Wunderschön

Uns mit unseren Schwächen und Beeinträchtigungen als schön anzunehmen, fällt uns nicht immer leicht. Was unserer Autorin geholfen hat: ganz besondere Fotos …

Mein rechtes Knie schmerzt. In meinem Kopf geht ein kleines rotes Alarmlämpchen an. Überbelastung. Die rechte Körperseite muss die linke mittragen. Die Hemipareseseite. Die schwache Seite. Der Grund: eine vorgeburtliche Schädigung meiner rechten Gehirnhälfte (Fachbegriff: Infantile Zerebralparese). Ich hatte Glück. Nur selten fragt jemand, warum ich hinke.

Das Tippen ist ein .Äegernis. Denn es sieht so aus. Der linke Zeeigedfibnger haut mirt eine Menge fehler rein.

„In Ihrem Alter …“

Mein Orthopäde ist gründlich: linker Oberschenkel 7 cm weniger Umfang, linker Unterschenkel 4,5 cm, linker Arm 4 cm kürzer. Deshalb Beckenschiefstand, Wirbelsäulenverkrümmung, Schulterschiefstand. Er hält kurz inne. „Keine Sorge. Sie sind nicht schwer krank.“ Dann sagt er: „Beim jungen Körper ist alles noch sehr dehnbar und beweglich. Da gleicht der Körper das aus. In Ihrem Alter …“ Ich bin 32 Jahre alt. Auf dem Nachhauseweg kommt mir ein Seniorenpaar entgegen. Die Dame sitzt im Rollstuhl. Das Kopfkino startet.

Zersprungen

Ich starre auf die zersprungene Glastür unserer Dusche. Hunderte Scherben werden durch das Sicherheitsglas nur noch auf fragile Weise zusammengehalten. Es war mitten in der Nacht, als wir durch ein lautes Geräusch geweckt werden. Der Handwerker meint, das sei ein seltener Fall, ähnlich wie bei Holz, das arbeitet. Bis er kommt, bleibt uns fünf eine Woche Gäste-WC und Nachbarschaftshilfe. So lange hält mir die zersprungene Tür einen Spiegel vor Augen für mein Innerstes, mein Selbstbild. Eine Freundin bringt das Gefühl auf den Punkt: „Behinderung auf Abruf“.

Ganz kleine Schritte

Nach dem allmorgendlichen „Ich will aber nicht zuerst die Zähne putzen“, „Bitte zieh jetzt endlich die Schuhe an“ und meinem Sieben-Uhr-Mantra im Treppenhaus „Pssssssssssst!“ sitze ich neben dem leeren Kinderwagen auf der Treppe zur Ergotherapie und überlege, was mich wohl erwartet. 20 Minuten lang, weil ich die erste und viel zu früh bin. Weil auch beim dritten Kind unvorhersehbar bleibt, wie viele Windeln sich unversehens füllen, wenn man gerade aus der Tür will. Und wie viele Feuerkäfer auf dem Weg zum Kindergarten noch gejagt werden müssen. Heute haben sie sich gut versteckt. Dann folgt die Ernüchterung. Ganz kleine Schritte, Geduld und üben, üben. Ich könnte zu Hause kleine Bälle suchen und mit den Kindern zusammen üben, schlägt die Ergotherapeutin vor. Oh ja, male ich mir aus: Der Kleine schreit freudig „Balla, Balla“ und stürzt los. Der große Bruder ist aber schneller. Der Fokus liegt dann eindeutig auf einem anderen Schwerpunkt im Nervensystem, nämlich da, wo die Nerven einer Mama am besten Drahtseilstärke erreichen sollten.

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„Wie wunderschön. Das bin ich!“

Es tut weh

Nach langer Sommerpause beginnt die Erkältungszeit. Erst wird der ältere Sohn krank. Dann folgt der jüngere. Und dann ich. Ein einfacher grippaler Infekt. Doch auch dafür fehlt mir die Kraft. Und dann passiert es. Da war auf einmal diese Wut. „Die Mama hat sich auf den Kopf gehauen“, sagt mein Sohn und lacht unsicher. Als die Kinder schlafen, schließe ich die Arme fest um meinen Mann. So stehen wir eine ganze Weile schweigend. Weil ich gelernt habe, dass es mit meinen Gefühlen schwer ist für meinen Mann, ringe ich mir die Worte ab: „Es ist ein Gefühl, das so weh tut in der Brust.“ Nun wird er aktiv und richtet unsere Kuschelecke (weil der Jüngste in unserem Bett schläft). So lange schaue ich mir Fotos an. Aktfotos. Nur drei Wochen ist das her. Es kommt mir vor wie aus einer anderen Welt.

Wunderschön

Als ich unsere Fotos betrachte, bleibt mein Blick bei meinem Gesicht hängen: Wie entspannt. Wie glücklich. Wie verliebt. Wie wunderschön. Das bin ich! Das habe ich Dana, der Stylistin, zu verdanken. „So schöne Augen hast du. Und solche Wimpern. Viele tun viel dafür … Toll, dass ihr euch das traut. Aus welcher Richtung kommt ihr denn?“ „Theologie“, sage ich. Und Dana völlig gelassen „Spannend, erzählt …“ Als ich die Fotos zum ersten Mal betrachtete, dachte ich: Wahnsinn, was das Spiel mit Licht und Schatten bewirkt. Einzelne Fotos sind so „perfekt“ wie in einem professionellen Kalender. Mit meiner Realität hat das wenig zu tun. Ist das nicht eine „Beschönigung“, wie wir sie überall in der digitalen und realen Welt erleben? Nein, denke ich. Es ist nicht so, dass etwas wegretuschiert wäre. Wenn ich ganz nah herangehe, sind da immer noch meine Asymmetrien, meine blassen und meine Sonnenseiten. Sie treten im Lichtspiel aber in den Hintergrund, machen den Blick frei. Es ist für mich eine ganz persönliche Umkehrung der Paradieserfahrung. Als ich mich so nackt sah, erkannte ich: Ich bin wunderschön.

