucht wird, sie davon fernzuhalten.“

Es wäre sogar viel einfacher für sie zu verstehen, dass Oma oder Opa nicht mehr da sind, wenn sie noch etwas zum Anfassen oder Sehen hätten. Deswegen würden einige Bestatter mittlerweile auch spezielle Angebote für Kinder machen: Sie können beispielsweise den Sarg bemalen oder beschreiben. Manche arbeiten auch mit „Sorgenfressern“, kleinen Puppen, die einen Reißverschluss als Mund haben und denen die Kinder ihren Kummer in Form eines Bildes oder Textes anvertrauen können. „Es gibt auch wunderbare, schön illustrierte Bücher zum Thema. Die kann man als Eltern mit dem Kind lesen“, sagt er.

 „Über das, was nach dem Tod kommt, habe ich mir noch nicht so Gedanken gemacht.“

Benjamin Rosenthal ist kein Philosoph. Obwohl er jeden Tag Särge mit Verstorbenen über den Hof schiebt, hat er sich bisher wenig Gedanken gemacht, was danach passiert. Er hofft aber, dass sein eigenes Ende möglichst wenig schmerzhaft ist. Am liebsten würde er einfach zu Hause alt werden und eines Tages nicht mehr aufwachen. Ich frage ihn, was er Menschen antwortet, die Angst vor dem Sterben haben. Längere Gesprächspause. „Das hat mich noch keiner gefragt“, sagt er dann etwas ratlos. Vielleicht ist er zu nah dran, um noch Angst haben zu können.

Er geht das Thema vor allem pragmatisch an und rät, möglichst früh mit Freunden oder Familie über den Ablauf der eigenen Beerdigung zu sprechen. Ist eine Erd- oder eine Feuerbestattung gewünscht? Welche Musik soll gespielt werden? „Viele, denen ich erzähle, dass sie sich vorher über einen groben Ablauf Gedanken machen sollen, haben sich danach bedankt.“ Der Tod lässt sich nicht kontrollieren. Doch wer seine Beerdigung plant, hat das Gefühl, wenigstens einen kleinen Teil davon steuern zu können. Das kann vielleicht ein bisschen die Angst nehmen.

Humor hilft

Am Eingang des Kutschenstalls lehnen ein blaues Kinderfahrrad und ein Motorrad. Wenn Benjamin Rosenthal abschalten möchte, dann setzt er sich auf das Motorrad und fährt los, um eine Weile nichts zu hören und zu sehen. Auch Treffen mit seinen Freunden und Unternehmungen mit seiner Tochter helfen ihm, nicht mehr darüber nachzudenken, was mit den Toten genau passiert ist oder wie eine Familie jetzt gerade leidet. Zudem gäbe es auch noch den Gemeindeseelsorger aus der evangelischen Brüdergemeine, die seine Familie besucht.

Wenn es darum geht, die Verstorbenen zu versorgen, sei sehr viel Mitgefühl gefragt. „Aber wenn wir dann wieder mit den Kollegen im Auto sitzen, unterhalten wir uns ganz normal und machen oft auch Witze. Das ist wie eine Schutzfunktion“, erklärt der Unternehmer. Tagtäglich bekomme er mit, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann. Deswegen sei es umso wichtiger, es zu genießen und Spaß zu haben. Wir verlassen den Kutschenstall wieder und gehen dabei an einem Stapel Särge vorbei. Benjamin Rosenthal öffnet einen: „Mal sehen, ob der leer ist“. Kurze Schrecksekunde meinerseits. Natürlich ist er leer. „Kleiner Scherz“, meint er grinsend. „Bestatterhumor“.

Sarah Kröger ist freie Journalistin und Projektmanagerin und bloggt unter neugierigauf.de zu Themen wie Familie, Digitales, Arbeit, Soziales und Nachhaltigkeit.

Trauere ich richtig? Nicole erkärt, warum sie um ihre sterbende Katze mehr weint als um ihren Mann

Nicole Schenderlein hat schon viele Tode erleben müssen. Und dabei gelernt: Es gibt keine falsche Trauer.

Die Katze stirbt. Nach einer menschlichen Volljährigkeit ist unser Stubentiger am Ende seines Lebens angekommen. Das war zu erwarten. Sie ist alt. Und trotzdem wirft es mich aus der Bahn. Ich schlafe nicht, esse wenig und weine fast mehr als nach dem Suizid meines Mannes und dem Tod meines Vaters, um nur die letzten zwei Toten meines Lebens zu nennen. Ich bin erst knapp über vierzig und habe schon so viele Todesfälle erlebt; da müsste ich doch ein dickeres Fell haben. Oder?

Man könnte doch meinen: So ist das Leben, am Ende gehört das Sterben dazu. Irgendwann müssen alle Abschied nehmen. Und all die weiteren Floskeln, die man so von sich gibt, wenn ein Lebewesen zum letzten Mal seinen Odem aushaucht. Ist halt so. Punkt.

Trauern ist wie Liebeskummer

Ja und nein. Dieser pragmatische Umgang mit dem Tod kann eine Variante sein, wie wir als sterbliche Wesen damit umgehen: Akzeptanz. Und weiter geht’s. Es ist aber nicht die allgemeingültige Variante. Denn allgemeingültig, das gibt es nicht beim Trauern.

Für mich ist der bald nahende Tod unserer Katze nicht nur ein Fakt, den ich akzeptieren muss. Es ist Liebe, die nicht mehr gelebt werden kann. Wenn ein Mensch oder ein Tier stirbt, zu dem wir eine Bindung haben, erleben wir Liebeskummer. Nur ohne dieses: „Liebt er oder sie mich vielleicht doch noch?“ Denn das tut er oder sie. Meistens. Doch die Liebe wird getrennt. Die Bindung gekappt. Und das für immer.

