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Einzelfallhilfe für ein autistisches Kind: Eine Mutter nimmt es selbst in die Hand

Um einen Kitaplatz für ihre autistische Tochter zu bekommen, braucht Anja eine Einzelfallhilfe. Als die Suche scheitert, hängt Anja ihren Job an den Nagel und begleitet ihr Kind selbst. Und sie stellt fest: Das ist eine wirklich erfüllende Aufgabe.

Es ist Sommer. Der Wasserspielplatz ist voll mit planschenden Kindern. Ruby liebt Wasser. Immer wieder geht sie zu ihrer Mutter Anja (Namen geändert). Sie soll ihre Hände zu einer Schale formen. In diese gießt Ruby dann Wasser und juchzt vor Freude. Stundenlang könnte sie das so machen. Ruby ist sechs Jahre alt. Mit vier Jahren wurde bei ihr frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Das ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die bei Ruby dafür sorgt, dass sie bisher nicht spricht und im Alltag viel Unterstützung und eine Einzelfallhilfe braucht.

„Ruby braucht Hilfe beim An- und Ausziehen oder wenn sie zur Toilette geht“, sagt ihre Mutter. Der soziale Kontakt mit anderen fällt ihr schwer, sie kann ihre Grenzen nicht einschätzen. Zum Beispiel zieht sie fremden Menschen an ihrer Kleidung oder fasst sie an. Besonders schwer fällt es ihr, Sinneseindrücke zu verarbeiten. Ist es ihr zum Beispiel zu laut oder zu turbulent, zieht sie sich vollständig in sich zurück oder schreit laut. Sie braucht deshalb eine überschaubare Anzahl fester Bezugspersonen und tägliche Routinen, um sich im Alltag zu orientieren.

Nicht erwünscht in der Regel-Kita

Anja ist freie Journalistin, nach der Geburt wollte sie bald wieder arbeiten. Mit neun Monaten kam Ruby zu einer Tagesmutter. Je älter und agiler sie wurde, desto schwieriger wurde es für die Tagesmutter, sie zu betreuen. Wollte sie mit den Kindern beispielsweise malen oder basteln, landeten die Bastelmaterialien regelmäßig auf dem Boden, wurden zerrissen oder in den Mund gesteckt. Es stellte sich heraus: Ruby war entwicklungsverzögert.

Mit vier Jahren sollte Ruby in eine Regel-Kita wechseln. Als die Kita aber von ihrer Diagnose erfuhr, war sie nicht mehr willkommen. „Sie sagten nicht direkt, dass Ruby nicht kommen darf“, berichtet Anja. „Aber sie rieten dringend davon ab. Bei ihnen wäre Ruby nicht gut aufgehoben.“ So erging es Anja und ihrem Mann auch bei der weiteren Suche nach einer Kita für Ruby – überall bekamen sie Absagen. Oft wurden sie auf die örtliche Inklusions-Kita verwiesen. Doch die war keine Option: Mit 34 Kindern waren die Gruppen für Ruby viel zu groß, dort würde sie untergehen. Außerdem stimmte der Gesamteindruck für Anja nicht: „Es wurde hier mehr beaufsichtigt als gefördert. Die Kita wirkte für mich wie ein Auffangbecken für alle Kinder, die aus irgendwelchen Gründen durch das Raster fallen.“

Suche nach einer Einzelfallhilfe

Nach langem Suchen fanden sie endlich eine Kita mit kleinen Gruppen, die bereit war, Ruby aufzunehmen. Die Erzieherinnen hatten zwar kaum Erfahrungen mit Kindern mit Behinderung, die Leiterin wollte es aber gerne probieren. Anja und ihr Mann waren über diese guten Nachrichten erleichtert. Jetzt brauchten sie nur noch eine Einzelfallhilfe, da Ruby mittlerweile Pflegegrad 4 hatte und ohne Unterstützung nicht in die Kita gehen durfte. Sie suchten also nach einer Person, die Ruby mit dem Auto in die Kita fährt, wieder nach Hause bringt und vor allem in der Kita begleitet. Um zum Beispiel aus der Gruppe mit ihr zu gehen, wenn es ihr zu trubelig wird. Oder um sie auf die Toilette zu begleiten und aufpassen, dass sie nichts durcheinanderbringt.

Gleichzeitig sollte Ruby aber auch bewusst mit anderen Kindern in Kontakt gebracht und individuell gefördert werden. Zum Beispiel sollte sie üben, sich selbstständiger an- und auszuziehen. „Wir waren damals noch sehr naiv“, erzählt Anja, „Wir dachten: Wenn wir eine Einzelfallhilfe haben, dann ist das Problem gelöst. Dann haben wir diese eine Person, die Ruby bei allem unterstützt, das sie braucht.“

Nur noch Stress

Doch so einfach war es nicht: Nach neun Monaten mussten sie die Zusammenarbeit mit der ersten Einzelfallhilfe beenden. Sie weigerte sich zum Beispiel plötzlich, die Fahrten zur Kita und nach Hause zu übernehmen – obwohl das genauso abgesprochen war. Danach blieb Ruby drei Monate zu Hause. Die zweite Einzelfallhilfe bekam nach ein paar Wochen völlig überraschend von der Kita Hausverbot, weil sie nicht ins Team passe. Wieder musste Ruby zu Hause bleiben. Einige Wochen später fanden sie eine Tagesmutter mit älteren Kindern, die bereit war, Ruby aufzunehmen. Sie war sogar Autismus-Expertin. „Das war ein Sechser im Lotto“, sagt Anja. Ruby wechselte mit der alten Einzelfallhelferin zur Tagesmutter und gewöhnte sich dort ein. Die Gruppe verbrachte viel Zeit im Wald, die Ruhe und die Reizarmut dort taten Ruby sehr gut.

Bald kam die nächste Enttäuschung: Die zweite Einzelfallhelferin ließ sich wochenlang krankschreiben, auch mit ihr mussten sie die Zusammenarbeit beenden. Eine weitere Einzelfallhelferin wollte an ihrem Probetag Ruby nicht auf die Toilette begleiten, weil ihr das zu unangenehm war. „Die meisten Einzelfallhelferinnen, mit denen wir im Vorfeld gesprochen haben, hatten keine Ausbildung und waren vorher lange arbeitslos gewesen“, erzählt Anja. Es gäbe in diesem Job viele unqualifizierte Quereinsteiger und vielleicht wären ihre Erwartungen an sie auch zu hoch gewesen.