Spieglein, Spieglein an der Wand …

Die Schönste will man ja gar nicht sein. Aber wenigstens stilvoll, hübsch, elegant, attraktiv … Doch was tun, wenn die Bilder im Kopf nicht zum Bild im Spiegel passen? Und wenn die Schwangerschaften Spuren hinterlassen haben – wie bei Jennifer Zimmermann?

„Darf man gratulieren?“ In den letzten fünf Wochen haben mir fünf Menschen unabhängig voneinander diese Frage gestellt. Ich möchte ein T-Shirt haben, auf dem „Nein, darf man nicht!“ steht. In Großbuchstaben. Quer über meinen Bauch. Der ist nämlich nach dem dritten Kind nicht mehr, was er mal war. Die Neun-Monate-Marke, nach der der Körper sich angeblich von der Schwangerschaft erholt hat, ist seit über einem Jahr verstrichen. Aber vielleicht muss man das nach mehreren Schwangerschaften auch individuell berechnen. Rational betrachtet kann ein Körper nach der Beherbergung von drei kleinen Menschen nicht mehr so aussehen wie davor. Und trotzdem kann mich dieser Satz an einem besonders trüben Tag zum Weinen bringen. „Darf man gratulieren?“

Beim Frausein versagt

Ich bin überfordert von dieser Aufgabe namens „Frau sein“. Ständig scheint es darum zu gehen, das Leben möglichst stilvoll über die Bühne zu bringen. In den richtigen Klamotten möglichst lässig dazustehen, pickel- und faltenfrei und mit rasierten Beinen. Es scheint diese Frauen zu geben. Ich sehe sie, wenn ich mit ungekämmten Haaren zum Bäcker stolpere und sie gebügelt und gestylt an mir vorüberziehen. Oder wenn sie mir in knallengen Sporthosen winkend entgegentraben. Wider besseres Wissen ziehe ich Vergleiche und verliere jedes Mal. Wenn es beim Frausein darum geht, sich möglichst gut zu präsentieren, möglichst knackig zu bleiben und möglichst genau zu wissen, was mir steht, dann habe ich schlicht und ergreifend versagt.

Regenbogensocken unter Miniröcken

Wenn ich als Teenager meine Mutter anbettelte, mir die teure Markenjeans zu kaufen, weil ich so unbedingt dazugehören, so dringend in die Masse passen wollte, dann sagte sie jedes Mal etwas, das ich ziemlich schwer zu verdauen fand: „Ich wünsche mir nicht für dich, dass du so aussiehst wie alle anderen. Ich wünsche mir, dass du selbst kreativ wirst.“ Ich habe sie dafür brennend gehasst. Ungefähr ein Jahr lang. Dann wurden unsere Schulklassen neu gemischt und ich hatte das unfassbare Glück, auf eine Gruppe von Mädchen zu treffen, die genau das zu ihrem Lebensmotto gemacht hatten.

Sie trugen Regenbogensocken unter Miniröcken. Sie nähten ihre Klamotten selbst. Sie färbten sich ihre Haare in blau und grün und rosa, und sie schnitten sie sich gegenseitig, wenn sie einen Mutanfall hatten. Manche belächelten sie. Sie passten nicht dazu, und sie hatten entschieden, das nicht zu ändern. Sie standen zu sich. Sie waren kreativ statt Einheitsbrei. Sie taten das, was Teenies tun sollten. Sie spielten mit dem Begriff Schönheit, mit Farben und Ideen, um sich besser kennenzulernen. Ich verstand, warum meine Mutter die immer gleichförmige, glattgebügelte Masse der markenjeanstragenden Mädchen nicht mochte. Diese Mädchen hier waren bunt und laut und lustig und echt. Und sie scherten sich einen Dreck darum, was andere von ihnen hielten.

Überall pickelfreie Frauen

Irgendwann zwischen der siebten Klasse und meinem ersten Kind scheint mir dieses Wissen abhanden gekommen zu sein. Fast ist es, als legten sich täglich neue Bilder in meinen Kopf. Bilder, die dichter sind als meine lachenden Teenagererfahrungen. Jeden Tag blättern sich Fotos von rasierten Beinen und lackierten Nägeln, von hautengen Jeans und straffen Bäuchen in unsere Seelen. Wir müssten schon Einsiedler werden, um das zu verhindern. Jedes noch so harmlose Bild in jedem noch so neutralen Artikel zeigt eine pickelfreie Frau mit farblich abgestimmten Klamotten. Keine ungeschminkte Mutti mit Jogginghose, die ihre schreienden Kinder vom Spielplatz nach Hause schleift.

Ich weiß nicht, wie lange wir es schon tun, aber wir Menschen erschaffen konstant Bilder von uns, denen wir im wahren, turbulenten, langweiligen, bunten Leben nie standhalten können. Es ist, als fügten wir uns selbst Schmerzen zu. Wir sind zu einer sich selbst verletzenden Gesellschaft geworden, und das betrifft längst nicht mehr nur Frauen, auch wenn unsere Geschichte mit diesem Thema schon ewig zu sein scheint.