Akzeptanz ist nicht immer eine Lösung

Mit sachlicher Akzeptanz kommen wir da nicht weit. Zumindest nicht auf Dauer. Sachliche Akzeptanz funktioniert so lange, bis es uns selbst betrifft. Wenn ein Bekannter stirbt oder ein Promi oder ein Verwandter, den ich kaum gesehen habe in meinem Leben, fehlt mir die Bindung. Hatte ich eine liebevolle Beziehung zu dieser Person? Nein? Dann ist das kein Problem mit der Akzeptanz.

Und das ist auch gut so. Man stelle sich vor, wir würden bei jedem Menschen, der stirbt, diesen Schmerz erleben. Diese unerwiderte Liebe auf ewig. Zumindest fühlt es sich so an, auch wenn wir an ein Leben nach dem Tod glauben und auf ein Wiedersehen in der Ewigkeit hoffen. Hier in unserem irdischen Leben, in unserem Alltag zwischen Zähneputzen, Arbeit und Älterwerden entsteht plötzlich eine Lücke, die sich nicht mehr füllen lässt. Auch wenn manche es versuchen.

Menschen trauern unterschiedlich

Unsere Katze ist nicht das erste Tier, von dem ich mich verabschieden muss. Vor einigen Jahren musste ich unseren ersten Hund einschläfern lassen. Bis ich wieder eine Fellnase in mein Leben ließ, dauerte es mehrere Jahre. Ich brauchte Zeit, um die Liebe loszulassen und Platz zu schaffen in meinem Herzen für einen anderen Hund.

Als meine Eltern ihren Hund verloren, kam gleich wenige Wochen später ein neuer ins Haus. Eine Hündin, die bis heute ab und zu mit „er“ angeredet wird. Weil die Rolle des Hundes im Leben von ihr übernommen wurde. Meine Mutter bereut das heute ein wenig. Sie liebt ihren jetzigen Hund und möchte ihn nicht mehr hergeben. Trotzdem wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur einfach einen Hund vermisst. Sondern den Hund, der gestorben war. Hund ist eben nicht gleich Hund. Auch wenn der Lebensrhythmus mit Gassi-Gehen und Füttern und Streicheln und Spielen wieder da ist.

„Trauer verträgt keine Beurteilung“

Darüber habe ich etwas die Nase gerümpft. Aus der Distanz. Denn auch wenn ich es traurig fand, dass der erste Hund gestorben war, hatte ich nicht dieselbe Bindung zu dem Tier wie meine Eltern. Trotzdem habe ich es mir angemaßt, darüber zu urteilen, wie sie trauern sollten. Weil ich es anders gemacht hatte.

Für meine Eltern funktionierte das so aber nicht. Sie handelten aus ihrem Erfahrungsschatz heraus: Als pragmatische Menschen versuchten sie, die Lücke praktisch zu füllen. Und haben neue Erfahrungen damit gemacht. Dass ich das verurteilte, half ihnen nicht. Und mir auch nicht.

Trauer verträgt keine Beurteilung. Denn Beurteilung trennt. Zusätzlich zum Tod. Da haben wir schon ein geliebtes Wesen verloren und werden innerlich noch von Menschen verlassen, die unsere Art des Trauerns nicht gutheißen. Also müssen wir doppelt trauern. Weil der Tod nicht nur eine Beziehung gekappt hat, sondern auch noch lebende Beziehungen stört.

Spielarten der Liebe

Klar darf man urteilen. Aber man sollte es nicht. Denn wer möchte schon freiwillig noch mehr Verlust erleben? Weil wir Liebeskummer haben, brauchen wir genau das Gegenteil: Wir brauchen mehr Liebe. Und genauso, wie es verschiedene Arten gibt, Liebe auszudrücken, gibt es verschiedene Arten, verstorbene Liebe zu zeigen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, sie zu be- und verurteilen. Sondern sie auszuhalten, uns hineinzudenken, uns vielleicht sogar inspirieren zu lassen.

In der Wohnung meiner Schwiegermutter hängen sehr viele Fotos von ihrem Sohn. Meinem verstorbenen Mann. Und Fotos von ihrem verstorbenen Mann. Es gibt kaum einen Raum, in dem es nicht eine Erinnerung gibt. Sie geben ihr Halt. Sie bekräftigen ihre Liebe, die auch nach dem Tod weitergeht.

In meinem Haus gab es nach dem Suizid meines Mannes nur noch ein Foto von ihm. Eines mit ihm und meiner Tochter. Mehr brauchte und wollte ich nicht. Denn als seine Ehefrau war meine Beziehung zu ihm eine andere als die seiner Mutter zu ihm.

Schmerz folgt keinen Regeln

Bei einem Suizid ist die Trauer spezieller. Die Traurigkeit vermischt sich viel mehr mit Wut als bei anderen Todesfällen. Was bei mir zur Folge hatte, dass ich relativ kurz nach seinem Tod seine Kleidung aus dem Schlafzimmer geräumt und die Möbel darin umgestellt habe. Das wäre für meine Schwiegermutter nie in Frage gekommen nach dem Tod ihres Mannes. Sie hat lange gebraucht, bis sie sich von seinen Sachen trennen konnte. Beide Wege sind okay. Beides darf sein.

Fast fünf Jahre nach dem Suizid ist meine Schwiegermutter immer noch ein Teil meines Lebens. Weil wir unsere Arten der Trauer akzeptieren können, wie sie sind. Unterschiedlich. Denn Schmerz hat verschiedene Facetten. Schmerz folgt keinen Regeln. Weil auch Liebe keinen Regeln folgt.

Kein Platz für neue Liebe?

Trotzdem haben wir so etwas wie eine innere Richtschnur. Eine Einteilung in gut und böse. Eine unangenehme Angewohnheit von uns Menschen. Schwer wieder abzulegen. Ich dachte immer, dass man sich Zeit zum Trauern nehmen sollte. Was auch stimmt. Trauer braucht Raum. Was aber nicht bedeutet, dass da kein Platz mehr ist für etwas anderes.