„Die vielen Zeiten, in denen Ruby zu Hause war, haben uns emotional total fertig gemacht“, erzählt Anja. Immer wenn es mit einer Einzelfallhelferin schwierig wurde, konnte sie Nächte lang nicht richtig schlafen und machte sich viele Gedanken. Beide ihre Jobs waren davon abhängig, dass die Betreuung von Ruby funktioniert. Mal blieb ihr Mann zu Hause und ließ sich krankschreiben, damit Anja arbeiten konnte. Doch oft blieb auch Anja zu Hause und versuchte ihre Aufträge nach hinten zu schieben oder am Abend abzuarbeiten. Denn Ruby musste rund um die Uhr beaufsichtigt werden. Außerdem ist sie kein Einzelkind: Im Haushalt leben noch ihre drei Jahre jüngere Schwester und ihr älterer Bruder, mittlerweile ein Teenager. Dass diese angespannte Situation nicht lange gut gehen konnte, war allen klar. „Irgendwann waren wir so erschöpft und haben gemerkt: Alles leidet darunter. Wir haben nur noch Stress.“

Entspannteste Zeit seit langem

War es denn wirklich ein so schwieriger und undankbarer Job, ihre Tochter in die Kita zu begleiten? Das hatte sich Anja in den letzten Monaten oft gefragt. Eigentlich musste es doch Spaß machen, gemeinsam mit den anderen Kindern in den Wald zu gehen. Immer wenn sie Ruby brachte, fühlte sie sich bei der Tagesmutter und den Kindern sehr wohl. „Irgendwann hat es dann bei mir Klick gemacht“, erzählt Anja. „Mir kam der Gedanke: Warum werde ich nicht einfach selbst Einzelfallhelferin?“ Sie schlug diese Idee der Tagesmutter, dem Sozialamt und dem Träger für Einzelfallhilfe vor – rechnete aber fest mit einer Absage. Denn all ihre bisherigen Lösungsvorschläge wurden immer abgelehnt. Doch zu ihrer Überraschung stimmten alle Beteiligten zu. So wurde Anja im März 2024 die Einzelfallhelferin ihrer Tochter. Leicht fiel ihr es nicht, ihren Job vorübergehend aufzugeben: „Meine Arbeit war mir immer sehr wichtig. Das war ein Riesenschritt für mich.“

Doch schon die ersten Tage genoss sie, es war richtig entschleunigend, berichtet Anja. Sonst saß sie tagsüber am Schreibtisch, schrieb Texte und produzierte Ergebnisse. Jetzt saß sie die meiste Zeit im Wald und war einfach nur da. Ohne dass sie etwas auf einer To-Do-Liste abhaken musste. Im Vergleich zu ihrem sonstigen Familienalltag mit Ruby war der Tagesablauf sehr entspannt. Die Tagesmutter kümmerte sich um Tagesprogramm und -struktur, Anja konnte sich auf Ruby konzentrieren. So wurde auch ihre Beziehung zu Ruby gestärkt: Zeit mit Ruby allein kam im Familien-Alltag mit den anderen Kindern sonst oft zu kurz. Es berührte Anja, wenn sie sah, wie Ruby in die Gruppe integriert wurde. Da Ruby nicht spricht, sollte sie lernen, über Bildkärtchen zu kommunizieren. Beim gemeinsamen Liedersingen suchte sie sich zum Beispiel eine Liederkarte aus, die Kinder sangen dann das Lied für sie.

Ihre Zeit als Einzelfallhelferin brachte Anja eine wichtige Erkenntnis: „Ich konnte nicht verstehen, warum es so schwierig sein soll, mit Ruby regelmäßig zur Tagesmutter zur gehen. Jetzt weiß ich: Es ist ein wirklich schöner Job.“ Ihr sei schon klar, dass sie als Mutter eine spezielle Perspektive hätte, weil sie mit Ruby sehr vertraut sei. Aber trotzdem seien die Rahmenbedingungen nicht schlecht, auch im Vergleich zu ihrer sonstigen Arbeit: „Aufgrund meines Hochschulabschlusses bekam ich 21 € pro Stunde. Vorbereitungsstunden, die ich zu Hause machte, konnte ich mir aufschreiben.“ Zudem sei es ein sehr sinnstiftender Job: Als Einzelfallhilfe könne man einen einzelnen Menschen unterstützen und intensiv kennen lernen.

Endlich willkommen

Seit September 2024 ist Anja wieder in ihren alten Job zurückgekehrt. Ruby besucht nun eine Förderschule, an der Kinder mit Behinderung willkommen geheißen und gezielt gefördert werden. Drei ausgebildete Fachkräfte betreuen sie hier in einer Gruppe mit sechs weiteren Kindern. Zusätzlich hat sie noch eine Einzelfallhelferin, die sie sich mit einem anderen Kind teilt. Ruby fühlt sich hier sehr wohl. Jeden Morgen freut sie sich auf die Schule, erzählt Anja. „Als ich sie morgens hingebracht habe, ist sie jauchzend ins Klassenzimmer gelaufen.“ Und auch wenn Ruby nachmittags gegen vier Uhr wieder zurückkommt, sei sie nach dem langen Schultag erstaunlich ausgeglichen.

Die Förderschule ist eine christliche Schule. Sie selbst sei keine Christin, sagt Anja. Doch schon oft habe sie positive Erfahrungen mit christlichen Einrichtungen gemacht, wenn es um ihre Tochter ginge. Auch die engagierte Tagesmutter, bei der Ruby zuletzt war, ist Christin. „Oft sind das Personen, die jeden Menschen einfach so nehmen wie er ist und ihn willkommen heißen“, stellt Anja fest. Das gehe ihr mit Ruby nicht immer so.

Für die nächste Zeit wünscht Anja sich, dass Ruby weiterhin gerne in die Schule geht und die Einzelfallhilfe bleibt. Denn wenn sie irgendwann mal länger ausfallen sollte, sagt die Lehrerin, müsse Ruby zuhause bleiben. Doch sie versucht gelassen zu bleiben, meint Anja: „Wir haben sehr engagierte Lehrerinnen, die sich für Ruby verantwortlich fühlen und gut mit uns kommunizieren.“ Ruby sei gerade gut versorgt.

Sarah Kröger ist Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Berlin.

„Familie ist der Ort, wo Zukunft entsteht“

Wie wird Familie zukunftsfähig? Welche Rahmenbedingungen können dabei helfen? Und wie können Familien ihren Weg finden? Ein Interview mit der Unternehmensberaterin, Autorin und Mutter Dr. Ana Hoffmeister.

Ana, du beschäftigst dich schon länger mit dem Thema Familie, Beruf und Vereinbarkeit. Seit 2022 hostest du den Podcast FutureFamily und hast mit verschiedenen Familien Interviews geführt. Warum? Was bewegt dich?

Ich habe mich schon früh dafür interessiert, wie andere Familien leben. Als Migrationsfamilie – ich wurde im Iran geboren – waren wir in Deutschland immer ein wenig besonders. Bei Freunden zu Hause habe ich Unterschiede im Miteinander und im Alltag bemerkt. Je älter ich wurde, desto mehr machte ich mir Gedanken darüber, wie ich später selbst Familie leben möchte. Mir war immer klar, dass ich auch arbeiten und Karriere machen wollte. Aber ich kannte wenige Mütter, die eine Führungsrolle einnahmen.