Ungefragte Ratschläge

Die Schönheitsindustrie hat ein ganzes Waffenarsenal anzubieten, mit dem wir uns selbst, diese langweiligen, manchmal stinkenden, pickeligen, strähnigen Alltagsmenschen, die wir eigentlich sind, bekämpfen können. Sie eröffnet mir jeden Tag unendlich viele ungefragte Ratschläge, wenn ich mein Smartphone entsperre und den Internetbrowser öffne. Und ich ziehe meinen Kopf ein und lasse die Schläge über mich ergehen. Wenn deine Haare nicht so glänzen wie die von deiner Nachbarin, dann hast du wohl die falsche Bürste oder nicht hundertmal gebürstet. Wenn dein Teint nicht strahlt, solltest du eine Kosmetikerin besuchen. Oder diese Creme kaufen. Oder eine Typberatung machen. Je tiefer ich mich in diesen Dschungel der Must-dos wage, desto dunkler wird es um mich herum und desto ängstlicher und vorsichtiger schleiche ich voran. In meinem depressiven Gedankenkarussell steht mir immer wieder der britische Autor Matt Haig zur Seite, der seine weise Sicht auf eine chaotische Welt mit mir teilt. „Wie verkauft man Antifaltencreme? Indem man Menschen Angst vor Falten macht“, schreibt er und bringt mich zum Grübeln. Was würde passieren, wenn wir keine Angst mehr hätten, nicht hübsch zu sein? Was wäre, wenn wir nicht mehr darüber nachdenken würden, ob wir genug sind?

Nie genug?

Etwas, das die Schönheitsindustrie uns nicht sagt, ist, dass es einen Unterschied gibt zwischen „hübsch“ und „schön“. Jes Baker, eine US-amerikanische Schriftstellerin, die sich für ein positives Körperbild („Body Positivity“) einsetzt, beschreibt den Begriff „hübsch“ als ein „von Unternehmen fabriziertes physisches Ideal, das vermittelt, dass man nie genug ist, bevor man es nicht erreicht hat“. Nie genug. Das beschreibt mein Lebensgefühl im Moment sehr gut. Es beschreibt das Gefühl, das ich habe, wenn ich aus der Dusche steige und die Bilder in meinem Kopf nicht zu dem Bild in meinem Spiegel passen. Die Haut an meinem Bauch, die drei Kindern Platz gemacht hat und dabei eingerissen ist, erscheint gegen die glatte Haut auf den Werbeplakaten des Modeschweden wie eine Kraterlandschaft. Hübsch, sagt mein Kopf, ist das nicht, was ich da im Spiegel sehe.

Wenn ich meinen Schöpfer frage – den Gott, der sich nicht nur meinen Körper ausgedacht, sondern auch die Kinder in meinem Bauch mit unvorstellbarer Freude willkommen geheißen hat – wenn ich ihn frage, dann sagt er sicherlich auch nicht „hübsch“ dazu. Der allmächtige, allwissende, liebende Gott wird mir zu keinem Zeitpunkt meines Lebens sagen, dass ich hübsch bin. Nicht mit sechzehn und nicht mit sechsundneunzig. Er wird mir nie sagen, dass ich aussehe wie die Supermodels auf den Hochglanzplakaten. Und ich möchte niemals anfangen, meine selbstverneinenden fremdbestimmten Vorstellungen von einem Frauenkörper mit seinen Maßstäben gleichzusetzen. Gott hat einen besseren Begriff für das, was er sieht, wenn ich aus der Dusche steige: schön!

Schrumpelhagebutte und Bauchspeck

Gottes „Schön“ muss etwas ganz anderes sein als das glattgebügelte „Hübsch“ der Plakate. Es könnte vielleicht dem ähneln, was ich in den bunten, lauten Mädchen meiner Teenagerzeit gefunden habe. Sicherlich ist es ein lebendiges „Schön“, eines, das dem wahren Leben standhält. In der Natur kann ich das am besten begreifen. Ich kann die überbordend duftend blühende Rose in meinem Garten ebenso schön nennen, wie die Heckenrose, über deren schrumpelige Hagebutten sich die Vögel freuen. Ich kann die Weinbergschnecke mit ihrem faszinierend strukturierten Haus schön nennen und die geheime Choreografie einer Ameisenstraße. Gottes „Schön“ lebt. Es atmet. Es verändert sich mit den Jahreszeiten des Lebens. Pflanzen, Tiere, Menschen, die ihr Wesen nach außen tragen, sind schön. Schneckenschleim, Schrumpelhagebutte oder Bauchspeck inklusive.

Er bleibt beim Schön

Unter Gottes Blick darf ich atmen. Darf dieses „Schön“ mich leise streifen lassen wie der Wind im Mai das frische Grün so tröstlich rascheln lässt. Ich muss ihm nicht glauben, dass er mich schön findet. Vielleicht fühle ich mich heute wie die graueste Maus von allen. Er zwingt mich nicht dazu, meine Meinung zu ändern. Aber er bleibt bei seinem „Schön“, so sicher, wie der Maiwind vom Beginn des Sommers erzählt. Heute bin ich einfach nur still und lausche auf den Wind. Vielleicht fange ich dann langsam wieder an, mich in meinem Körper zu Hause zu fühlen. Vielleicht erinnere ich mich wieder an meine kreative Freiheit. Daran, dass bunte Socken gute Laune machen und dass Farben, die mir eigentlich nicht stehen, manchmal meiner Seele guttun. Dass es Spaß macht, roten Lippenstift zu tragen, nur um den Müll rauszubringen. Und dann passiert vielleicht das Wunder. Nicht, dass ich mich endlich wunderschön fühle, sondern dass ich mich selbst vergesse. Dann entscheide ich, um was ich mich drehen möchte. Womit ich meine Lebenszeit füllen möchte. Und es wird weder mein Teint noch mein Bauch sein.