Ein befreundeter Witwer erzählte mir einige Zeit nach dem Tod meines Mannes, dass er eine neue Liebe gefunden hatte. Ich freute mich. Es war zwei Jahre, nachdem meine Freundin und seine Frau gestorben war. Gleichzeitig hielt ich das für mich für ausgeschlossen. Nicht nur, weil ich mir Zeit zum Trauern nehmen wollte. Sondern weil kein Platz war für neue Liebe. Ich hatte alle Hände voll damit zu tun, das Chaos zu beseitigen, das mein Mann nach seinem Suizid hinterlassen hatte. Das hat mehrere Jahre gedauert. Bis heute.

Plötzlich verliebt

Ich wollte vor allem aber nicht wieder vertrauen. Ich wollte mich nicht mehr auf einen anderen Menschen verlassen müssen und dann verlassen werden. Tja. Und dann kam die Liebe. Wie sie eben so ist. Sie kam einfach so.

Einige Wochen nach dem Tod meines Mannes habe ich mich verliebt wie noch nie. Diese Liebe hat das Chaos nach dem Suizid überstanden. Mein Misstrauen. Gerede. Menschen, die mich verurteilt und verlassen haben. Eine Haussanierung in einer Pandemie. Diese Liebe ist nicht daran gestorben, sie ist gewachsen. Und hat mich unterstützt in meiner Trauer. Sie hat den Boden bereitet, mich der Wut und dem Schmerz zu stellen. Damit ich auch meinen ersten Mann wieder lieben konnte. Denn das tue ich immer noch. Ich habe nicht einen Menschen durch einen anderen ersetzt. Ich kann beide Lieben leben. Denn Liebe ist nicht exklusiv.

Liebe darf alles

Darf man sich also nach dem Tod einer zwanzigjährigen Beziehung wieder verlieben? Darf man die Wohnung mit Fotos von Toten vollhängen? Darf man alles wegwerfen, was einen mit den Toten verbindet? Darf man versuchen, dem Alltag von vorher wieder möglichst nahezukommen? Darf man alles verändern und wegziehen? Darf man sachlich und pragmatisch sein? Darf man emotional und aufbrausend sein? Trauer darf. Trauer darf das alles. Weil Trauer Liebe ist. Und Liebe ist wie Gott: nicht greifbar, nicht einzuteilen, größer und stärker, als wir erwarten, aber immer da.

Trauer darf alles, solange es Liebe bleibt. Dazu gehören auch Schmerz und Wut. Wut und Schmerz dürfen sein. Manchmal auch Jahre später. Weil sie dann erst genug Sicherheit haben, um sich zu zeigen. Alles hat seine Zeit. Trauer darf. Immer. Alles. Bis auf eins: ein Arschloch sein – aburteilen, pöbeln, Rache nehmen. Ich darf auf die Verstorbenen wütend sein. Auf Gott. Darüber, dass es den Tod überhaupt gibt. Aber ich darf diese Wut nicht an den Lebenden auslassen. Weder an anderen noch an mir selbst. Das wäre das Gegenteil von Liebe.

Dass meine Katze jetzt stirbt, macht mich wütend. Auf die Vergänglichkeit. Aber nicht auf die Katze. Weil ich sie liebe. Dieser Liebe versuche ich, Ausdruck zu geben in der letzten Zeit, die sie noch hat auf dieser Erde. Und das tut weh. Jedes Mal wieder, wenn jemand stirbt, den wir lieben. Weil diese Liebe einzigartig ist. Wie jeder von uns.

Nicole Schenderlein ist gelernte Journalistin und Bildhauerin (art.green-woman.de). Als Gründerin von „Blattwenden“ setzt sie sich für einen krea(k)tiven Umgang mit Suizid und Trauer ein: blattwenden.eu

Von Liedern und Tränen: Das erlebt eine Psychologische Beraterin auf der Isolierstation

Corona hat das Leben von Christina Ott grundlegend verändert. Als Beraterin steht sie Ärzten und Patienten zur Verfügung. Und hält auch mal die Hand zum Abschied.

Und wieder trete ich in voller Schutzmontur ans Bett einer schwer erkrankten Patientin. Eben wurde ihre Zimmernachbarin häppchenweise von mir gefüttert. Nun kann ich mich Frau W. zuwenden. Wir kennen uns schon. Heute wirkt die kleine Frau besonders zerbrechlich. Sie liegt schwach in ihren Kissen und schaut mich aufmerksam an. Die Sauerstoffmaske hat ihren Nasenrücken wundgescheuert. Ich greife behutsam ihre Hand. Unser Gespräch bringt uns zum Lied „Der Mond ist aufgegangen“. Frau W. freut sich, dass ich es auch kenne.

Erst beginne ich die Melodie zu summen. Dann fange ich einfach zu singen an. Frau W. stimmt mit kurzatmigen Textfetzen ein. Ich verlangsame mein Tempo, bis wir ein Gleichmaß gefunden haben. Als ich mich im Text verhasple, sagt Frau W. geduldig: „Das macht nichts“. Mitten in der vorletzten Strophe – der Strophe vom Sterben – weiß ich nicht mehr weiter. Beim Singen für meine Kinder hatte ich sie immer übersprungen. Die letzte Strophe kommt dann wieder flüssig: „… verschon‘ uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.“

Irgendetwas tun im Corona-Chaos

Eigentlich hatte ich den Beruf der Krankenschwester vor einem Jahr an den Nagel gehängt. Nach zahlreichen psychologischen Ausbildungen wollte ich einer anderen Leidenschaft folgen. Deshalb ging ich im April 2020 in die Selbständigkeit als Psychologische Beraterin, Referentin und Autorin. Doch Corona machte mir einen Strich durch die Rechnung. Der Start verlief eher holprig. Viele Aufträge mussten abgesagt werden. Im Herbst schnellte die Zahl der registrierten Coronafälle in unserem Landkreis Schmalkalden-Meinigen dann nach oben. Die Thüringer Landesregierung startete einen Aufruf, mit dem medizinisches Personal reaktiviert werden sollte. Das ließ mich etwas in die Tat umsetzen, was schon länger in meinem Hinterkopf präsent war.