Als ich später heiratete, war ich gerade frisch promoviert und wurde befördert. Bei Entwicklungsgesprächen kam dann ungefragt der Hinweis, doch mit der Familienplanung noch zu warten. Da wurde mir klar: In diesem Setting geht das offenbar nicht zusammen. Dann wurde ich schwanger und war zu dem Zeitpunkt bei zwei unterschiedlichen Arbeitgebern beschäftigt – beides in Teilzeit. Bei dem einen mussten wir uns schließlich auf eine Vertragsauflösung einigen, weil man mir die Stelle nicht mehr als sechs Monate freihalten konnte. Bei dem anderen hieß es, ich solle einfach schauen, was möglich ist. Mit dem Ergebnis, dass ich früher als erwartet mit einem ganz geringen Stundenumfang zurückkehrte. Wir arbeiteten nach einem geteilten Führungsprinzip. Es war nicht leicht, aber machbar. Nach kurzer Zeit war ich wieder auf demselben Stundenumfang wie vor der Schwangerschaft.

In Phasen denken

Wie kam es dann von dieser Erfahrung zum Buch?

Ich wollte diese verschiedenen Erfahrungswelten sichtbar machen und Eltern aufzeigen, dass es viele individuelle Wege gibt und sich die Bedürfnisse je nach Lebensphase verändern. Auch, damit wir für uns herausfinden: Was brauchen wir persönlich als Familie, als Eltern? Was tut uns gut, was tut mir gut? Welchen Weg stelle ich mir beruflich und privat vor, und welchen Preis bin ich bereit, dafür zu zahlen? Wie wirken sich unsere Entscheidungen auf unsere Kinder aus? Dann habe ich mich auf die Suche gemacht nach geeigneten Persönlichkeiten und Familien, die ich interviewte. Daraus entstand schließlich die Idee zum Buch.

Wie lebt ihr als Familie Vereinbarkeit?

Flexibel, vertrauensvoll und lebensphasenorientiert. Je nachdem, welche Ansprüche es beruflich gerade gibt. Als Paar sind wir dadurch sehr viel im Gespräch miteinander, weil wir von Woche zu Woche schauen müssen, wie wir es machen, wenn die Kita kurzfristig schließt, die Betreuungszeiten kürzt oder die Schule nicht so betreut, wie wir es brauchen. Es ist ein ständiger Prozess.

Überlebensmodus

Dein Buch trägt den Untertitel: Familien am Limit – neue Impulse für mehr Vereinbarkeit. Wo sind Familien am Limit?

Viele Eltern und Familien stehen vor einer großen Gesamtüberforderung. Großfamilien gibt es nur noch selten, Familien sind insgesamt kleiner geworden und die unterschiedlichen Generationen leben oft nicht mehr am selben Ort. Es gibt weniger familiären Support. Dazu ist auf externe Betreuung kein Verlass mehr: Kita und Schule sind seit der Pandemie ein sehr fragiles System. Es ist ein Leben am Limit, weil du nie weißt, was als Nächstes kommt.

Wir hatten zum Beispiel monatelang keine Woche, die normal verlief. Es gab Lehrerstreik, Krankheit, Personalengpässe, plötzliche Schließungen. Da bist du irgendwann nur noch im Überlebensmodus und mit Organisieren beschäftigt. Viel Freude, die du mit der Familie haben könntest, geht verloren. Das umfasst auch die Pflegesituation, was ebenso viele Mütter betrifft, die Kinder betreuen und Eltern pflegen – eine enorme Belastung! Die Pflegesituation wird sich in Zukunft noch verschärfen. Hier ist schon längst eine Lawine ins Rollen gekommen, die wir kaum noch aufhalten können.

Familie braucht neue Wege

Welche Lösungen braucht es? In Politik, ­Gesellschaft, von Arbeitgebern?

Ich finde wichtig, es ganzheitlich zu sehen. Unternehmen können nicht alles leisten, aber viel verändern. Führungskräfte zum Beispiel haben eine große Vorbildfunktion, wie sie selbst mit Arbeit und Familie umgehen. Das färbt immer auf die Unternehmenskultur ab und prägt die Beschäftigten. Unternehmen können aktive Vaterschaft unterstützen und dadurch gleichzeitig auch die Erwerbstätigkeit der Mütter fördern. Ein anderer wichtiger Punkt sind die institutionellen Systeme wie Kita und Schule. Da ist es wichtig, dass wir auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ehrlich die Frage beantworten: Was ist uns Familie noch wert? Denn für mich ist Familie eine der wichtigsten Säulen unserer Zukunft. Ohne Familie werden wir die aktuellen und nachfolgenden Krisen in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, im Bildungswesen, in Kitas und der Pflege nicht auffangen können.

Doch Familien sind bereits jetzt am Limit. Eltern kommen immer mehr in die Erschöpfung und in den Burnout. Auch die Gesundheit, besonders die psychische, der Kinder und Jugendlichen leidet zunehmend. Meine kritische Frage ist: Werden Familien noch die Kraft und Stärke haben, um diese Krisen stemmen zu können? Ein viel wichtigerer Punkt aber ist unser eigener Handlungsspielraum als Familien. Jede Veränderung vollzieht sich von innen nach außen.

Mehr Generationen

Worum geht es bei der Veränderung von innen?

Wenn wir wollen, dass Familie sich gesund weiterentwickelt, dürfen wir bei uns selbst beginnen und uns die Frage stellen: Was ist mir Familie wert? Worauf bin ich, sind wir bereit zu verzichten, um Familie gesund und stark werden zu lassen? Wir können uns auch überlegen: Was wünsche ich mir darüber hinaus für die nächste Generation? Welche Prägung wünsche ich mir für unsere Kinder, damit sie selbst später gesunde Entscheidungen für ihr Leben treffen? Unsere Entscheidungen heute haben immer Einfluss auf die übernächste Generation, auf unsere Enkel.

Du plädierst auch im Buch stark dafür, generationsübergreifend zu denken und zu leben. Da schreibst du: „Uns fehlt der Weitblick.“ Wofür brauchen wir den?

Wenn wir in und über Generationen hinaus denken, wird uns bewusst, dass wir einander wirklich brauchen. In unserer Zeit heißt es oft, dass wir alles allein und selbstbestimmt erreichen können. Dass wir einander nicht brauchen, nicht mal mehr das Wissen der älteren Generation. Doch dabei gehen Erfahrungswissen und Weisheit verloren. Es ist so wichtig, einander Fragen zu stellen und zuzuhören: Welche Herausforderungen hatten andere Generationen, und wie haben sie diese gelöst? Woran haben sie sich orientiert? All das sind wichtige Erfahrungen, von denen wir lernen und profitieren können.

