Von Opa lernen …

… möchte Sandra Geissler. Denn wie ihr Schwiegervater von seinem Leben erzählt, ist für sie vorbildhaft.

„Der Opa kommt!“, tönt ein lauter Schrei durchs Haus. Irgendeiner entdeckt ihn immer, lange bevor er auch nur in die Nähe unserer Türklingel gelangen kann. Und schon rast die gesamte Kinderschar wie eine wildgewordene Büffelherde zur Haustür. In kürzester Zeit weiß die ganze Nachbarschaft Bescheid: Der Opa kommt! Es dauert immer eine Weile, bis sich die tumultartigen Zustände wieder gelegt haben, bis jeder ausgiebig gedrückt und durch feste Klopfer auf den Rücken auf seine Vollständigkeit hin überprüft wurde. Dann erst kann sich der ersehnte Gast endlich bis ins Wohnzimmer vorarbeiten und auf seinem Stuhl verschnaufen. Meistens hat er für jeden eine Kleinigkeit dabei. Eine Handvoll Schlümpfe von 1980 vielleicht, die er irgendwo in den Tiefen seines Hauses entdeckt hat, einige alte Matchboxautos, ein paar Schokokugeln oder eine Tüte Gummibärchen zum Teilen. Mein Schwiegervater ist 88 Jahre alt, und man merkt es ihm langsam ein wenig an. Doch immer noch ist er stark wie eine alte Eiche, groß, gewaltig und ein bisschen polterig. Er lacht gern und laut, ist diskussionsfreudig und herzlich. Nur das mit dem Hören funktioniert nicht mehr richtig, was den Lärmpegel in unserem eh schon immer lauten Haus in ungeahnte Höhen treibt. Man stelle sich fünf Kinder vor, die gleichzeitig versuchen, sich einem schwerhörigen Opa verständlich zu machen …

GESCHICHTEN AUS ALTEN ZEITEN

Hat der Opa dann endlich sein Plätzchen gefunden, sein Stückchen Kuchen verzehrt, die zweite Tasse Kaffee vor sich und ein Enkelchen auf dem Schoß, dann kommt meist der Moment, den meine Kinder lieben. Der Opa fängt an zu erzählen. Von seinen Weltreisen als junger Mann, ganz ohne All Inclusive und ausgebauter Infrastruktur, von den Nächten in Heuschobern oder in freier Wildbahn, von den Abenteuern, die er mit seinen Brüdern erlebt hat, von der Liebe seiner Eltern und von seiner Zeit als junger Familienvater. Die Kinder hängen an seinen Lippen, wenn der Opa erzählt, und sie erfahren Geschichten aus fernen Ländern und alten Zeiten, von der Oma, die sie nie kennenlernen konnten, von Tagen, an denen ihr Papa ein kleiner Junge war und wieviel Blödsinn er mit seinen Brüdern angestellt hat. Oft sitze ich da und staune, wie sehr meine Kinder sich von den alten Geschichten fesseln lassen. Noch mehr aber bestaune ich diesen Mann, der mit fast neunzig Jahren so ganz im Reinen ist, mit sich und der Welt, der nicht schimpft und nicht hadert, weder mit der Vergangenheit, noch mit dem Jetzt. Nach zwei Stunden verabschiedet sich der Opa wieder und unter lautem Hupen und wildem Winken fährt er davon. Wir winken und brüllen alle hinterher. Bis zum nächsten Mal.

NICHT DAS SCHWERE ZÄHLT

Oft schon haben mein Mann und ich nach solchen Stunden mit dem Opa überlegt, dass dieser Mann auch eine ganz andere Geschichte seines Lebens erzählen könnte. Die Geschichte einer Kriegskindheit, vom Hunger und einem zerbombten Zuhause. Von der Granate, die ihm beim Spielen einige Finger kostete. Von den Mühen, vier nicht gerade einfache Jungs auf den rechten Lebensweg zu bringen und der großen Trauer um seine viel zu früh verstorbene Frau. Von der Einsamkeit in einem nun längst zu großen, leeren Haus, den Beschwerlichkeiten des Alters und den alten Freunden, die nicht mehr sind. Aber so erzählt er die Geschichte nicht. Er erzählt seine Geschichte anders. Es ist nicht so, als wäre das alles nicht gewesen. Er negiert das Schwere nicht, es gehört dazu und ist Teil seiner Erzählungen. Aber es ist nicht das, was zählt. Was zählt, ist das wilde, schöne Leben in all seinen Facetten. Die Freude an diesem Leben, an Familie und zehn Enkelkindern, an Reisen und an guten Erinnerungen, an ungewöhnlichen Problemlösungen und überstandenen Krisen. Er feiert dieses Leben, das vergangene und das gegenwärtige, indem er es bejaht. Und er vergrault es nicht, indem er hadert. Der Opa behält das Gute und schaut gespannt nach vorne. Denn 95 wolle er auf jeden Fall werden, sagt er.