Anfang Januar bot ich dem Elisabeth-Klinikum Schmalkalden meine Mitarbeit als Krankenschwester an. Ich wollte wenigstens irgendetwas tun können in dieser akuten Notlage. Damit kam der Stein ins Rollen: Mein psychologisches Know-how stach der Pflegedienstleiterin ins Auge, der zuständige Chefarzt setzte sich für eine Anstellung ein und der Verwaltungsleiter machte es möglich. So fand ich mich innerhalb weniger Tage auf der Isolierstation wieder. Als Krankenschwester mit spezieller Aufgabenstellung.

Im Schutzanzug ist Naseputzen unmöglich

Durch diese neue Arbeit hat sich mein  Leben verändert. Angesichts der harten Realität, in die ich nun mit eingebunden bin, ist ein Stück meiner Leichtigkeit verflogen. Dafür kam mehr Tiefgang dazu. Das erlebe ich als Bereicherung. Natürlich ist persönliches Erleben immer ganz anders als Vermutungen aus sicherem Abstand. Schon am ersten Tag hatte ich Grundlegendes zu lernen: Schutzanzug anziehen? Ja sicher. Und dabei nichts verkehrt machen. Es geht schließlich auch um meine Gesundheit. Also konzentrieren und jedes Detail beachten. Wer erst einmal im Isolierbereich ist, sollte für längere Zeit dortbleiben. Naseputzen? Ist nicht möglich. Ich frage eine routinierte Kollegin, wie sie das Problem löst. Sie zuckt die Schultern und antwortet pragmatisch: „Hochziehen“. Was die gute Kinderstube verboten hat, bleibt hier als einzige Option. Genauso wenig ist es im Isoliertrakt möglich, einen Schluck Wasser zu trinken oder zur Toilette zu gehen.

Persönlichen Bedürfnisse werden automatisch zurückgestellt, um Covid-19-Patienten zu versorgen. Die Schwestern der Station machen das seit Monaten. Obwohl ihre Erschöpfung spürbar ist, tun sie tagtäglich diese schwere Arbeit: Pflege unter widrigsten Umständen. Keine Schwester hat das während ihrer Ausbildung in dieser Form gelernt. Das Gleiche gilt für Ärzte. Auf ihnen lastet enorme Verantwortung. Und eine wirkliche Entlastung ist nicht in Sicht. Das Telefon klingelt und holt meine abschweifenden Gedanken abrupt wieder ins Stationsgeschehen.

Patienten müssen mit Folie abgedeckt werden

Eine neue Patientin wird angekündigt für das eben freigewordene Bett. Zwei Schwestern ziehen los. Beim ersten Mal erschütterte der Vorgang mich noch: Der infektiöse Patient muss mit Folie im Bett oder Rollstuhl abgedeckt werden. Für sein Gesicht bekommt er behelfsmäßig ein Loch eingerissen. Auf diese Weise von vermummten Schwestern abgeholt werden, bedeutet seelischen Stress für die Menschen. Sie kommen über die Notaufnahme, von anderen Stationen oder werden im ambulanten Bereich „rausgefischt“. Wenn sich dann die Tür der Isolierstation hinter dem Patienten schließt, ticken die Uhren anders. Das Personal lässt sich nur noch über die Stimme oder über die Art der Bewegung wiedererkennen. Den schnellen Sprung ins Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen, etwas nachzufragen oder auf die Klingel zu reagieren, gibt es auf der Isolierstation nicht.

Seltsame Behauptungen von Mitbürgern

Ärzte und Schwestern können nur ratlos den Kopf schütteln, wenn Mitbürger behaupten, es wäre alles nicht so arg und es gäbe keine Übersterblichkeit. Dabei wäre es doch ein Leichtes, Ärzte und Schwestern zu befragen, die tagtäglich mit dieser Thematik zu tun haben. Doch offensichtlich benutzen manche Menschen lieber andere Quellen. Solche Behauptungen reichen bis auf die Isolierstation. Schwestern erzählten mir, dass sie da schon krasse Episoden erlebt hätten. Es gab tatsächlich Patienten, die sich lächerlich machten über die notwendigen Schutzmaßnahmen. Das stelle man sich vor: Ausgerechnet die Menschen bekommen das an den Kopf geworfen, die sich selbst in Gefahr begeben, um die Ignoranten vor den schlimmsten Folgen zu schützen.

Corona ist fies

Meine eigene Sicht auf das Virus ist im letzten Jahr mitgewachsen. Ende März 2020 hatte ich mein druckfertiges Buch „Unvollkommen glücklich – Vom Mut, ich selbst zu sein“ um ein aktuelles Kapitel ergänzt. Darin geht es um Mut in unsicheren Zeiten und es gibt erste Coronabezüge. Schon damals flößte mir das Virus Respekt ein. Gleichzeitig waren Zuversicht und Gottvertrauen immer meine Begleiter. Auf der Isolierstation steht mir nun deutlich vor Augen, was ich vorher eher mit dem Kopf verstanden hatte: wie tückisch und unberechenbar dieses Virus ist. Und wie massiv es unseren Anspruch auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen hinterfragt. Ich erlebe nun ganz existenziell, was ich damals aus der psychologischen Perspektive so beschrieb: „Kaum etwas hilft uns mehr aus emotionaler Bedrückung, als etwas Sinnvolles tun zu können. Für uns und für andere.“