Du hast viele Familien interviewt und im Buch vorgestellt, die die unterschiedlichsten Modelle leben. Gibt es ein ideales Modell?

Ja, ich glaube schon. Aber es ist für jede Familie anders: Es ist das Modell, das individuell passt, das mit meinen Werten übereinstimmt, mit meinen Bedürfnissen als Mutter oder Vater und mit Blick auf die gesamte Familie. Und das flexibel ist, um je nach Lebensphase mitwachsen und sich verändern zu können.

Für Überzeugungen einstehen

Wieso stehen wir anderen Modellen oft kritisch gegenüber?

Ich glaube, weil es sich oft unserer Vorstellungskraft entzieht, wie andere Modelle im Alltag funktionieren können. Andererseits spiegelt sich in der Kritik oftmals die eigene Unsicherheit darüber wider, ob das eigene Modell das richtige ist. Ich wurde damals in meiner Entscheidung, meine Kinder nicht bereits mit einem Jahr in die Kita zu geben, sehr oft infrage gestellt. Andere habe ich nie von meinem Modell überzeugen wollen, sondern es einfach gelebt. Ich glaube, wir müssen lernen, andere Entscheidungen stehen zu lassen. Doch wir sind oft unsicher und vergleichen uns, weil wir uns über unsere eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen kein Bild machen. Wenn wir überzeugt wären von dem, was wir entscheiden, würden wir uns nicht angegriffen fühlen.

Welchen Wunsch verbindest du mit deinem Buch?

In meinem Buch gebe ich Einblicke in unterschiedliche Lebensrealitäten und neue Lösungswege zwischen Familie, Pflege und Beruf. Ich wünsche mir, dass die, die das Buch lesen und den Podcast hören, Lust auf Zukunft bekommen. Im Moment leben wir in einer Zeit, die uns sagt: „Hör auf zu träumen! Wir leben in sehr schweren Zeiten!“ Das nimmt den Menschen die Vorstellungskraft, dass wir auf eine gute Zukunft zusteuern.

Da, wo wir vor der Zukunft Angst haben, hören wir auf, innovativ und kreativ zu sein. Wo wir uns die Zukunft nicht vorstellen können, machen wir die Tür auf für radikale, sehr einfache Schwarz-Weiß-Lösungen. Das sehen wir auch in der Politik. Deswegen brauchen wir Menschen, Familien, Politiker und Unternehmen, die sich auf die Zukunft freuen und die Lust haben, sie zu gestalten. Familie ist der Ort, wo Zukunft entsteht. Deshalb sollten wir mit Familien anfangen, sie stärken und in ihnen die Hoffnung wieder wecken.

Familie ist Zugehörigkeit, Geborgenheit

Wie sieht deine Hoffnung aus?

Meine Hoffnung ist, dass Familie ein Ort ist, wo sich unsere Sehnsüchte nach Herkunft, Zugehörigkeit, Geborgenheit und Sicherheit erfüllen. Aber dass sie auch ein Ort ist, der Flügel verleiht, in die Zukunft zu gehen, kein Ort der Begrenzung, sondern der Befähigung. Ein Ort, an dem das Zusammenleben der Generationen stattfindet und wir feststellen: Wir sind Teil einer Geschichte, die vor uns begonnen hat. Und wir sind gemeinsam Teil der Geschichte, die uns überdauern wird. Wir sind nicht der Nabel der Welt mit unserer Generation, sondern ein Puzzleteil. Wir sind eine Wegstrecke.

Es kann sehr heilsam sein, so zu denken, weil wir dann einerseits das größere Bild sehen und unseren Platz darin finden. Und andererseits auf die Herausforderung schauen, die wir zu lösen haben in dieser Zeit. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir vom engen Bild von Familie – Mutter, Vater, Kind, vielleicht noch Großeltern – wegkommen und Familie wirklich öffnen und diesen Ort der Geborgenheit auch anderen zugänglich machen, die keine Familie im klassischen Sinne haben. Dass wir Familie weiter denken.

Das Interview führte Andrea Specht, Autorin, Lektorin und zweifache Mutter.

Dr. Ana Hoffmeister ist zweifache Mutter, Unternehmensberaterin, Speakerin und Podcasterin (FutureFamily). Ihr Buch „Future Family. Familien am Limit – neue Impulse für mehr Vereinbarkeit” ist bei Knaur erschienen.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Mit diesen 5 Tipps meistern sie die Work-Life-Balance

Kann es gelingen, Familie und Beruf so zu planen, dass alle zufrieden sind? Coach Christine Jaschek gibt fünf Tipps, wie Paare den passenden Weg für sich finden können.

Überall wird sie diskutiert, gefordert und propagiert: die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Doch in der Realität stoßen Familien an diesem Wunsch immer wieder an wie an einer Glastür. Diese „Glastür“ können äußere Rahmenbedingungen wie der Wohnort, die Kinderbetreuungszeiten, der Arbeitgeber, aber auch innerfamiliäre Einflüsse sein. Oder eine weltweite Pandemie. Am Ende steht die resignierte Schlussfolgerung: Es funktioniert nicht und ist ein Wunschdenken.

Klar ist, dass sich bei den Unternehmen, in der Gesellschaft und in der Politik noch viel bewegen muss, damit sich eine Vereinbarkeit für alle umsetzen lässt. Dennoch beginnt Veränderung im Kleinen. Daher sollte jede Familie für sich an der Umsetzung des Wunschtraums der Vereinbarkeit von Familie und Beruf arbeiten. Besonders in der letzten Zeit waren Familien und Arbeitgeber gezwungen, in kurzer Zeit viel in Sachen Vereinbarkeit dazuzulernen und auszuprobieren: Was ist machbar? Wo sind Grenzen? Welche Modelle sind erfolgreich und welche nicht?

Ganz zu Beginn möchte ich klarstellen, dass für jede Familie die Vereinbarkeit anders aussieht, egal, ob mit Eltern in einer Paarbeziehung, in einer Patchworkfamilie oder als Alleinerziehende. Das ist auch gut so. Die perfekte Anleitung oder Empfehlung gibt es nicht. Aber es gibt ein paar Tipps, die helfen, die Vereinbarkeit so umzusetzen, dass alle in der Familie glücklich sind. Wir arbeiten in unserer Familie immer wieder daran, und auch in meinen Coachings sind es oft dieselben Themen, über die wir sprechen.

1. Vereinbarkeit beginnt mit der Kinderplanung

Bereits vor der Kinderplanung sollte man sich als Paar darüber einigen, wie das Familienleben aussehen kann, wenn Kinder da sind. Keiner sollte sich scheuen, seine Vorstellung darüber zu äußern. Es gibt keine Tabus – jeder Wunsch oder jede Vorstellung hat seine Berechtigung. So gelangt man zu einer gemeinsamen Vorstellung, weil jeder vom anderen weiß, was er oder sie sich wünscht. In dieser Zeit wird die Basis für ein gemeinsames Familienleben gelegt.