DAS WILDE, SCHÖNE LEBEN

So möchte ich die Geschichte meines Lebens auch einmal erzählen können, wenn ich eine Oma geworden bin. Und wenn ich es recht bedenke, dann muss ich gar nicht so lange warten. Ich kann direkt damit loslegen, jeden Tag auf ein Neues. Das Leitthema meines Lebensbuches sollen nicht die schweren und traurigen Kapitel sein, auch wenn sie natürlich auch zu meiner Geschichte dazugehören. Das Leitthema soll das wilde, schöne Leben sein in all seinen Facetten, die guten Begegnungen und das Abenteuer Familie, die Liebe, die ich erfahren und schenken durfte, die Dankbarkeit für die guten Momente und das große Glück in den kleinen Dingen. So möchte ich mein Leben feiern, das mir geschenkt wurde, mit allem, was dazu gehört, jeden Tag. In diesen Wochen ist es schwer für unseren Opa. Viele seiner alten Weggefährten sterben, er kämpft mit den Lücken, die sie hinterlassen. Und entschließt sich wieder einmal bewusst für das Leben. Plant ein paar kurze Reisen, lässt die Hörgeräte neu einstellen und lädt sich bei uns zum Kaffee ein. Wir freuen uns. Denn das Leben in all seinem Reichtum zu feiern, anstatt nur seine dunklen Seiten zu lesen, ist manchmal eine Frage des eigenen Entschließens. Das ist das Erbe, das der Opa seinen Enkeln hinterlassen wird. Das ist das Erbe, das ich meinen Enkeln irgendwann schenken möchte.

Sandra Geissler lebt mit ihrer Familie in Nierstein und bloggt unter 7geisslein.wordpress.com.

Zum Dossier-Thema „Das Leben feiern“ gibt es weitere Artikel in der Family 01/2019.

 

Ich gucke einfach nur Löcher in die Luft

Ein Plädoyer für die Langeweile. Von Nicole Schweiger

Auf unserer Terrasse gibt es einen besonderen Platz. Bunt gestreift und mit den Jahren von der Sonne ausgeblichen baumelt von einem Balken des Dachüberstands mein Hängesessel. Vor einigen Jahren hatte ich ihn mir zum Geburtstag gewünscht. Seitdem wird er von allen Familienmitgliedern, von großen und kleinen Gästen geliebt.

Was macht diesen Platz so besonders? Nun, es scheint, als könne man dort in eine andere Welt eintauchen. Eingekuschelt in den Stoff des Sessels schließe ich manchmal die Augen. Sanft schaukelnd lausche ich den Geräuschen um mich herum: Vögel zwitschern, Blätter rauschen, das Klangspiel klirrt im Wind. Manchmal kann man sogar die Frösche von den weiter entfernten Teichen hören. Ich fühle Wind und Sonne auf der Haut, spüre, wie mein Körper sanft hin und her geschaukelt wird. Der Alltag ist ganz weit weg. Ich bin einfach nur da. Manchmal träume ich mit offenen Augen, blicke in das Grün des Gartens und ganz oft zum Himmel hinauf. Sehe den vorbeiziehenden Wolken nach.

Kindheitserinnerungen werden wach: Auf der Wiese liegen mit einem Grashalm im Mund und Figuren in den Wolkenformationen erkennen. Besonders schön ist es auch bei Regen. Dank des Dachüberstands lausche ich geschützt und doch draußen, wie die Regentropfen herunterprasseln, sehe zu, wie die Bäume im Nachbargarten sich im Wind biegen und höre das Grollen des heranziehenden Gewitters. Herrlich! Ich genieße ohne Plan und Verpflichtungen einfach so mein Sein und Gottes Schöpfung für eine kurze oder lange Weile.