Als bunt zusammengewürfeltes Team funktionieren

Es fühlt sich einfach richtig an, hier zu sein als Ansprechpartnerin für medizinisches Personal. Die Ärzte nutzen dies im Rahmen von regelmäßigen Teamsupervisionen. Mit Schwestern ergeben sich die besten Gespräche beim gemeinsamen Arbeiten. Immer schwingen dabei persönliche Belastungen mit. Die eine hat Trouble in der Familie. Der andere macht sich Gedanken darum, wie sein Zwölftklässler demnächst das Abitur bewältigen wird. Leiharbeitskräfte sind weit weg von Zuhause und wissen nicht, wie sie die Freizeit in unserer derzeit „schlafenden“ Kleinstadt nutzen können. Unser Team auf der Isolierstation ist bunt zusammengewürfelt aus Pflegerinnen und Pflegern, die bereit gewesen sind, sich dort einsetzen zu lassen. Es stellt die Beteiligten täglich vor Herausforderungen, Hand in Hand zu arbeiten, ohne als echtes Team zusammengewachsen zu sein.

Ein Brief muss reichen

Ich komme mit einer unserer neuen Patienten, Frau Sch., ins Gespräch. Sie erzählt mir, dass ihr Mann ebenfalls im Haus liegt und noch gar nicht weiß, dass sie nun auch eingeliefert wurde. Nun will sie ihn besuchen – unmöglich. Ein weißes A4-Blatt hilft weiter. Die Patientin diktiert, ich schreibe. Gemeinsam suchen wir passende Worte, um den herzkranken Mann gleichzeitig informieren und beruhigen zu können. Der letzte Satz sprudelt aus Frau Sch. heraus: „Wir drücken uns gegenseitig die Daumen, dass wir noch viele schöne Stunden mit unseren Enkeln erleben können. Deine J.“ Anschließend bringe ich den Brief auf die andere Station. Ich darf ins Zimmer des Patienten. Er liegt zusammengerollt in seinem Bett. Die Langeweile lässt er gern unterbrechen. Nachdem ich den Brief vorgelesen habe, reiche ich ihn Herrn Sch. Er steckt das gefaltete Blatt mit einer raschen Bewegung unter sein Kopfkissen. In seinen Augen schimmern Tränen.

Ich möchte es den Menschen leichter machen

Natürlich gibt es Situationen, in denen auch ich nicht weiß, was ich sagen oder tun soll. Dann gebe ich trotzdem, was ich habe: ein offenes Ohr, ein weites Herz und den einen oder anderen weiterführenden Gedanken. Ich mag den Leitspruch der Pastorin Monika Deitenbeck-Goseberg, die kurz vor Ausbruch der Pandemie in Deutschland verstarb. Sie sagte immer wieder: „Wir sind dazu auf der Welt, um es anderen leichter zu machen zu leben, zu lieben, zu leiden und zu glauben.“ Wie weise. So zeigt sich Christsein von der besten Seite. Deshalb bin ich gern dabei. Ich möchte es Menschen leichter machen – Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten, Schwestern und den Verantwortlichen des Hauses. In unserer Menschlichkeit sind wir alle gleich bedürftig nach Zuspruch, Wertschätzung und Unterstützung. Als der Verwaltungsleiter unter seine Mail den kurzen Satz schrieb: „Schön, dass Sie bei uns sind“, war das eine echte Bestätigung für mich.

Abschied von Frau W.

Als ich Frau W. beim nächsten Dienst wieder aufsuche, liegt sie im Sterben. Leise singe ich ihr noch einmal das Lied vor – „Der Mond ist aufgegangen.“ Ich habe den Text inzwischen aufgefrischt. Frau W. öffnet die Augen und wendet mir ihr Gesicht zu. Später will sie nur noch, dass ich still bei ihr bleibe und ihr die Hand halte. Zwischendurch sagt sie ein paar Mal: „Du bist ein liebes Mädchen!“ Gerührt antworte ich ihr: „Und Sie sind eine freundliche Frau.“ Ihre Hand hält mich fest, sobald ich eine kleine Bewegung mache, um mich leise zu entfernen. Ich schmunzle und bleibe noch länger sitzen. Später frage ich sie: „Darf ich Ihnen noch einmal die Lippen anfeuchten?“ „Gerne.“ Ihre Hand löst sich. Mit einem Stielschwämmchen wische ich Frau W. vorsichtig über die Lippen. Dann streichle ich sie zart und verlasse mit einem Segensgebet im Herzen leise das Zimmer.

Christina Ott ist Psychologische Beraterin. 2020 hat sie ihr Buch „Unvollkommen glücklich – Vom Mut, ich selbst zu sein“ (Francke) veröffentlicht.

Unerfüllter Kinderwunsch: „Habe mich nicht als ganze Frau empfunden“

Anna Koppri hat für ihr Buch „Wir – mit oder ohne Wunschkind“ mit Paaren gesprochen, die keine Kinder bekommen können. Im Interview erzählt sie, was es bedeutet, wenn der Wunsch nach einem Kind zum alles beherrschenden Thema wird.

Du schreibst in deinem Buch, dass es schwer „nachfühlbar“ ist, was Paare erleben, die sich ein Kind wünschen, aber keins bekommen. Kannst du die Dynamik, die sich da entwickelt, trotzdem mal beschreiben?

Ich denke, das ist eine ähnliche Dynamik wie bei anderem, das man ganz dringend herbeisehnt. Viele sehnen sich ja lange nach einem Partner – und es wird drängender, je älter sie werden. Bei mir war es so, dass ich mein Leben lang schon Mutter werden wollte und dann dachte: So, jetzt ist endlich der Zeitpunkt erreicht. Ich bin ein Jahr verheiratet, jetzt dürfen die Kinder kommen. Doch Monat um Monat ist keins gekommen. Irgendwann haben sich alle meine Gedanken um dieses ersehnte Kind gedreht. Wenn ich durch die Straße gelaufen bin, hab ich nur noch Kinder gesehen. Schon nach wenigen Monaten dachte ich: Was ist, wenn das bei mir überhaupt nicht klappt? Was ist, wenn sich dieser Lebenstraum niemals realisieren lässt?