Wenn ich wählen kann, für was ich im Leben kämpfen möchte, wähle ich weder meine Frisur noch meinen Farbtyp. Ich wähle Liebe. Freundschaft. Sommernächte. Blätterrascheln. Schneeknirschen. Ich wähle die Sehnsucht nach Schönheit, die ich nicht mit Online-Shopping stillen kann. Ich bin auf dem Weg dorthin. Ich werde noch eine Weile meine Wunden lecken und vielleicht noch einmal weinen, wenn ich das nächste Mal gefragt werde, ob man gratulieren darf. Aber vielleicht kaufe ich dann einfach doch das T-Shirt. „Nein, darf man nicht!“. Jetzt eben zwei Nummern größer.

Family-Autorin Jennifer Zimmermann lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bad Homburg. Vor kurzem ist ihr erstes Buch erschienen: „Als Gott mich fallenließ. Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm“ (SCM R.Brockhaus).

Mut zum Mittelmaß

„Jeder Mensch ist etwas Besonderes“ – diese Botschaft, die wir oft an unsere Kinder vermitteln, kann motivieren. Aber sie kann auch gewaltig nach hinten losgehen. Von Jennifer Zimmermann

Mein Sohn zählt Klavier. Er hat damit kurz nach Beginn des ersten Schuljahres angefangen, als die obligatorischen Einladungen für die Probestunden der Musikschule in der Ranzenpost lagen. Ich würde nie wagen zu schreiben, dass er Klavier lernt. Oder gar spielt. Es wäre einfach nicht wahr. Alle zwei Tage begibt er sich planmäßig an sein Instrument. Dann wanken diese tastenden, manchmal qualvoll schleichenden Töne von „Summ, summ, summ“ durch die Wohnung, die auch ich schon vor 25 Jahren auf meiner Kindergitarre fabriziert habe. Und dazwischen kann man ihn flüstern hören. 1, 2. 1, 2, 3.

Musizieren nach Zahlen

Mein Sohn liebt Musik, denn Musik hat Regeln. Man kann Pausen abzählen und wichtige Worte auswendig lernen. Es gibt einen Takt und einen Notenschlüssel und wirklich viele Zahlen. Man könnte sagen, es ist genau sein Ding. Mein Sohn ist nur wirklich kein leidenschaftlicher Musiker. Es ist ihm relativ egal, wie das Instrument klingt, das er spielt. Wie der Text des Liedes ist. Ob es irgendeine Stimmung mit sich trägt. Irgendein Temperament. Egal. Mein Sohn zählt.

Keine Musik im Blut

So hatte ich mir das mit dem ersten Instrument nicht vorgestellt. Ich persönlich arbeite mehr „nach Gefühl“. Das gilt für alle Lebensbereiche. Als also der obligatorische Zettel mit den Probestunden in der Ranzenpost lag, da dachte ich an leuchtende Musiklehreraugen, an Worte wie „Naturtalent“ und „Überflieger“, an Talentwettbewerbe. Jetzt sitze ich hier im Wohnzimmer, höre „Summ, summ, summ“ im Schneckentempo und fühle mich, als wäre ich im Sport als Letzte in die Völkerballmannschaft gewählt worden. Warum? Weil mein Sohn zwar ein begeisterter Mathe-, aber ein ziemlich durchschnittlicher Musikschüler ist.

Irgendwann zwischen dem letzten Weltkrieg und dem ersten Social-Media-Account sind wir westlichen Gesellschaften auf die Idee gekommen, dass Selbstbewusstsein eine wirklich wichtige Sache für unsere persönliche Entwicklung sein muss. Für unseren Erfolg. Unsere Leistungsfähigkeit. Wir haben uns auferlegt zu denken, dass jeder von uns etwas ganz Besonderes ist. In vielfacher Hinsicht.

Sehnen nach dem „Ah“ und „Oh“ der anderen

Wir wachsen mit der Vorstellung auf, dass sich tief in unserem Inneren ein ganz eigenes Leuchten verbirgt wie die Perle in der Auster. Es braucht vielleicht nur die richtigen Umstände, den richtigen Anreiz, um die Auster zu knacken und dieses Leuchten an die Oberfläche zu bringen, damit es über die ganze Welt strahlt. Wir lechzen nach dem „Ah“ und „Oh“ der anderen, die unser Leuchten in ihren Augen widerspiegeln. Wir sagen es uns selbst, wir sagen es jedem Menschen, der es gerade vergessen hat. Sogar unseren Kindern.

Für jeden Menschen gibt es den richtigen Beruf, in dem seine besonderen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen. Jeder Mensch ist zu Großem berufen. Vielleicht sogar von Gott. Jedes Kind hat ein Talent. Es gibt das richtige Instrument für jeden Erstklässler. All die zu oft gehörten Motivationssätze, sie fangen an, mich gewaltig zu nerven. Denn sie behalten ihre motivierende Wirkung nur so lange, bis wir uns an ihrer Grenze gewaltig die Zehen stoßen. Der Autor und Coach Mark Manson schreibt es laut und geradeheraus: „Die Botschaft schmeckt super, wenn man sie runterschluckt, aber im Grunde sind es leere Kalorien, von denen man nur emotional fett und aufgeblasen wird, der sprichwörtliche BigMac für dein Herz und Hirn.“

Keine Wettkampfbilder

Ich habe meine Gitarre an den Nagel gehängt, als ich feststellte, dass ich zwar viel Rhythmus im Blut, aber wenig Lust zum Üben hatte. Und keinerlei Sinn für Musiktheorie. Ich habe Sozialarbeit studiert, nicht weil meine Fähigkeiten in einer helfenden Tätigkeit am besten zur Geltung kommen, sondern weil ich, um ehrlich zu sein, ein kleines Helfersyndrom in meiner Handtasche versteckt halte. Meine Facebook-Chronik ist ziemlich langweilig. Ich bin in der Elternzeit nicht um die Welt gereist. Es gibt keine Bilder von mir und meinen Kindern im Partnerlook. Keine Wettkampfbilder von meinem so sportlichen Nachwuchs. Keine extrem emotionalen Bekundungen meiner Liebe zu meinem Mann.