OASE IM ALLTAG

Langeweile. Warum ist dieses Wort eigentlich so negativ besetzt? Zu Unrecht, wie ich finde. Ich möchte an dieser Stelle ein Plädoyer für die Langeweile halten, für diese Oase im Alltag: Gönn dir Langeweile! Genieße sie, tanke auf! Und schaffe dir Raum und Zeit dafür. Vielleicht ist das schwierig im Moment mit Kleinkindern, Job und Verpflichtungen. Es muss ja nicht immer eine lange Weile sein. Vielleicht gibt es einen Ort, an den du dich für einen Moment zurückziehen kannst. Auch Rituale im Alltag können hilfreich sein, gerade wenn die Zeiten stressig sind und das Leben um dich tobt.
Längst ist bekannt, dass nicht mehr leistet, wer ständig arbeitet. Oft kommen uns die kreativsten Ideen und Lösungsansätze für Probleme, während wir endlich mal abschalten, nichts tun und unsere Gedanken schweifen lassen. Es gibt etliche Studien, die dieses Phänomen bestätigen. Langeweile – im richtigen Maß genossen – ist konstruktiv.

UNVERPLANTE ZEIT

Kinder sind in ihrer Entwicklung geradezu darauf angewiesen, Zeit zum Nichtstun zu haben. All die Fördermöglichkeiten, die wir unseren Sprösslingen zukommen lassen, sind gut gemeint. Sobald sie auf der Welt sind, wollen wir ihnen das Beste geben und ermöglichen. Und viele unterliegen dabei dem Trugschluss, sie täten das mit der Buchung von Musik-, Sport- und Kreativkursen. Was in einem gesunden Maß nichts Schlechtes ist. Kinder brauchen aber mindestens genauso viel Zeit, die sie unverplant mit sich selbst verbringen dürfen. Nur so, ohne Ablenkung, lernen sie, sich selbst wahrzunehmen und zu verstehen.

Kinder sind gute Lehrer für uns Erwachsene, wenn es darum geht, bewusst im Hier und Jetzt zu leben. Der kurze Weg zum Kindergarten dauert gefühlte Stunden. Es gibt überall interessante Dinge zu entdecken. Die ersten Kastanien sind vom Baum gefallen, aus der Erde schlängelt sich ein Regenwurm, auf der Baustelle steht jetzt ein Kran, die Luft riecht heute so anders. Wann immer es möglich ist, nimm dir die Zeit und staune mit deinem Kind über all das. Es wird dein Leben bereichern, und der Tag beginnt mit einem Lächeln.

Entschleunigung tut gut. In unserer Gesellschaft geht es häufig um Optimierung, Effizienz, Wachstum. In letzter Zeit fällt mir zunehmend eine Gegenbewegung auf. „Kindergartenfrei“ statt „Krippe“, „Sabbatical“ statt „Karriere“, „der eigene Garten“ statt „Fernreisen“. Die Generation um die dreißig scheint umzudenken – „Work-Life-Balance“ wird großgeschrieben. Ich bin nicht in allem ihrer Meinung (bin ja auch vierzig+), verfolge diese Entwicklung aber positiv gespannt. Zeit für Langeweile wird wieder attraktiver.

VON GOTT ÜBERRASCHT

Zurück in meinem Hängesessel. Ich genieße es, hier die Seele baumeln zu lassen. Manchmal gucke ich einfach nur Löcher in die Luft und gehe danach erholt und gestärkt wieder in den Alltag zurück. Manchmal werde ich dabei aber auch von Gott überrascht. Vielleicht dringt er dann einfacher zu mir durch als mitten im Trubel. Jedenfalls haben sich in solchen Langeweile-Momenten schon so manche (Glaubens-)Erkenntnisse den Weg gebahnt, um die ich lange Zeit gerungen hatte. Und auch der Satz „Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe“ (Psalm 62,2) hat eine ganz neue Bedeutung gewonnen.

Nicole Schweiger

 Nicole Schweiger ist Sozial- und Montessoripädagogin und unterrichtet an einer Berufsfachschule für Kinderpflege. Sie wohnt mit ihrer Familie in Lauf a.d. Pegnitz und bloggt unter milchundhonig.jimdo.com über Familie, Pädagogik und Glaubensleben.

 

Weitere Artikel zum Thema „Langeweile“ gibt es in der Family 6/2018.

 

„Wir haben beide unseren Platz gefunden“

Patric Graf ist Hausmann, seine Frau arbeitet Vollzeit. Ein Modell, das sich für sie bewährt hat.