Mir wurde immer klarer, dass ich das nicht in der Hand habe. Selbst wenn ich medizinische Hilfe in Anspruch nehmen würde, wäre nicht gegeben, dass sich meine Sehnsucht jemals erfüllen wird. Alle anderen Dinge haben in meinem Leben immer mehr an Bedeutung verloren. Ich habe mich gefragt: Wenn ich nie erleben darf, mein eigenes Kind im Arm zu halten, was hat das Leben dann noch für einen Sinn für mich?

Wie hat dein Mann das empfunden?

Den hat das weniger mitgenommen. Mein Mann hatte sich mit dem Gedanken angefreundet, bald Vater zu werden. Gleichzeitig wollte er sich als Künstler und Musiker finden und Projekte realisieren. Deshalb hatte er auch ein bisschen Respekt vor der Verantwortung, eine Familie zu gründen.

Briefe an das ungeborene Kind

War das schmerzhaft für dich, dass du die Sehnsucht nach einem Kind bei ihm zunächst nicht so gesehen hast?

Ich fühlte mich mit diesen starken Gefühlen grundsätzlich sehr alleine und unverstanden. Das fand ich sehr schmerzhaft. Es war aber auch unser gemeinsames Projekt. Wir haben alles Mögliche versucht, um die Fruchtbarkeit zu steigern. Manchmal habe ich mich meinem Mann gegenüber auch schlecht gefühlt, weil ich dachte, ich will jetzt unbedingt meinen Wunsch durchdrücken. Als ich dann das erste Mal schwanger war und das Baby nach ein paar Wochen verloren habe, hat er auch sehr getrauert. Seitdem war ein Kind noch mehr unser gemeinsamer Wunsch.

In deinem Buch schreibst du, dass du dich gerade in dieser Verlustphase deinem Mann sehr nahe gefühlt hast.

Ja, er hat sich in dieser Zeit auch frei genommen. Wir sind zusammen spazieren gegangen, haben darüber gesprochen und Briefe an das Baby geschrieben. Es war für mich sehr wohltuend, dass er diesen Verlust so stark empfunden hat und das ausdrücken konnte. Aber es kann auch ganz anders laufen. In meinem Buch beschreibt eine Frau, dass es ihr geholfen hat, sehr intensiv Tagebuch zu schreiben. Ihrem Mann hat sie manchmal die Tagebucheinträge zu lesen gegeben. Dadurch hatte sie das Gefühl, sich ihm mitteilen zu können, weil das in Gesprächen schwieriger war. Es ist wichtig, dass ich dem anderen seine eigene Art zu trauern zugestehe.

Der unerfüllte Kinderwunsch ist wie sieben Jahre Gefangenschaft

Für das Buch hast du einige Paare gefunden, die Ähnliches erlebt haben.

Ich habe auf einem christlichen Festival einen Workshop zum Thema Kinderwunsch und Fehlgeburt angeboten. Es hat total gut getan, sich mit anderen Paaren auszutauschen. Wir haben uns unsere Geschichten erzählt und zusammen geweint. Manche hatten das Gefühl: Endlich ist da mal jemand, der mich versteht! Da wurde mir klar: Ich möchte unbedingt ein Buch über dieses Thema schreiben, damit sich Menschen in ihrer Not nicht so alleine fühlen.

Du zitierst in deinem Buch eine Autorin, die die Jahre mit dem unerfüllten Kinderwunsch als sieben Jahre Gefangenschaft beschreibt.

Man wünscht sich so sehr ein Kind und hat es nicht in der Hand. Man kann weder mit Fleiß, noch mit Sorgfalt oder irgendwelchen Anwendungen erreichen, dass sich der Wunsch erfüllt. Die Frau hat nur noch ganz bestimmte Tees getrunken und verschiedene Lebensmittel nicht mehr gegessen und natürlich den Sex entsprechend getimt. Ich habe Dokumentationen gesehen über Menschen, die um die ganze Welt gereist sind, um Kinderwunschbehandlungen in Anspruch zu nehmen, die in Deutschland nicht erlaubt sind. Dafür sogar Kredite aufgenommen haben. Es kann passieren, dass sich die sozialen Kontakte immer weiter reduzieren, weil man sich nicht verstanden und gesehen fühlt.

Loslassen ist schwierig

Eine Frau namens Marion beschreibt in deinem Buch, dass es für sie ein wichtiger Schritt in die Freiheit war, damit zu beginnen, den Wunsch nach dem Kind loszulassen. Muss man sich zum Loslassen entscheiden oder kommt das von allein?

Das ist schwierig zu beantworten. Ganz abschließen lässt sich dieser Prozess wohl nie. Das höre ich von allen, die ihren Kinderwunsch ein Stück innerlich loslassen mussten: Der Schmerz kann immer wieder aufflammen. Ich denke, es hilft, wenn man Begleitung in Anspruch nimmt oder den Austausch mit anderen Betroffenen sucht. Es ist sicherlich gesund und sinnvoll, wenn man sich ein Limit setzt. Viele haben gesagt, dass es ihnen geholfen hat, sich vor einer Behandlung ganz klar zu sagen: Wir versuchen drei künstliche Befruchtungen. Wenn es nach der dritten nicht geklappt hat, dann soll es so sein und wir versuchen loszulassen.

Natürlich ist es in diesem Prozess sehr hilfreich, wenn ich vertrauen kann, dass Gott es gut mit mir meint, selbst wenn ich das im Moment nicht so empfinde. Und in einigen Geschichten ist es passiert, dass irgendwann Pflegekinder ins Leben gekommen sind oder doch noch Schwangerschaften möglich waren. Den Kinderwunsch loszulassen ist allerdings unglaublich schwierig, auch, weil ein ganzes Lebenskonzept damit zusammenhängt. Jeder muss seinen eigenen Weg finden.