Eine wichtige Frage ist, wie sich die Familie finanziert. Hierfür gibt es viele individuelle Antworten: Für Familien mit beiden Eltern können die Modelle des Alleinverdieners oder das eines Voll- und eines Teilzeitverdieners interessant sein, aber auch, dass beide Vollzeit arbeiten oder beide Teilzeit oder jedes andere Modell. Wichtig dabei ist, dass jeder das Recht hat, dass seine Vorstellung ernst genommen und gemeinsam an einer Basis gearbeitet wird. Denn jeder kann nur glücklich sein, wenn er seine Bedürfnisse erfüllt sieht. Alleinerziehende haben in dieser Frage weniger Auswahl: Bei ihnen ist der finanzielle Druck höher, weil er auf den Alleinerziehenden allein liegt – vom Unterhalt abgesehen.

Ein Beispiel aus der Praxis: Zwei Berufstätige

Meinem Mann und mir war von Anfang an klar, dass ich in jedem Fall arbeiten will. Ich selbst war vor meiner Selbstständigkeit wie er in verschiedenen Leitungspositionen tätig. Gleichzeitig hatten wir uns bewusst für unsere Kinder entschieden. Uns war klar, dass wir das Doppelverdiener-Modell wählen würden. Ich arbeite nicht Vollzeit, aber einen hohen Stundensatz, und er in Vollzeit. Da er in seinen Leitungspositionen sehr flexibel war und ist, können wir viel gemeinsame Zeit mit unseren Kindern genießen.

Bis heute ist es uns wichtig, dass wir beide so arbeiten, dass genügend Zeit für unsere Kinder und unsere Familie bleibt und unsere Kinder nicht von morgens bis abends in der Kindertageseinrichtung sind. Bei uns heißt das, dass mein Mann sie morgens hinbringt und ich früh zu arbeiten beginne. Ich hole sie am frühen Nachmittag ab und spätestens zum gemeinsamen Abendessen treffen wir uns alle wieder zu Hause. Natürlich wird im Lauf der Jahre dieses Modell immer wieder in Frage gestellt, angepasst oder verändert. Leben ist Veränderung, genauso wie die Art und Weise, wie wir Familie gestalten.

2. Investiert in eine starke Paarbeziehung!

Eltern sein ist schön, aber nicht alles! Um gemeinsam die Anforderungen des Alltags zu meistern, ist eine feste Paarbeziehung wichtig. Diese kann im Alltagstrubel schnell verloren gehen, weil man sich gegenseitig aus den Augen verliert und nicht mehr aufeinander achtet. Der Fokus liegt auf der Bewältigung des Alltags und auf den Kindern. Deshalb sind gemeinsame Auszeiten ohne Kinder wichtig. Es braucht anfangs Mut, loszulassen, aber mit zunehmender Routine geht es besser. Zu Beginn hält man sich lieber in kurzer Reichweite auf, sodass man schnell bei den Kindern sein kann. Wenn sich alle daran gewöhnt haben, kann man den Radius erweitern. In Zeiten digitaler Kommunikation ist man schnell informiert und kann jederzeit reagieren. Übrigens genießen es die Kinder auch, einmal ohne Eltern zu sein.

Mein Mann und ich versuchen, einen Abend im Monat für uns zu planen, an dem wir beide ohne Kinder Zeit miteinander verbringen. Das kann ein Kinobesuch, ein gemeinsames Essen oder eine gemeinsame Aktivität sein. Einmal im Jahr fahren wir zusammen ohne Kinder für ein Wochenende weg. Da wir generell viel verreisen, haben wir daneben noch viele Zeiten, in denen wir zusammen mit den Kindern unterwegs sind. Für die Abende ohne Kinder haben wir einen Babysitter oder fragen die Großeltern. Natürlich hat dieses Vorhaben in den zurückliegenden Monaten wegen der Corona-Pandemie gelitten, aber wir haben darauf geachtet, dass wir es wieder in die Tat umsetzen können, sobald es die Situation zulässt.

Wichtig ist uns, dass wir gemeinsame Erlebnisse schaffen, die uns als Paar stärken. Wir besprechen unsere Alltagssorgen, Gedanken um die Kinder, Vorstellungen für die Zukunft, unsere Wünsche und vieles mehr. Es geht darum, an der gemeinsamen (Werte-)Basis zu arbeiten für einen respektvollen und achtsamen Umgang miteinander. Gegenseitige Vorwürfe bringen keinen weiter. Schließlich haben wir uns versprochen, in guten wie in schlechten Zeiten zusammenzuhalten.

Auszeit alleine nicht vergessen!

Ich kann nur jedem empfehlen, sich zu trauen und die Kinder einen Abend oder ein Wochenende anderweitig gut betreuen zu lassen. Diese Zeit ist wertvoll und hilft, als Paar bestehen zu bleiben. Nur wenn man versteht, warum sich der andere gerade so verhält, kann man gemeinsam daran arbeiten und Änderungen umsetzen. Daneben sollten Auszeiten allein ebenfalls möglich sein, um sich beispielsweise mit Freunden zu treffen. Denn wir alle sind für uns selbst verantwortlich, müssen für uns selbst sorgen und bleiben trotz Familie auch eigenständige Personen. Und deshalb darf es ruhig auch einmal der Abend ganz ohne Mann und Kinder sein, um in Ruhe und in aller Ausführlichkeit mit der Freundin zu reden. Pausen gelten auch für Alleinerziehende! Und sie sollten sich diese auch nehmen. Entweder kann man mit dem anderen Elternteil eine entsprechende Aufteilung besprechen oder man hat Eltern, gute Freunde oder einen Babysitter, die einem die benötigten Pausen verschaffen können.

3. Gemeinsam ist man stark

Die Rolle des Vaters hat sich in den letzten Jahren gesellschaftlich extrem gewandelt. Väter wollen heute mehr denn je ihren Teil zum Familienleben und der Erziehung beitragen. Sie wollen nicht nur zusehen, sondern Bestandteil sein. Vereinbarkeit lässt sich besser realisieren, wenn jeder seinen Beitrag leistet. Sei es im Familienleben, weil die Aufgaben im Haushalt geteilt werden, sei es in der Kinderbetreuung, weil auch der Vater Zeiten in der Betreuung übernimmt, und sei es im Berufsleben, weil jeder finanziell seinen Beitrag leistet und somit das Einkommen gesichert ist. Zeiten, die Kinder allein mit dem Vater verbringen, sind ebenso wertvoll wie Zeiten, in denen sich die Mutter allein um die Kinder kümmert. Jedes Elternteil erzieht anders, davon profitieren die Kinder ungemein.