Als meine Frau Kerstin mit unserer heute 18 Jahre alten Tochter schwanger war, war ich für längere Zeit krankgeschrieben. Meine damalige Arbeit konnte ich nicht wieder aufnehmen. Da ich durch meine Arbeitszeiten in der Bäckerei schon von Beginn unserer Beziehung an die Haushaltstätigkeiten überwiegend übernommen hatte und auch gerne koche, kam uns die Idee, die typischen Rollen zu tauschen. Nach der Geburt unserer Tochter und dem gesetzlichen Mutterschutz arbeitete meine Frau wieder zu 100 Prozent in ihrem Beruf als Krankenschwester. Schnell merkten wir, dass ihre Arbeit im Dreischichtbetrieb viele Vorteile für uns hatte: Wir konnten zum Beispiel Kinderarzttermine so legen, dass wir gemeinsam hingehen konnten. Später, als die Kinder im Kindergarten waren, hatten wir als Eltern die Möglichkeit, ohne Kinder etwas zu unternehmen, sei es der Wocheneinkauf oder ein gemeinsames Frühstück in einem Café.

Bei unserem Sohn (15) und unserem Nesthäkchen, unserer achtjährigen Tochter, behielten wir diese Rollenverteilung bei. Seit 13 Jahren arbeite ich zusätzlich auf 450-Euro- Basis in der Systemgastronomie. Ich habe das Glück, dass ich meine Arbeitszeiten dem Dienstplan meiner Frau anpassen kann. Diese Arbeit ist für mich ein Ausgleich zum Hausmannsjob. Ich komme mit vielen Menschen aus verschiedenen Nationen in Kontakt, da unser Betrieb auf einem Autohof an der Autobahn liegt.

Wenn das Kind seine Mama (nicht) braucht

Gegenüber ihrem Chef bei der Bundeswehr muss sich unsere Autorin rechtfertigen, dass sie „nur“ Teilzeit arbeitet. Andererseits hat sie Gewissensbisse, dass sie einige typische „Mama-Aufgaben“ nicht übernehmen kann.

Wie, zwei Jahre Elternzeit? Andere kommen doch auch schon nach einem Jahr zurück in den Beruf!“ Mit dieser Bemerkung meines Chefs fing alles an. Gerade hatte ich meinen Antrag auf zwei Jahre Elternzeit eingereicht, schon musste ich mich das erste Mal für meine Entscheidung, für mein Lebensmodell, für mein Mutterdasein rechtfertigen.

Die zwei Jahre zu Hause habe ich in vollen Zügen genossen. Ich hatte ein sehr entspanntes Kind und konnte unseren Alltag so gestalten, wie man sich das Leben einer Vollzeitmama vorstellt: montags Frühstück mit Freundinnen, dienstags Babyschwimmen, mittwochs Zeit für mich und meinen Sohn allein, donnerstags Kaffeetrinken … Zwei Jahre Auszeit waren genau die richtige Entscheidung für mich, mein Kind, meine Familie.

Doch auch diese Zeit ging vorbei und ich freute mich darauf, wieder zu arbeiten. Im Kindergarten lief die Eingewöhnung super. Mein Sohn geht bis heute sehr gerne dorthin. Dennoch waren die ersten Wochen nicht leicht. Ständig überkamen mich Zweifel: „Ist es so auch wirklich das Beste für mein Kind? Er ist doch noch so klein. Warum tue ich mir den Stress eigentlich an?“

Unsere Freiheit, ganz anders zu leben. Oder auch nicht.

Anja Schäfer plädiert dafür, dass Familien ihren eigenen Weg finden, das Familienleben zu planen – ohne sich gegenseitig kritisch zu beäugen.

Die ältere Dame hob ihre Augenbrauen und blickte mich tadelnd an. Wir waren auf einer christlichen Veranstaltung, hatten geplaudert, und ich erzählte ihr, dass wir unseren zweijährigen Sohn an drei Vormittagen in der Woche zu einer Tagesmutter brachten. Auf dem kleinen Bio-Bauernhof spielte er zwischen Hühnern und Treckern mit drei oder vier anderen Kindern, und mittags holten wir ihn ab. Perfekt, fanden wir. Die ältere Dame nicht. Fremdbetreut in diesem Alter, das hielt sie für entschieden nicht mit dem biblischen Familienmodell vereinbar.