Nichts Besonderes

Mein Leben ist ziemlich durchschnittlich. Das meiner Kinder auch. Sie jetten nicht von einem Termin zum nächsten. Sie räumen keine Preise ab. Können sie auch gar nicht, weil sie nämlich ständig krank sind. Irgendwann auf meiner Reise durch das Leben habe ich festgestellt, dass die allermeisten Menschen auf dieser Welt keine Naturtalente sind. Dass die allermeisten Menschen auf der Welt in einem Moment großartig sind und im nächsten wirklich furchtbar. Dass sie glänzen und im Dreck liegen. Dass sie, kurz gesagt, wirklich nichts Besonderes sind. Und dass ich dazugehöre.

Vom Versagen zur Erleichterung

Aber jedes Mal, wenn ich es wage, so ehrlich zu mir zu sein, dann fühlt sich das an wie Sterben. Wie, wenn ich jemandem meine schlaflose Nacht mit dem rotznasigen Kind haarklein darlege, demonstrativ Kaffeedampf inhaliere und lediglich ein „Normal“ zu hören bekomme. Wie, wenn ich auf einer Party den Witz meines Lebens reiße und keiner lacht, manche nur verlegen auf ihre Schuhe gucken. Sich einzugestehen, dass man überwiegend so normal ist wie die allermeisten Menschen auf diesem Planeten, sich seine eigene Großartigkeit abzuerkennen, ist schmerzhaft. Peinlich. Kränkend. Und befreiend. Weil endlich pfeifend die Luft aus dem Ego entweicht, die mir die ganze Zeit aufs Herz gedrückt hat. Es fühlt sich kurz an wie Versagen. Und dann muss man schrecklich über sich selbst lachen.

Geduld statt geniale Pläne

Ich wünsche mir für meine Kinder nicht, dass sie möglichst viel und möglichst großartige Leistung erbringen. Dass sie ihre Berufung finden, auf den Bühnen dieser Welt stehen und dabei ihren unverwechselbaren Stil präsentieren. Was ich mir wirklich wünsche, ist, dass meine Kinder Menschen werden, die sich selbst vergessen können. Dass sie aufgehen können in einer Tätigkeit. Dass sie Zeit haben, unverplante Zeit, in der ihnen etwas wichtig werden kann und seien es Zahlen – auch wenn ich das am wenigsten verstehen kann. Ich wünsche ihnen, dass sie Geduld lernen. Ich wünsche ihnen, dass sie sich unterbrechen lassen in ihren vermeintlich genialen Plänen. Dass sie von ihrer eigenen Großartigkeit absehen, um einem anderen Menschen Platz zu machen, um jemanden ausreden zu lassen, jemanden zu halten, der weint.

Eine Revolution des Weniger

Ich wünsche mir eine Revolution des Weniger. Eine Revolution der Ruhe gegen den Zeitgeist, der mit seinen ständigen Erinnerungen und bimmelnden ach-so-wichtigen Nachrichten an meinem Hosenbein zuppelt und mich und meine Familie zur Hektik ruft. Der uns heiser ins Ohr wispert, dass wir irgendetwas verpassen, irgendetwas falsch machen, irgendeine Chance ungenutzt lassen und versagen, weil wir nur mittelmäßig sind. Dass wir uns einfach noch nicht genug angestrengt haben, unser inneres Leuchten zu finden und die Anerkennung zu kassieren, die uns zusteht.

Es braucht Menschen, die leidenschaftlich lieben

Die Welt braucht nicht unbedingt noch mehr leidenschaftliche Klavierspieler. Aber sie braucht unbedingt noch mehr Menschen, die leidenschaftlich lieben. Mitten im „Normal“ des Alltags. Menschen, die in die Politik gehen, weil sie sich dafür einsetzen wollen, dass die Autos auf der Hauptstraße nicht mehr länger den Gehweg zuparken. Menschen, die sich von ihren pubertierenden Kindern stundenlang alle wichtigen YouTuber zeigen lassen. Menschen, die ehrenamtlich verletzte Fledermäuse aufpäppeln. Menschen, die ein Foto von ihrem Samstagnachmittagsesstisch schießen, von ihren stinkenden verwelkten Blumen und der Plastikverpackung vom Fertigkuchen und damit Instagram unsicher machen.

Leid lässt uns reifen

Es gibt beeindruckende Menschen, wirklich mutige, charakterstarke, tiefvertrauende Menschen, die genau deshalb so besonders sind, weil sie sich kein bisschen dafür interessieren, welches Instrument ihnen am besten steht. Es gibt sie in allen Altersklassen. Oft sind sie durch Leid, Verluste und Fehler hindurchgegangen. Sie haben erlebt, dass das Leben weh tut. Dass es traurig ist. Dass es langweilig ist. Dass es in Hochs und Tiefs verläuft. Dass es konfliktreich ablaufen kann. Und dass das alles nicht nur nicht zu ändern, sondern auch ziemlich okay ist.