Damit schließt sich auch der Kreis zu Tipp 2. Je besser die gemeinsame Basis als Paar ist, desto stärker ist man zusammen! Dies gilt auch für getrennt lebende Eltern, denn auch wenn man kein Paar mehr ist – Eltern bleibt man ein Leben lang. Und damit auch in dieser Verantwortung. Klar gibt es Arbeitsplätze, die dies besser oder schlechter bewerkstelligen lassen. Aber in Zeiten des Fachkräftemangels und der beständigen Diskussion um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben auch Arbeitgeber erkannt, dass sie sich an dieser Stelle bewegen müssen. Die Umsetzung von Home-Office in den letzten Monaten ist nur ein Beispiel für eine Maßnahme, die vorher bei vielen Tätigkeiten als undenkbar gegolten hat oder nur sehr ausgewählt gewährt wurde. Daher kann ich nur raten, dem Arbeitgeber gegenüber mutig seine Wünsche zu äußern. In den meisten Fällen lässt sich eine Lösung finden, die beiden Seiten gerecht wird.

4. Achtet auf die Kinder!

Bisher haben wir den Blick auf die Eltern gelegt, denen die Vereinbarkeit gelingen muss. Aber in diesem System gibt es einen wichtigen Faktor, um den sich alles dreht: die Kinder. Sie sind ein guter Gradmesser, ob das aktuelle Familienleben gut ist und für alle passt. Sind die Kinder ausgeglichen und entspannt, kann man davon ausgehen, dass auch sie sich in dem System wohlfühlen. Kann man Änderungen in den Verhaltensweisen erkennen, wie plötzliche Aggressivität, schlechte Laune, keine Lust auf bisherige Aktivitäten, Anhänglichkeit, Weinerlichkeit oder Ähnliches, dann sollte man genauer und kritisch hinsehen. Kinder können ihre Gefühle erst mit zunehmendem Alter in Worte fassen. Anfangs drücken sie ihre Gefühle über ihr Verhalten aus. Deshalb muss man sie genau im Auge behalten und bei eindeutigen Anzeichen kritisch überlegen, was der Auslöser sein kann.

5. Reduziert den Druck!

Stress und Druck sind bekannte Phänomene im Familienleben. Sie entstehen auf mehreren Ebenen. Besonders, wenn beide Elternteile arbeiten oder nur der alleinerziehende Elternteil, ist das oft mit Stress verbunden. Jeder steht zeitlich unter Druck: pünktlich auf der Arbeit sein, die Kinder pünktlich abholen und daneben noch Arztbesuche, Einkaufen, Hobbys und vieles mehr. Es gibt genug zu tun, deshalb kann es hilfreich sein, die Kinderbetreuungszeiten großzügiger zu buchen. Das bedeutet, dass ein zeitlicher Puffer morgens und/oder abends entsteht. Dies kann beispielsweise zwischen Arbeitsende und dem Abholen der Kinder sein, sodass man nicht unter Druck nach Hause fahren muss oder noch Zeit hat für ein paar Erledigungen oder einfach zum Durchatmen nach einem stressigen Arbeitstag.

Stress wirkt sich auch auf die Kinder aus! Deshalb empfiehlt es sich umso mehr, für ein gutes Zeitmanagement zu sorgen. Auch im Hinblick auf sich selbst: Wer gestresst ist, macht Fehler. Ein anderer Druck, unter dem Eltern oft leiden, ist der Druck, perfekt zu sein. Macht euch frei davon! Es ist egal, ob Krümel auf dem Boden liegen, wenn das Kind spielen will. Die Krümel können warten. Die Kinder aber wollen die freie Zeit mit den Eltern genießen. Und wenn die Eltern oder der Vater oder die Mutter sich die Zeit nehmen und alles andere hinten anstellen, wird das die Erinnerungen schaffen, von denen Kinder als Erwachsene zehren.

Ungewöhnliche oder als ungewöhnlich wahrgenommene Lebenskonzepte können oftmals Skepsis bei anderen auslösen. Auch davon muss man sich freimachen. Wichtig ist, dass ihr euch – Eltern und Kinder – wohlfühlt, ob mit oder ohne Krümel auf dem Boden, in einem traditionellen Familienbild oder einem modernen. Damit schließt sich der Kreis: Jede Familie benötigt ihr individuelles Vereinbarkeits- und Lebenskonzept, in dem alle zufrieden sind!

Habt Spaß!

Natürlich braucht es Mut, sich zu lösen und neue Wege in der Gestaltung des Familienlebens zu gehen. Je mehr Einigkeit im Elternpaar herrscht, umso besser kann man mit Fragen oder gutgemeinten Ratschlägen umgehen, die deutlich machen, dass andere die Entscheidung nicht nachvollziehen können. Wer sich Vereinbarkeit wünscht und dem Familienleben oberste Priorität einräumt, folgt einer neuen gesellschaftlichen Sichtweise. Diese unterscheidet sich bereits von der Sichtweise unserer Eltern. Denn für diese war es noch deutlich klarer, dass sich das Familienleben dem Beruf unterordnen muss. Heute hat sich das gewandelt, viele ordnen das Familienleben als gleich wichtig zum Beruf ein. Am wichtigsten ist: Das Leben mit Kindern soll Spaß machen! Nur mit Humor können wir auch einmal die schlechten Launen unserer Kinder oder unsere eigenen schlechten Phasen kompensieren. Je glücklicher die Familienmitglieder sind, desto glücklicher ist das Familienleben!

Christine Jaschek ist verheiratet und hat zwei Kinder. Viele Jahre war sie in Leitungspositionen tätig, heute arbeitet sie selbstständig als Unternehmensberaterin sowie als Coach: christine-jaschek.de

„Homeoffice braucht andere Kompetenzen“

Ein Gespräch mit Felicitas Richter über die Herausforderungen für Familien im Homeoffice

Es gab schon immer Mütter und Väter, die vom Homeoffice aus gearbeitet haben. Was hat sich durch die Corona-Krise verändert?

Die Herausforderung, selbst im Homeoffice produktiv zu sein und gleichzeitig die Kinder zu betreuen und zu beschulen, brachte viele Eltern während der Corona-Zeit an ihre Belastungsgrenze. Dies ist aber nicht die Normalität einer gelingenden Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familie in den eigenen vier Wänden. Denn wenn die Kinder in der Kita oder Schule sind, hat die Arbeit zu Hause auch eine Menge Vorteile. Auch wenn es anfangs noch gehakt hat, konnten viele in diesem Homeoffice-Riesenexperiment mal ausprobieren, ob das etwas für sie ist. Wir sind nun dabei, in eine neue Normalität zu finden: Immer mehr Arbeitgeber bieten nun (tageweise) mobiles Arbeiten und damit oft eine Flexibilisierung der Arbeitszeit an, die gerade Familien zugutekommt. Viele Beschäftigte sind ebenfalls auf den Geschmack gekommen, weil Fahrtwege und -zeiten entfallen. Paare haben Haus- und Erziehungsarbeit gerechter aufgeteilt, die gegenseitige Wertschätzung für das, was Mutter und Vater täglich leisten, ist gewachsen.