Zwei oder drei Tage später traf ich mich mit Freunden in der Kneipe. Anschließend, vor der Tür, kamen wir auf das damals hochbrisante Thema „Betreuungsgeld“ zu sprechen, das ausgezahlt werden sollte an Familien, die ihre Kinder zwischen null und drei (!) Jahren zu Hause betreuten. Indiskutabel, empörten sich meine Freunde. Relikte alter Rollenbilder. Typisch bayerische Schnapsidee. Und so stand ich da in unserer Runde vor der Kneipe. Erst ein paar Tage zuvor hatte ich mich noch rechtfertigen müssen für unsere liebevolle Tagesmutter. Und hier stand ich mit meinen Freunden, für die es undenkbar war, eine Lebensform staatlich zu unterstützen, bei der Mama oder Papa eine Weile für ihre Kinder zu Hause bleiben. Ich musste fast lachen.

Ganz im Beruf, ganz im Familienalltag

Jan-Martin Klinge und seine Frau Angela teilen sich Erwerbs- und Familienarbeit. Und haben gelernt, wie sie sich trotzdem nicht als Paar verlieren.

Trinken, Papa!“, forderte meine Tochter mich mit ihren zwei Jahren damals unmissverständlich auf. „Wie sagen Erwachsene?“, entgegnete ich. Und man konnte den genervten Unterton in ihrer Stimme nicht überhören, als sie ein enttäuschtes Gesicht machte und mir erwiderte: „Später …“

Heute, viele Jahre später, werden wir von unseren Kindern immer noch und immer wieder in unserem Verhalten gespiegelt. „Wir“, das sind meine Frau Angela (38), Pastorin mit einer 70-Prozent-Stelle und ich, Jan-Martin (35), Lehrer an einer Ganztagsschule, zusammen mit unseren Töchtern Carolina (10) und Amélie (2). Unsere Berufe ermöglichen uns eine wunderbare Aufteilung der Familienarbeit: Ich bin vor allem vormittags unterwegs, kann mir aber die Nachmittage und Abende frei einteilen, während Angela eher in der zweiten Tageshälfte außer Haus ist. Diese Konstellation funktioniert weitgehend reibungslos, und jeder von uns liebt sowohl den beruflichen als auch den familiären Part.

GEMEINSAME ZEIT ERKÄMPFEN
Aber: So großartig die zeitliche Aufteilung der Kinderbetreuung funktioniert, so herausfordernd ist es, sich nicht als Ehepaar zu verlieren. Es gab Zeiten, da haben Angela und ich uns immer nur die Schlüssel in die Hand gedrückt. „Die Kinder sind versorgt, das Essen steht im Ofen – kümmere dich bitte um die Wäsche, und im Wohnzimmer muss dringend staubgesaugt werden!“ Natürlich gibt es so Phasen im Leben, aber wir mussten immer wieder aufpassen, dass sie unsere Ehe nicht zerstörten. Wenn man sich wochen-, manchmal monatelang nicht wirklich sieht, kann aus Familienleben schnell Zweckgemeinschaft werden und man verliert die gemeinsamen Hoffnungen, Träume und Ziele aus den Augen. Job und Kinderbetreuung, Predigtschreiben und Unterrichtsvorbereitung – kann das alles sein? Und während ich als Lehrer zumindest die Wochenenden frei gestalten darf, ist der Sonntag für eine Pastorin ein voller Arbeitstag. So praktisch die Verteilung von Haushalt und Kinderbetreuung ist – gemeinsame Zeit bleibt kaum noch.

„Allein auf weiter Flur“

Julia Strobel hat sich dafür entschieden, Vollzeit-Mama zu sein. Und fühlt sich damit ziemlich einsam.

Vor eineinhalb Jahren saß ich bei einem Kindergeburtstag mit anderen Müttern am Kaffeetisch zusammen, als mich plötzlich ein „Sag mal, bist du wieder schwanger?“ eiskalt erwischte. Nun saß ich da, ziemlich angeschlagen, mit einem Bauch, der nach dem zweiten Kind nicht mehr so recht weichen wollte, und einem Herzen, das sich nach einem weiteren kleinen Menschen in eben diesem sehnte.