Einfach Mensch sein

Wenn unser Leben nicht nur aus Hoch-Zeiten und Highlights, aus wehenden Haaren im Sonnenuntergang und leuchtenden Kinderaugen besteht, dann sind wir so, wie jeder andere Mensch auf dieser Welt. Wir sind Menschen. Wir gehören zu dieser handgemachten, verrückten, grausamen, liebenswerten Truppe, die diese Erde bevölkert. Das ist eine Ehre. Unser Leben wird nicht wertvoller, weil wir den Talentwettbewerb gewonnen haben. Weil wir etwas ganz besonders gut können. Oder ganz besonders große Probleme haben. Wir sind Menschen. Gottes Menschen. Das ist alles.

Jennifer Zimmermann lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bad Homburg. Gerade ist ihr erstes Buch erschienen: „Als Gott mich fallenließ. Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm“ (SCM R.Brockhaus).

Misch dich ein!

Wenn Christen Verantwortung übernehmen, verändert sich die Gesellschaft. Ein Plädoyer von Uwe Heimowski.

Es war an einem Sonntagmorgen. Ich stand unter der Dusche. Meine Tochter klopfte an die Kabine. „Papa, ich muss dich mal was fragen“. Ich drehte das Wasser ab, wischte die beschlagene Scheibe frei und sah sie an. „Hallo Schatz, was gibt’s?“ Sie nestelte ein wenig an ihrem Schlafanzug, bevor sie ihren Satz formulierte. „Papa, heute ist doch die Wahl.“ Wir hatten zu dieser Zeit eine Jugendpastorin in unserer Gemeinde angestellt, meine Töchter waren ziemlich begeistert von ihr. Heute sollte nach einer Probezeit über eine feste Berufung abgestimmt werden. „Ja, heute ist die Wahl.“ Sie suchte die richtigen Worte. „Darf da jeder abstimmen?“ Baptistengemeinden sind Kongregationalisten, die Mitgliederversammlung (englisch „congregation“) ist das höchste Gremium. „Ja“, antwortete ich, „jedes Mitglied hat eine Stimme.“ Meine Tochter war noch nicht fertig. „Muss man seine Wahl auch begründen?“ „Nein, die Wahl ist geheim, jeder kann wählen, wie er möchte.“ Jetzt war Talitha entrüstet: „Aber das ist doch gemein. Dann kann man ja auch gegen sie stimmen, nur weil man sie nicht mag. Das ist doch kein Argument!“ Sie stampfte mit dem Fuss und rauschte aus dem Badezimmer. Völlig perplex (und ziemlich stolz) ließ sie mich in der Dusche zurück. Was für eine messerscharfe Analyse! Und das von einer gerade mal Zehnjährigen.

RÜCKZUG IN DIE SCHMOLLECKE

Die Begebenheit liegt etwa sieben Jahre zurück. Damals war von „Merkel muss weg“ noch keine Rede. Im Gegenteil: Noch 2013 ist mancher CDU-Kandidat auf „Mutti-Ticket“, also mit Kanzlerinnen-Bonus, in den Bundestag eingezogen.

Seither hat sich unser Land verändert. Nicht nur durch die Flüchtlingskrise. Seit 2009 arbeite ich im politischen Berlin, zunächst als Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten, seit Oktober 2016 als politischer Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz. Ich habe also einen ganz guten Überblick, würde ich sagen.

Und mir fällt auf: Immer mehr Menschen verhalten sich so, wie Talitha es bei der Wahl in der Gemeinde befürchtet hatte: Statt sich eine fundierte Meinung zu bilden und das Beste für das Gemeinwesen zu suchen (wie es der Prophet Jeremia fordert: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn“, Jeremia 29,7), schließen sie sich der Anti-Fraktion an: Sie schimpfen auf „die da oben“, sie verbreiten Halbwahrheiten, und häufig vergreifen sie sich im Ton, insbesondere in den sozialen Netzwerken. Gleichzeitig ziehen sie sich in ihre jeweilige Schmollecke zurück, statt politisch aktiv zu werden.

ABSAGE ANS MECKERN

Auch bei Christen lässt sich das beobachten. Sie beklagen den Verfall christlicher Werte in der Politik, überlassen aber anderen das Feld – doch warum sollte ein Nichtchrist christliche Werte befördern? Das müssen wir schon selbst tun. Man kann beklagen, dass das „C“ in der CDU nur noch Makulatur sei, wenn diese eine „Ehe für alle“ zulasse. Man kann lamentieren, dass statt der Erziehungsleistung einer Mutter nur noch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Agenda der Politik bestimme. Und so weiter und so fort.

Doch gilt nicht bei all dem immer: Wer nicht handelt, wird behandelt? Wenn Christen die Welt nach Gottes Maßstäben mitbestimmen wollen, dann sollten sie Verantwortung übernehmen. Die Bibel fordert uns an vielen Stellen dazu auf. Nehmen wir etwa die so genannte Goldene Regel, in der Jesus sehr klar formulierte: „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen zuerst.“ (Matthäus 7,12). Das ist eine überdeutliche Aufforderung zu pro-aktivem Handeln und damit eine Absage ans Meckern oder daran, von anderen zu fordern, was wir selbst nicht zu geben bereit sind. Jesus sagt: Wartet nicht darauf, dass andere euch etwas Gutes tun. Fangt ihr damit an. Liebe Christen, seid aktiv, gestaltet, stellt euch an die Spitze, wenn es darum geht, etwas für das Wohl der Menschen und der Gesellschaft zu tun.

DER AUFTRAG DER CHRISTEN

Mag sein, dass wir für unsere Positionen nicht sofort Mehrheiten finden. Aber das darf uns nicht hindern. Jeder, der schon mal Hefekuchen gebacken hat, weiß: Die Hefe ist mengenmäßig nur ein kleiner Teil der Zutaten, aber sie wird buchstäblich in den gesamten Teig „hineingemischt“. Sich einmischen: das ist ein sehr naheliegendes Bild, wenn Christen sich die Frage stellen, ob sie sich politisch engagieren sollen. Jesus selbst hat dieses Bild gebraucht: „Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? Es gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Scheffel Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war“ (Lukas 13,20f).