Sie beraten seit mehreren Jahren Mütter und Väter rund um den „Spagat zwischen Beruf und Familie“. Was sind Ihrer Erfahrung nach die größten Herausforderungen?

Die größte Herausforderung für berufstätige Eltern ist, Zeit für sich selbst und für die Partnerschaft zu finden. Beides wird oft über Jahre hintenangestellt. Und doch ist – und hier spreche ich vor allem die Mütter an – Selbstfürsorge das A und O. Wenn Mutter und Vater gut für sich sorgen, werden sie diese anstrengende Lebensphase gelassen meistern. Viele Paare müssen außerdem ihr Familienmodell verhandeln und das ist anstrengend. Auch wenn sich Väter (auch hier gab es durch die Corona-Lockdowns einen positiven Schub) heute vielmehr in Haushalt und Kindererziehung einbringen, haben noch meist die Mütter die To-Do-Listen im Kopf, die ihnen die Ruhe rauben. Außerdem fühlen sich viele Eltern unter Druck, den Kindern den bestmöglichen Start ins Leben mitzugeben – das heißt tägliche Hausaufgabenbetreuung, Begleitung zu vielen Freizeitaktivitäten, Beschäftigung der Kinder daheim. Das ist neben einer Berufstätigkeit eine große Herausforderung. 

Was ist Ihr wichtigster Ratschlag für Eltern, die jetzt zum ersten Mal im Homeoffice arbeiten (müssen)?  

Viele Menschen meinen, sie klappen den Laptop im Büro zu und können die Arbeit daheim am Esstisch 1:1 weitermachen. Das mag mal für einen Tag funktionieren. Homeoffice aber braucht – gerade mit Familie – noch einmal andere Kompetenzen als die Auswärts-Arbeit. Ich rate Eltern, sich und der Familie eine Einarbeitungszeit zu gönnen. Alle müssen sich erst an die neue Situation gewöhnen. Es braucht einen festen Arbeitsort, der vom Familienleben abgetrennt ist (das kann anfangs eine Ecke mit Paravent sein) und arbeitsfreie Zonen wie Esstisch, Bett oder Couch. Es braucht verbindliche Arbeitszeiten und arbeitsfreie Zeiten. Manche Eltern müssen erst lernen, „Nein“ zu sagen und die Kinder müssen lernen, dass Mama oder Papa nicht immer verfügbar ist, obwohl sie daheim ist. Es braucht Achtsamkeit für sich selbst und die Familie, damit das Homeoffice nicht zur Selbstausbeutung wird. Es braucht eine gute Familien- und eine passende Arbeitsorganisation. All das kann man lernen.

Die Arbeit von zu Hause aus benötigt ein großes Maß an Organisation und Disziplin. Aber sie kann gleichzeitig viel Flexibilität bieten. Wie sehen Sie das?

Ja, beides gehört zusammen. Ich betrachte eine gute Familien- und Arbeitsorganisation als das Standbein, um fokussiert und produktiv arbeiten zu können. Mit „gut“ meine ich sowohl individuell als auch für die Familie passend. Das kann sehr unterschiedlich sein. Dann ist Flexibilität möglich. Das ist das Spielbein. Wer einen guten Plan hat, kann davon im Notfall abweichen, ohne den Überblick zu verlieren. Statt Disziplin verwende ich lieber das Wort „Motivation“. Es ist wichtig herauszufinden, was mich bei der Arbeit daheim motiviert. Da gibt es ganz verschiedene Faktoren. Dann kommt die Disziplin von selbst. Was ich immer wieder betone: Wer Beruf und Familie im Homeoffice vereinbaren will, muss beides gut trennen. Das ist in den eigenen vier Wänden gar nicht so einfach. 

Sie haben ein Buch zum Thema „Homeoffice mit Familie“ geschrieben. Wie kam es dazu?

Ich habe immer auch daheim gearbeitet. Meine vier Kinder sind quasi im Homeoffice großgeworden. In 20 Jahren habe ich gelernt, was gut funktioniert und wo die Stolperstellen für produktives Arbeiten und lebendige Familienzeit sind. Während der Corona-Lockdowns habe ich viele Eltern, die im Homeoffice waren, in Live-Talks und durch Coaching begleitet. Dabei konnte ich auf diese Erfahrungen zurückgreifen. All das ist schließlich ins Buch eingeflossen. Geschrieben ist es sowohl für Eltern, die angestellt oder selbstständig von zu Hause aus arbeiten – egal, ob sie gerade ins Homeoffice starten oder schon „alte Hasen“ sind. Profitieren werden aber auch Personalverantwortliche, die wissen wollen, welche Rahmenbedingungen produktive Arbeit in den eigenen vier Wänden (oder mobil) braucht.

Sie bieten Ihren Leserinnen und Lesern eine Fülle von Ideen. Mal ehrlich, gelingt Ihnen das auch, alles so zu organisieren, dass fast nichts zu kurz kommt?

Das ist wohl ein Grundgefühl, das alle teilen, die den Spagat zwischen Familie und Beruf meistern: Irgendetwas kommt immer zu kurz. Zumindest im Vergleich zu den eigenen Erwartungen. Das geht mir nicht anders. Wichtig ist, dass man weiß, an welchen Stellschrauben man drehen kann, wenn etwas hakt. Dabei gibt es nicht den „richtigen“ Weg. Jede Familie wird herausfinden, was für sie am besten funktioniert. Und das ist das Schöne an der Arbeit im Homeoffice: man hat viel Gestaltungsspielraum. Diesen nutzen zu können für einen erfüllten Alltag mit Beruf und Kindern wünsche ich meinen Leserinnen und Lesern.

