„Hätte am liebsten losgeheult“ – Stefanie besucht mit Sohn Daniel (15) Holocaust-Überlebende in Israel
Stefanie und Daniel Böhmann waren in Israel zu Gast bei Shoa-Überlebenden. Jetzt haben sie einen Auftrag: gegen das Vergessen.
Ich hatte in den letzten Monaten oft den Eindruck, dass Daniel, unser 15-jähriger Sohn, und ich in zwei unterschiedlichen Welten leben: Er hat seine Sicht der Dinge, seine Ausdrucksmöglichkeiten und „Minuten“, in denen er mir unendlich fern scheint. Da ist es nicht so einfach, verbindende Elemente zu finden. Doch ein Thema ist uns beiden wichtig: die Versöhnungsarbeit in Israel. Vor fünf Jahren waren wir das erste Mal mit Ebenezer Deutschland, einer Organisation, die Juden bei ihrer Rückkehr nach Israel hilft und Versöhnungsarbeit leistet, in Israel. Wir haben Überlebende in Altenheimen oder in ihrem Zuhause besucht. In diesem Jahr haben wir nun schon zum dritten Mal als Familie dieses faszinierende Land bereist. Dieses Mal haben wir so viel Gastfreundschaft erlebt und durften in so viele unterschiedliche Haushalte Einblick nehmen, dass wir die ganzen Eindrücke erst mal sortieren müssen. Da hilft Daniel und mir das Schreiben.
„Weil ich Israel liebe“
Eine der ersten Begegnungen fand in Jerusalem statt. Wir waren bei einer deutschen Journalistin zum Shabbatessen eingeladen. Ihre Mitbewohnerin in der WG ist Jüdin und fragte Daniel, warum er ausgerechnet in Israel sei. Daniel antwortete von ganzem Herzen: „Weil ich Israel liebe.“ Mehr Worte brauchte es nicht. Die Mitbewohnerin war beeindruckt und erzählte es am nächsten Tag ihrer Schwester: „Hey, gestern Abend war hier ein 15-jähriger Deutscher, der Israel liebt.“ Zuhören und da sein ist eine der wichtigsten Brücken, die zur Verständigung beitragen.
Als ich Daniel fragte, was er an Israel so liebt, schrieb er Folgendes auf: „Israel ist ein Land, das besonders in Deutschland durch die Medien mit Vorurteilen belegt ist. Solche Vorurteile hatte ich auch bei meinem ersten Besuch. Doch als ich hier ankam, habe ich die Wahrheit über Israel gesehen, gerochen und gespürt. Sei es, durch die Altstadt in Jerusalem zu laufen und in die Läden reinzuschauen, die Gewürze zu riechen oder mitzubekommen, wie es ist, wenn mir auf dem Markt irgendjemand versucht, etwas anzudrehen. Das würde mir nie so in Deutschland passieren.
Gerade freitags vor dem Beginn des Shabbats versuchen sich auf dem Shuck (Markt) hunderte Menschen einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen, um noch pünktlich vor Shabbatbeginn zu Hause zu sein. Da pulsiert das Leben. Wenn man nur ein bisschen aus den Städten herausgeht, dauert es nicht lange, bis man vom Flachland in eine wunderschöne Hügellandschaft kommt und gerade im März über die schönsten wilden Alpenveilchen, Mohn und grüne, saftige Wiesen staunen kann.“
„Du hast mein Herz gewonnen“
Aber es ist nicht nur das Land, das uns als Familie fasziniert, es sind auch die Menschen. Wir sind hier, um die Geschichten der Menschen zu hören, vor allem derjenigen, die den Holocaust überlebt haben. Als die 99-jährige Edith, die immer noch acht Sprachen sprechen kann, nach einer Stunde Gespräch meine Hand hält und mir sagt: „Steffi, du hast mein Herz gewonnen“, hätte ich am liebsten losgeheult. Diese Frau trauert immer noch um ihre Eltern und Verwandten, die in Auschwitz ermordet wurden. Und doch werde ich als fremde Deutsche mit einem wunderbaren Abendessen empfangen. Und mir wird mit so viel Offenheit und Wärme begegnet, dass ich tief beschenkt ins Hotel zurückfahre.
„Wir sind es, die etwas tun müssen“
Nach dem Besuch bei Regina Steinitz, einer anderen Überlebenden, schreibt Daniel: „Da sitzt eine 91-jährige Frau und berichtet über Dinge, die sie in meinem Alter erlebt hat, bei denen ich mir nicht mal nach genauester Schilderung ausmalen kann, wie viel Leid sie erlebt hat und noch mit sich trägt. Regina Steinitz ist für mich ein Vorbild. Ein Bundesverdienstkreuz ist ihr vollkommen egal. Das Einzige, was sie möchte, ist, dass Menschen die Shoa nicht vergessen und Menschen sich als Menschen begegnen und auch so behandeln. Nicht nur einmal ist sie an dem Abend außer sich und hat uns manchmal sogar angebrüllt, dass wir es sind, die etwas tun müssen gegen das Vergessen.
Mit Sorge blickt sie auf den Antisemitismus, den es immer noch gibt und der eher zu- als abnimmt. Immer noch versuchen Menschen, Juden für Leid verantwortlich zu machen. Immer noch wird ein Unterschied zwischen Menschen gemacht und Rassismus gelebt. Ich kann mir nur ausmalen, was es mit so einer besonderen Person macht, wenn sie erneut mit Ausgrenzungen konfrontiert wird. Doch, was ihr besonders zu schaffen macht, ist, dass sie ihr Leben nicht mehr mit ‚meinem Zwi‘, wie sie ihren vor zwei Jahren verstorbenen Mann nennt, verbringen kann.“
„Sie sind für mich Vorbilder“
„Genauso geht es Gerda Büchler. Schon öfter habe ich ihre Geschichte gehört und gelesen, doch sie fasziniert mich immer wieder. Obwohl sie Mitte 90 ist und nach der Flucht vor den Nazis neun Operationen brauchte, damit ihre im Schnee erfrorenen Füße wieder halbwegs normal zu gebrauchen waren, sagt sie: ‚Ich mache alles, damit man nicht vergisst.‘ Selbst in diesem hohen Alter hat der Einsatz gegen das Vergessen für sie Priorität. Dabei geht es ihr nicht um ihre Geschichte, sondern darum, dass man davon erfährt, was mit dem jüdischen Volk gemacht wurde. Und dass Menschen wie wir aktiviert werden, sich gegen Völkermord und das Vergessen einzusetzen.
Diese beiden Damen sind für mich Vorbilder und gehören zu den stärksten Menschen, die es zurzeit auf dieser Welt gibt, da sie in ihrem hohen Alter noch immer erzählen und lächeln können, trotz dessen, was ihnen widerfahren ist. Sie geben nicht auf, haben ein Ziel vor Augen und halten daran fest.“
So fliegen wir tief beeindruckt und mit einem Auftrag zurück nach Hause. Wir bereiten einen weiteren Austausch für Jugendliche und Lehrer vor, damit weitere Brücken gebaut werden zwischen den Völkern, Vorurteile durch Begegnungen abgebaut werden und wir unseren Auftrag ausführen können: Dazu beizutragen, dass die Shoa nicht vergessen wird und Menschen sich als Menschen kennenlernen und begegnen können. Was für ein besonderes Geschenk, diesen Auftrag als Mutter und Sohn auf dem Herzen haben und teilen zu können, denn Daniel will mit einem Klassenkameraden an dem Austausch teilnehmen.
Stefanie und Daniel Böhmann leben in Hamburg.