Marion erzählt auch, dass sie zu sich selbst gefunden hat, als sie begann, den Kinderwunsch loszulassen. Sie hat angefangen, zu malen und Gitarre zu spielen.

Wäre ihr Leben so gelaufen, wie sie das geplant hatte, wäre sie vielleicht gar nicht oder erst viel später an diesen Punkt gekommen. Gerade wenn man sehr früh heiratet und Kinder kriegt, hat man tatsächlich nicht die Zeit, sich so intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Darüber reden kann helfen

Für manche ist das Thema „Kinderwunsch“ Scham besetzt. Du bist sehr offen damit umgegangen.

Ja, das bin ich. Irgendwann habe ich das ein bisschen bereut, weil ständig Leute nachfragten und gute Tipps gaben. Trotzdem würde ich jedem empfehlen, sich zumindest sehr vertrauten Personen gegenüber zu öffnen, um die Last nicht allein mit sich herumzuschleppen. Scham besetzt – ich habe auf jeden Fall erlebt, dass ich mich nicht als ganze Frau empfunden habe. Als ich dann Schwangerschaften verloren habe, dachte ich: Mein Körper funktioniert nicht, wie er funktionieren soll. Ich fand schön, was Christina Brudereck in meinem Buch dazu sagt: „Ja, das stimmt. Ich bin dann nicht ganz, aber kein Mensch ist ganz und kein Mensch hat alles, was er sich wünscht.“

Versöhnt mit der Vergangenheit

Du hast mittlerweile zwei Kinder. Wie lebst du jetzt Freundschaft zu Menschen, die sich Kinder wünschen?

Dieses Gefühl, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen, hat schon begonnen, als ich schwanger war und es so aussah, dass ich das Kind behalten würde. Durch meine eigene Geschichte kenne ich ja viele Leute, die mit dem Thema zu tun haben. Ich fand es nicht einfach, damit umzugehen. Ich habe versucht, möglichst offen zu fragen: „Wie geht es dir gerade damit? Möchtest du drüber sprechen?“ Für das Buch habe ich Paare interviewt und war selbst gut sichtbar schwanger. Das habe ich möglichst angesprochen, um den Gesprächspartnern den Raum zu geben, auch zu sagen: „Ja, das ist nicht leicht!“ Ich finde es durchaus ratsam, dieses Thema anzusprechen, wenn man mit den Emotionen umgehen kann, die dann vielleicht kommen.

Was hat dich bei den Paaren, die in deinem Buch zu Wort kommen, besonders beeindruckt oder berührt?

Ganz besonders berührt haben mich die beiden, die ihr Kind in der 37. Schwangerschaftswoche verloren haben – das lang ersehnte Kind! Vor diesem Gespräch hatte ich Respekt. Doch die beiden waren total versöhnt mit dem Ganzen. Mittlerweile haben sie weitere Kinder bekommen, aber schon nach dem Tod ihres ersten Babys haben sie gesagt: Das ist nicht Gott, der uns unser Kind weggenommen hat. Es ist Gott, der uns hilft, den Verlust zu bewältigen. Und er trägt uns da durch.

Vielen Dank für das Gespräch!

Anna Koppri, 1982, ist Sozialpädagogin, Systemische Familientherapeutin und freie Autorin. Ihr Buch „Wir – mit oder ohne Wunschkind“ ist bei Gerth Medien erschienen.

Demenz: „Wo ist Thomas?“ – Immer wieder fragt er Sybille nach seinem verstorbenen Sohn

Sybille Funk* begleitet ihren dementen Schwiegervater beim Sterben. Und muss ihm dabei immer wieder die Nachricht überbringen, dass sein Sohn tot ist.

„Wo bleibt Thomas? Warum kommt er nicht?“ – Die Worte klingen in mir nach, als ich das Pflegezimmer kurz verlasse und eine nie gekannte Schwere bleibt zurück.

Thomas, nach dem mein sterbender, demenzkranker Schwiegervater fragt, ist sein Sohn – mein Mann. Doch Thomas ist schon viele Jahre tot. Wieder und wieder werde ich ihm dies neu erklären müssen.

Die Enkel erkennt er bis zuletzt

Die Demenzerkrankung hat meinen Schwiegervater verändert. Was sich erst schleichend abgezeichnet hat, wurde nach und nach zu Gewissheit, bis die Betreuung in einem Pflegeheim unausweichlich war.

In den Jahren im Pflegeheim erkannte er mich immer, ebenso seine Enkelkinder. Obwohl mein Sohn im Ausland lebt und nur einmal im Jahr in Präsenz bei ihm vorbeischauen konnte, hielten wir die Erinnerung an ihn mit kurzen Videogrüßen wach. Die Freude war jedes Mal groß und zugleich war es herzbewegend, wenn mein Schwiegervater ihm lächelnd zuwinkte.

Fotoalben als Erinnerung

Mit der Erinnerung an kürzliche Besuche von Bekannten war es manchmal schwieriger. Doch spielerisch konnten wir es mit einer Fragerunde eingrenzen und freuten uns gemeinsam, wenn wir die Personen herausgefunden hatten. Meine Tochter besuchte ihren Opa gern, wenn sie vom Studienort zu Besuch war, blätterte mit ihm manchmal in Fotoalben und erinnerte sich mit ihm an schöne Ereignisse. Seit dem frühen Tod ihres Papas hatte sie eine besondere Beziehung zu ihrem Opa.