Der Auftrag der Christen, und das macht Jesus an vielen Stellen deutlich, ist es, das Evangelium vom Reich Gottes auszubreiten. Das tun wir, indem wir vom „König“ dieses Reiches reden: von Jesus, dem Sohn Gottes, unserem Retter und Herrn. Und wir tun es ebenso, indem wir aktiv für Recht und Gerechtigkeit wirken, indem wir mutig Frieden stiften, wo Unfrieden und unbarmherzige Zustände herrschen; wir tun es, indem wir Freude ausbreiten, also für ein gesellschaftliches Klima der Dankbarkeit und Zufriedenheit einstehen. „Denn das Reich Gottes ist … Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geiste“, schreibt Paulus (Römer 14,17).

Unsere Gesellschaft braucht Christen, die ihre Verantwortung wahrnehmen. An den unterschiedlichsten Stellen: in Parteien, in Elternvertretungen, als Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr oder als Trainer einer Jugendmannschaft, um nur einige wenige Möglichkeiten zu nennen.

ES GEHT UM VERANTWORTUNG!

Zurück zur Gemeindestunde. Einige Mitglieder kamen extra zur Wahl, obwohl sie vorher lange nicht da gewesen waren. So auch ein Mann in den Vierzigern. Kaum, dass er mich sah, schoss er auf mich zu. „Uwe, du arbeitest doch jetzt in Berlin. Hast du auch die Kanzlerin schon getroffen?“ Ich musste mich ein bisschen schütteln. „Ja“, antwortete ich, und wimmelte ihn ab.

Da hat einer nicht verstanden, worum es geht in der Politik. Es geht nicht darum, Karriere zu machen oder Prominente zu kennen. Auch nicht in erster Linie um Macht. Sondern um Verantwortung. Oder mit Talithas Worten: Es geht um Begründungen. Um das Verstehen von Zusammenhängen und dann um konstruktives Mitgestalten. Sei es im „großen“ Berlin oder im „kleinen“ (Gemeinde-)Alltag.

Uwe Heimowski vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.

Mutter mit zerbrochener Seele

Stefanie Bogner-Raab hat Paul (Name von der Redaktion geändert) als Pflegekind in ihre Familie aufgenommen. Seine Mutter hatte das Kind abgegeben. Weil sie sich nicht kümmern konnte. Weil sie gezwungen wurde, sich zu prostituieren. Und weil sie trotzdem stark und mutig war.

Mein Sohn kuschelt mit mir. „Du bist die beste Mama auf der Welt.” Ich streichle seinen Kopf und denke an seine leibliche Mutter. Sicher würde sie diese Worte auch gerne hören.

Paul ist unser Pflegesohn, eins von drei Pflegekindern, die wir aufgenommen haben. Er kam als Baby in unsere Familie. Zunächst waren mir die leiblichen Eltern der Pflegekinder nicht wichtig, aber nach und nach beschäftigte ich mich doch mit ihnen. Das Schicksal von Pauls Mutter berührte mich besonders, und ich empfand tiefes Mitleid und auch Verständnis für ihre Situation. Gott hat mir einen ganz anderen Blick auf Pauls leibliche Mutter geschenkt. Sie war nicht eine schwache Frau, die ihr Kind nicht erziehen konnte. Im Gegenteil, ich sehe nun ihre Stärke und auch ihre ausweglose Situation. Sie hat mit ihrer Entscheidung, Paul in eine Pflegefamilie zu geben, richtig gehandelt. Diese Entscheidung hat von ihr sehr viel Liebe, Kraft und Stärke erfordert.

Ein Brief an die Mutter

Weil mir ihr Schicksal nicht mehr aus dem Kopf ging, habe ich einen Text über sie geschrieben. Viele Fakten und Ereignisse in diesem Text sind wahr, andere könnten so passiert sein. Mit ihrer Geschichte möchte ich auf ein Schicksal hinweisen, das viele junge Frauen erleiden: Menschenhandel und Prostitution.

Wenn Paul alt genug ist, werde ich ihm diesen Text zeigen. Er soll wissen, dass seine leibliche Mutter ihn nicht einfach weggeben hat, sondern dass sie eine starke Frau voller Liebe war.

Aus einem armen Land

Liebe …,

Ich bewundere dich. Du konntest nichts dafür, dass du in einem Land geboren wurdest, in dem die Armut herrscht. Du hattest keine unbeschwerte Kindheit, musstest sehr früh mit anpacken. Die Kühe mussten versorgt werden, der Stall ausgemistet, die kleinen Geschwister geweckt und der Tisch gedeckt. Deine Eltern haben dich geliebt, aber sie waren einfache Menschen, die genauso früh lernen mussten, dass man hier nur mit harter Arbeit überleben kann.

Als du älter wurdest, hast du dich nach schönen Dingen gesehnt. Du wolltest gern ausgehen, das Leben genießen. Aus dem Fernsehen kanntest du diese wunderbaren Sachen, die man sich nur mit viel Geld kaufen kann. Mit 16 Jahren hast du dein Dorf, dein Leben gehasst. Du wolltest weg. Raus aus diesem einfachen, harten Leben.

Der Traum: Deutschland

Du trafst Alex, 9 Jahre älter als du. Er war nett, er hatte Geld und er kam aus Deutschland. Von Deutschland hattest du viel im Fernsehen gesehen und von Freunden gehört. „Es wäre ein Traum, dort zu leben“, dachtest du.