Felicitas Richter ist tätig als Professional Speaker, zertifizierte Business-Trainerin und -coach. Als Mutter von vier Kindern, die quasi im Homeoffice großgeworden sind, weiß sie, was es braucht, damit die Vereinbarkeit von Homeoffice und Familie auch wirklich funktioniert. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Berlin. www.felicitas-richter.de

 

 

 

„Es genügt, dass man da ist“

Im Schweden-Urlaub habe ich passenderweise das neue Buch des schwedischen Autors Tomas Sjödin gelesen: „Es gibt so viel, was man nicht muss“. Schon den Titel finde ich sehr ansprechend. Und das Buch hält, was der Titel verspricht. Es besteht aus Kolumnen, die Sjödin in den letzten Jahren für verschiedene schwedische Zeitungen geschrieben hat. Diese Texte enthalten viele wertvolle Impulse. Meine Lieblingskolumne möchte ich gern mit euch teilen (danke an den Verlag SCM R. Brockhaus, der den Nachdruck genehmigt hat):

Das Schaffen-Müssen sein lassen

Ich treffe immer mehr Menschen, die von sich behaupten, dass sie den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht genügen. Nicht als Eltern, nicht als Partner, weder zu Hause noch im Beruf. Und vor allem nicht gleichzeitig zu Hause und im Beruf. Wenn es an der einen Stelle funktioniert, dann ist an der anderen Not am Mann, und beim tiefen Ausatmen kommt der Seufzer: „Ich schaff’s einfach nicht.“ Die Frage muss also heißen: Wer hat uns den Gedanken eingepflanzt, dass wir „es schaffen“ müssen? Und wer hat überhaupt festgelegt und normiert, was „schaffen“ und „genügen“ heißt?

Neulich begegnete mir ein Text, der mir klargemacht hat, dass das Problem keineswegs neu ist, sondern sich bereits in einer Quelle beschrieben findet, die fast 3000 Jahre alt ist – im Buch des Propheten Jesaja. Der Prophet beschreibt das Gefühl, nicht zu genügen, so: „Das Bett ist zu kurz, um sich darin auszustrecken, die Decke zu knapp, um sich damit zuzudecken“ (Jesaja 28,29). Ein sehr sprechender Beweis dafür, dass der Mensch sich über die Jahrtausende wenig verändert und schon immer mit den eigenen Ansprüchen und denen der anderen herumgeschlagen hat.

Wer schon einmal versucht hat, trotz einer zu kurzen Bettdecke einzuschlafen, weiß, was der fröstelnde Prophet meinte. Wenn man es sich gemütlich macht und die Decke über die Schultern zieht, ragen die Zehen unbedeckt in die kalte Luft des Schlafzimmers. Wenn man sie bedeckt, friert man bis zur Brust.

Kann es sein, dass das eine menschliche Grundbefindlichkeit ist: Immer fehlt etwas? Und dass eine Idee dahintersteckt: dass wir uns nämlich zusammentun sollen, uns nicht mit den eigenen Ressourcen zufriedengeben und uns weigern, das Dasein auf die innerweltlichen Dinge zu begrenzen?

Wenn man erkennt, dass man es alleine nicht schafft, öffnet man sein Leben für die helfenden Kräfte, die verfügbar sind. Die Situationen, in denen mein Leben eine neue und unerwartete Wendung genommen hat, waren selten die, in denen ich mich zusammengerissen und es noch einmal versucht habe, sondern solche, in denen ich aufgehört habe, mich zusammenzureißen, die Zügel aus der Hand gegeben und Hilfe angenommen habe. Hilfe von Gott und von Menschen.

Es gibt ein Wort mit nur fünf Buchstaben, das diese Erfahrung beschreibt: Gnade. Gnade ist das, was die Decke verlängert, sodass man sich in seiner vollen Länge ausstrecken kann, ohne kalte Füße zu bekommen.

In der letzten Woche las ich über den Mathematiker und Physiker Blaise Pascal und wie er seine zentrale geistliche Erkenntnis in dem zusammenfasste, was seitdem Pascals „Mémorial“ heißt: in einer Sammlung von Glaubenssätzen. Ich will mich nicht mit Pascal vergleichen, aber noch am selben Tag habe ich mich hingesetzt und „Sjödins Glaubenssätze“ formuliert. Falls sie außer mir selbst auch jemand anderem von Nutzen sein sollten, würde mich das sehr freuen. Sie lauten wie folgt – und gelernt habe ich sie von meinen kranken Söhnen: „Man muss nicht genügen. Es genügt, dass man da ist. Alles, was darüber hinausgeht, ist ein Bonus.“

 

Wenn ihr gern mehr über Autor und Buch wissen wollt, schaut mal hier rein: https://www.scm-brockhaus.de/aktuelles/portraits/tomas-sjodin

Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT

Den Kinderwunsch aufschieben?

Facebook und bald auch Apple finanzieren ihren Mitarbeiterinnen in den USA das so genannte Social Freezing, das Einfrieren ihrer Eizellen. So können die Mitarbeiterinnen erst mal in Ruhe Karriere machen und sich später immer noch ihren Kinderwunsch erfüllen. Ohne tickende biologische Uhr.

Diese Meldung hat für viel Kritik gesorgt. Aber so ganz abwegig finden viele – vor allem junge Männer und Frauen – die Idee gar nicht. Zwar halten es 58 Prozent der Deutschen für nicht richtig, ein solches Angebot des Arbeitgebers zu nutzen – das hat eine Umfrage von TNS Emnid im Auftrag der Wochenzeitung „Die Zeit“ ergeben. Aber immerhin 37 Prozent sprechen sich für diese Möglichkeit aus und fast jeder Fünfte könnte sich sogar vorstellen, sie in Anspruch zu nehmen. Und bei den 14- bis 29-Jährigen ist sogar eine Mehrheit von 53 Prozent dem Social Freezing gegenüber positiv eingestellt.

Ich finde das erschreckend. Schon jetzt spielen in unserer Gesellschaft die Ansprüche des Arbeitsmarktes oft eine größere Rolle als die Bedürfnisse des Kindes und seiner Eltern. Wer drei Jahre mit dem Kind zu Hause bleibt, wird nicht selten kritisch beäugt. Wird das in Zukunft auch so sein, wenn eine Frau mit Ende 20 schwanger wird, obwohl sie doch gerade am Beginn einer vielversprechenden Karriere ist? Sind Arbeitgeber dann noch bereit, bei der Vereinbarkeit zu helfen, Teilzeit und Home Office zu gewähren?

Und außerdem: Wann ist denn der richtige Zeitpunkt für ein Kind? Viele Paare merken doch jetzt schon, dass es diesen Zeitpunkt nicht gibt. Dass es nicht einfach „klick“ macht und plötzlich alles super passt. Wer sich für ein Kind entscheidet, entscheidet sich für Kompromisse, für Verzicht, für das Neuordnen seiner Prioritäten. Das ist nicht anders, wenn ich die Entscheidung 20 Jahre aufschiebe. Letztlich passt ein Kind nie so richtig in die berufliche Planung. Oder ich muss es so lange aufschieben, bis ich im Rentenalter angekommen bin.

Ich hoffe, dass sich das Social Freezing nicht als neuer Trend in der Familienplanung durchsetzt. Dass sich junge Männer und Frauen für ein Kind entscheiden, auch wenn es grad nicht so perfekt passt. Dass Arbeitgeber weiter daran arbeiten, dass ihre Mitarbeiter Beruf und Familie gut hinbekommen. Dafür können sie gern mehr Geld investieren!

Bettina Wendland, Family-Redakteurin