Eben saß ich noch entspannt mit einem Stück Maulwurftorte auf dem Teller mitten in dem ganzen Trubel – und im nächsten Moment versuchte ich, die Fassade meines bröckelnden Selbstbilds aufrecht zu erhalten. Die beiden anderen Mütter am Tisch waren überzeugte Ein- Kind-Mamas, die mein erschüttert-knappes Nein mit Erleichterung aufnahmen und gleich mal alle „Vorzüge“ des Mutterseins aufzählten: schlaflose Nächte, fremdbestimmt sein, abends das Haus nicht mehr ohne großen organisatorischen und/oder finanziellen Aufwand verlassen können, Urlaube antreten, die mit dem eigentlichen Sinn (nämlich Erholung) nichts mehr zu tun haben … Die beiden redeten sich geradezu in Rage, und ich fühlte mich mal wieder fehl am Platz. Ich kannte das schon: Ich habe meine beiden Kinder erst zu ihrem dritten Geburtstag in den Kindergarten eingewöhnt, sie besuchen die Einrichtung nur halbtags, mein Mann und ich wünschen uns ein drittes Kind … Gesellschaftlicher Mainstream sieht anders aus.

Der Segen der Wahlfreiheit

Jennifer Zimmermann ist gern mal kämpferische Hausfrau. Und trotzdem stolz auf ihre Mutter, die mit Baby auf dem Arm ihr Diplom machte.

Seit endlos scheinenden Minuten sitze ich fest. Auf dem Spielteppich in unserem Wohnzimmer stapeln sich Töpfe, eine Armada von Holzkochlöffeln umzingelt mich und strahlend hält mir mein Sohn die zwanzigste Tasse Murmel-Suppe entgegen. Zwischen meiner Schulter und meinem Ohr klemmt der Telefonhörer, meinen dreifachen Espresso halte ich fest umklammert, denn jeder Gedanke, den ich fassen will, endet in einem Gähnen. So wundert es mich gar nicht, dass da ein kleiner Funke Neid in mir knistert, als ich höre, wie meine Freundin am anderen Ende der Leitung vom Krippenstart ihres Sohnes erzählt. Um ihren Frust geht es, um die unerschöpfliche Energie eines Einjährigen, die sie dazu brachte, schon früher als geplant wieder arbeiten zu gehen. Und dann wieder mal diese Frage: „Wie machst du das? Wie schaffst du’s nur, zu Hause zu bleiben?“ Und nicht verrückt zu werden, ergänze ich still.

ROMANTISCH VERKLÄRTE VORFREUDE
1986. Meine Eltern hatten einen Plan: Lange schon träumte meine Mutter davon, ihr Abitur nachzuholen, Psychologie zu studieren und als Therapeutin zu arbeiten. Neun Jahre nach der Geburt meiner großen Schwester war sie nun auf dem besten Weg, sich diesen Traum zu erfüllen. Mühsam hatte sie sich neben Kind und Beruf durch die Abendschule gequält, ihr Studium gemeistert, sah das Diplom in Reichweite – und wurde mit mir schwanger. Ein zweites Kind hatte keiner geplant. Für mich hieß das vor allem: Oma-Zeit. Und so sehr ich diese Zeiten liebte, so sehr nagte auch die, mit Worten nicht fassbare, Gewissheit an mir, dass ich etwas Entscheidendes vermisste.

Als ich 2011 mit meinem ersten Kind schwanger wurde, stellte ich deshalb meine Bachelorthesis ins Regal und blieb daheim, obwohl uns das finanziell ans Existenzminimum brachte. Mit romantisch verklärter Vorfreude wartete ich nestbauend auf die heimelige Zeit fern von meinem Beruf in der liebevollen Zweisamkeit mit diesem wunderbaren neuen Menschen. Ziemlich unsanft schlug ich in der Mamarealität auf. Der neue Mensch begegnete mir mit unstillbarem Hunger zu allen Nachtzeiten und schlief ausschließlich auf meinem eigenen zarten Körper. Als ich an meinem ersten Tag allein daheim um drei Uhr nachmittags vor einer endlich aufgetauten Kürbissuppe saß und überlegte, ob ich dringender aufs Klo oder essen musste und just in diesem Moment wieder ein Schreien aus dem Schlafzimmer tönte, brach ich in Tränen aus. Die Unfähigkeit, meinen Sohn zufriedenzustellen, geschweige denn noch irgendetwas anderes zu leisten, traf mich unvorbereitet hart. Bin ich eigentlich noch genug, wenn ich mich einfach nur um mein Kind kümmere und sonst nichts schaffe?