Immer wieder Trauer

Als ich nach der wochenlagen ersten Corona-Lockdown-Phase mit Maske bei ihm ins Zimmer trat, ging ein Lächeln über sein Gesicht und er begrüßte mich mit Namen. Die nächste Frage katapultierte mich schmerzhaft in die Vergangenheit zurück: „Wann kommt Thomas?“ Mit Tränen in den Augen versuchte ich, ihm behutsam zu vermitteln, dass sein Sohn bereits vor vielen Jahren gestorben ist. Es tat so weh, seinen erneuten Schmerz zu erleben und mich mit ihm noch einmal auf diesen Trauerweg zu begeben.

Der letzte Wunsch bleibt unerfüllt

Und nun stehe ich hier vor dem Pflegezimmer und kann dem Sterbenden diesen einen letzten Wunsch nicht erfüllen. „Wo bleibt Thomas?“ Diese Frage stellt er immer wieder. Aus seiner Sicht kann ich ihn so gut verstehen – können wir doch selbst seinen Enkel per Facetime zum Verabschieden ins Zimmer holen, weil ein Heimflug in Corona-Zeiten nicht möglich ist. Wieso also nicht seinen eigenen Sohn?

Ein tiefer Schmerz begleitet meine Tochter und mich in den nächsten Tagen am Bett des Opas und Schwiegervaters. Wieder und wieder gehen wir mit ihm erneut in die Anfangsphase der Trauer um den früh verstorbenen Sohn. Wir trauern noch einmal neu gemeinsam um den geliebten Menschen – bis zum Ende. Als mein Schwiegervater nach vier Tagen für immer ein einschläft, hoffe ich, dass er seinen Frieden bei Gott gefunden hat und seinen Sohn wiedersehen darf.

Ich würde es wieder tun

Manche fragten mich, warum wir nicht einfach gesagt hätten, Thomas würde noch kommen. Doch das wäre nach meiner Einschätzung nicht fair gewesen. Auch ein dementer Mensch hat das Recht, dass wir ehrlich zu ihm sind. Wichtig ist, ihn nicht allein zu lassen, sondern ihm immer wieder zu vermitteln, dass wir das gemeinsam bewältigen, dass wir für ihn da sind.

Ob ich es noch einmal so machen würde? Ja!

*Der Name wurde von der Redaktion geändert. Die Autorin ist der Redaktion bekannt.

Plötzlicher Kindstod: Was tun, wenn die Sorge ums Baby zu groß wird?

Angst um das eigene Kind ist vollkommen normal, sagt Hebamme Martina Parrish. Doch ab einem gewissen Punkt sollten Mütter reagieren.

„Seit meiner Schwangerschaft, aber besonders seit mein Baby auf der Welt ist, habe ich ständig Angst, dass es stirbt – am plötzlichen Kindstod zum Beispiel oder bei einem Unfall. Ist das normal? Und wie gehe ich mit der Angst um?“

Oh, wie gut kann ich mich an diese Zeit erinnern: die ersten Monate mit dem ersten Kind – eine ganz besondere Zeit im Leben. Zum einen spürt man die absolute Faszination für das Wesen, das im eigenen Körper gewachsen ist, und das Staunen über die Perfektion dieses kleinen Menschleins. Zum anderen gibt es enorm viele Fragen, Herausforderungen, Unsicherheiten und eben auch Ängste.

Alles wird zur potenziellen Gefahr

Oft werden alltägliche Dinge zu gefühlten Bedrohungen: stark parfümierte Besucher, die mein Kind auf den Arm nehmen wollen, eine laute Umgebung und erst recht der erste Schnupfen. Alles bekommt eine intensive Bedeutung und wird aus dem Blickwinkel heraus betrachtet, was die jeweilige Situation für mein Kind bedeutet und inwiefern es ihm schaden könnte. Wenn sich dann sogar der plötzliche Kindstod oder eventuell auftretende Unfälle in die Gedanken der jungen Mutter schleichen, dann kann das so manche von ihnen kaum aushalten und es entwickeln sich echte Ängste.

Wenn die Ängste zu stark werden

Viele Eltern kennen diese Ängste und bis zu einem gewissen Grad halte ich sie für normal. Die Verantwortung für ein so kleines Lebewesen zu tragen, ist eine große Herausforderung. Und gerade beim ersten Kind weiß man vieles noch nicht und ist in vielen Fragen entsprechend unsicher. Wenn diese Ängste mich jedoch in meinem Alltag zu sehr einschränken, lähmen und mir die Freude am unbeschwerten Umgang mit meinem Kind nehmen, dann ist es an der Zeit, sich mit diesen Ängsten intensiver auseinanderzusetzen und zu fragen, woher sie kommen.

Oft ist es in solchen Situationen hilfreich, sich Unterstützung zu suchen, zum Beispiel bei der Wochenbetthebamme oder der behandelnden Frauenärztin. Sprechen Sie offen über Ihre Gefühle und haben Sie keine Hemmungen, die Situation so zu schildern, wie Sie sie empfinden. Eine andere Möglichkeit wäre es, sich mit dem Verein „Schatten und Licht“ in Verbindung zu setzen, der sich auf psychische Probleme rund um die Geburt spezialisiert hat.

Mit anderen Müttern sprechen

Manchen Müttern hilft auch ein einfacher Realitätscheck: Wie häufig passiert das, wovor ich mich fürchte? Und was sind die häufigsten Auslöser? Was kann ich also durch einen aufmerksamen Umgang mit meinem Kind vermeiden?

Für viele Mütter ist auch das Gespräch mit Frauen in der gleichen Lebenssituation das, was ihnen aus dem Grübeln und ihren Ängsten hinaushilft. Gehen Sie mit Müttern aus Ihrem Rückbildungskurs oder Krabbelkurs gemeinsam spazieren oder eine Tasse Kaffee trinken und tauschen sich über dieses neue Universum „Muttersein“ aus. Sie werden staunen, wie viele Frauen ähnlich empfinden wie Sie.

Martina Parrish ist Hebamme, Stillberaterin, Mutter, dreifache Oma und lebt in Berlin.