ES REICHT
Bin ich genug? Diese Frage verfolgte mich das ganze erste Jahr hindurch. Besonders eindringlich biss sie sich fest, wenn wieder mal eine Mama vom Krippen- und Arbeitsstart erzählte. Lange begegnete ich dann immer wieder dem kleinen Mädchen in mir, das so gern selbst mehr von seiner Mama gehabt hätte. „Ich kann nicht aus meiner Haut!“, sagte ich oft, mich mit meiner eigenen Geschichte für mein Hausfrauen-Dasein entschuldigend. Aber hier und da tauchte auch eine andere wohlvertraute Stimme in mir auf. Immer mehr konnte ich sehen, dass ich diesen Weg gehe, mitten in einer Gesellschaft, die Leistung und Selbstverwirklichung vergöttert. Heilsame Gott-Gedanken rückten mir die Perspektive zurecht, ganz schlicht: Es geht nicht um mich. Und ich bin genug, begabt, beschenkt, auch wenn mir das Geschenk manchmal verschwimmt vor meinen müden Augen. Ich bin genug, auch wenn ich nichts leiste. Ich bin begabt und diese Begabung verliert nicht an Wert, wenn ich mit ihr meine Kinder, meinen Mann, meine Nachbarschaft beschenke – und ein „nur“ gibt es hier nicht. Es reicht. Dankbarkeit macht sich breit in meinem Herzen, weil mein Aushalten daheim mich diesen Worten näher gebracht hat.

STOLZ AUF DIE MUTTER
Dankbar bin ich aber heute auch für meine Mutter, die eine andere Abzweigung genommen hat. Ich stehe als Frau in einer langen Reihe von Müttern, die nicht immer ihren eigenen Weg gehen konnten. Als mein Vater auf die Welt kam, managte seine Mutter einen Bauernhof, einen dement werdenden Schwiegervater und die Spätfolgen diverser Kriegstraumata. Für ihre zwei Kinder sicherte sie die Existenz und opferte dafür die Zeit mit ihnen. Tapfer ging sie diese Wegstrecke, unter der alle Beteiligten gelitten haben. Sie hatte keine Alternative. Es tut mir gut, hin und wieder diesen Blick über die Schulter zu üben, zu merken, dass Wahlfreiheit nicht selbstverständlich ist. Und neben dem kleinen Mädchen in mir gibt es dann eine erwachsene Frau, die stolz ist auf ihre Mutter, die mit dem Säugling auf dem Arm für die Diplom-Prüfung gelernt, mutig den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt und sich mitten durch das Gestrüpp einer Gesellschaft gekämpft hat, die von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht viel wissen wollte.

TIEFER GRABEN
Das kleine Mädchen in mir verkleidet sich, nebenbei bemerkt, immer mal wieder als kämpferische Hausfrau, die plakativ den Wert der Daheimgebliebenen hochhält. Nur der Blick auf meine Geschichte holt mich immer wieder von meinem Thron des Schwarz-Weiß-Denkens herunter. Es gibt mehr als gute Hausfrauen und Rabenmütter. Und egal, wie meine Freundin sich entscheidet, ich will ihr eine Weggefährtin sein. Heute dürfen wir unseren Weg wählen. Da möchte ich ihr Mut machen, tiefer zu graben durch die vielen Schichten von Rollenbildern und Gesellschaftserwartungen hindurch. Ich will sie in ihrer einzigartigen Familiensituation ernst nehmen. Will ihr von meinem eigenen, ganz normalen Frust erzählen. Will sie betend umhegen, auf dass sie und ihr Mann den Weg finden, den sie mit ruhigem Herzen gehen, auf dem sie die Aussicht genießen können. Und ich will wertschätzen, was sie leistet, ganz egal, welche Abzweigung sie wählt.

Unser Gespräch wird unterbrochen, als mein Sohn arrhythmisch auf einen Topf einschlagend beginnt, Backe- Backe-Kuchen zu singen. „Wie machst du das?“, fragt sie mich noch. „Ich mache ja gar nichts!“, brülle ich lachend. Jennifer Zimmermann ist Sozialarbeiterin und derzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Bad Homburg.

NÄHE UND NEID IN DER NACHBARSCHAFT

Nachbarn – ein Begriff, der ganz unterschiedliche Emotionen in uns weckt. Zu jedem Buchstaben dieses Wortes hat Melanie Schüer einen Aspekt näher beleuchtet.

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