Du hast dich in Alex verliebt und er sich scheinbar auch in dich. Er hat dir Kleider und Schmuck geschenkt und dir schöne Geschichten über sein Leben in Deutschland erzählt. Von einem Au-Pair-Job berichtete er. Eine nette Familie suchte angeblich ein Mädchen wie dich. Konnte das wahr sein? Sollte der Traum tatsächlich Wirklichkeit werden?

Im Zimmer eingesperrt

Er wurde es – zunächst. Du hast deine Sachen gepackt, deine besorgte Familie hinter dir gelassen und bist mit Alex nach Deutschland gegangen. Kaum hier angekommen, änderte sich alles schlagartig. Alex war plötzlich nicht mehr nett. Dein Pass wurde dir weggenommen und du wurdest in einem Zimmer eingesperrt.

Ein älterer Mann erklärte dir, dass du nun für ihn arbeiten müsstest. Du hast erst gar nicht verstanden, was er von dir wollte, bis er sich auszog, dich aufs Bett presste und in dich eindrang. Du dachtest, du müsstest sterben. Tränen rollten über deine Wangen. In dir zerbrach etwas. Danach warst du ein anderer Mensch.

Ungewollt schwanger

Jeden Tag musstest du nun Männer an dich heranlassen und dabei noch sexy und freundlich sein. Dir wurde schnell klar: Ich kann nur überleben, wenn ich mitspiele. Also hast du deine zerbrochene Seele von deinem Körper gelöst. Du bist eine Prostituierte geworden, die ihrem Zuhälter viel Geld in die Taschen bringt. Mit 19 wurdest du ungewollt schwanger. Aber du hast nicht abgetrieben. Du hast dich für dein Kind entschieden. Wie mutig und liebevoll von dir!

Dein kleiner Junge kam zur Welt und du hast alles für ihn getan, was du nur konntest. Aber das Leben war hart. Du musstest weiter arbeiten, es gab keine Pause für dich und dein Baby. Deine Wohnung war kalt, keine Heizung, kein warmes Wasser. Dein kleiner Junge wurde krank und musste ins Krankenhaus. Dort hattest du das erste Mal Kontakt mit den Ämtern. Sie haben versucht zu helfen, aber es gab keinen wirklichen Ausweg für dich. Du hattest keinen Pass, warst in Deutschland nur geduldet, dein Zuhälter war mächtig, was solltest du tun? Du wolltest das Beste für dein Kind, und so hast du eine sehr schwere, aber ungeheuer tapfere und mutige Entscheidung getroffen: Du hast dein Kind einer Pflegefamilie anvertraut.

Trennung aus Liebe

Deine Seele ist wieder einmal zerbrochen. Was für ein Schmerz, sich von seinem eigenen Kind zu trennen! Unvorstellbar. Aber du hast es aus Liebe getan. Du warst dir sicher, dass es die richtige Entscheidung ist.

Nun sind fast zehn Jahre vergangen und du hast es geschafft: Du bist frei. Du hast dich entschieden zu kämpfen und hast den Kampf gewonnen. Keine Prostitution mehr, kein Zuhälter mehr. Mit fast 30 Jahren darfst du endlich leben. Es ist nicht leicht für dich. Du lebst unter dem Radar, aber alles ist besser als das Leben vorher.

Die gleichen braunen Augen

Du hast vor kurzem erfahren, dass es deinem kleinen Jungen gut geht. Er wird geliebt und entwickelt sich in der Pflegefamilie zu einem tollen Jungen. Und er hat die gleichen großen braunen Augen wie du. In ihnen kann man bis in die Seele blicken.

Deine Seele ist immer noch gebrochen, aber sie wohnt wieder in deinem Körper. Langsam, ganz langsam werden sich Narben über deine Risse bilden. Ich bewundere dich. Du lebst und gehst weiter. Du kämpfst.

Du bist eine starke Frau!

Deine Stefanie

Stefanie Bogner-Raab lebt mit ihrem Mann, drei Kindern, Hund und Katzen auf einem Hof im Münsterland. Wenn sie nicht liest oder schreibt, unterrichtet sie als Sprachtherapeutin freiberuflich Kinder und Jugendliche in Deutsch und Englisch.

Emotionale Affäre: Verliebt in einen anderen – wie diese Frau doch noch ihre Ehe rettete

„Auf einmal war da ein klopfendes Herz“, erinnert sich Lisa* an den Tag, an dem sie sich in einen Fremden verliebte. Ganz ohne Ehekrise, einfach so.

Es ist über zehn Jahre her, und ich bin nicht stolz darauf. Ich war für eine Studienreise im Ausland: ein anderes Land, eine andere Kultur, andere Sitten und andere Bedrohungen. Wir hatten einen Reiseleiter, der uns das Land und die Leute zeigte und der sich als Deutscher sicher in der für mich fremden Umgebung bewegte. Ich fühlte mich unsicher in der fremden Welt – er gab mir die Sicherheit, die ich brauchte, um mich wohl zu fühlen und das Abenteuer des anderen Landes auch zu genießen. Ich lernte das Land lieben. Und ich fing an den Mann zu lieben, der mir den Zugang zu diesem Land zeigte.

Zu Hause in Deutschland waren zur gleichen Zeit mein Mann und meine beiden Kinder ohne mich. Sie managten den Alltag für mich, vermissten mich und nahmen alle Kraft zusammen, mir diese Erfahrung zu ermöglichen. Ich sage ja, ich bin nicht stolz darauf, was ich tat und empfand.

DIE LINIE DER TREUE ÜBERTRETEN

Aber diese Studienreise hatte ein Nachspiel: E-Mails. Durch diese E-Mails stellten der Mann aus der Ferne (der nicht meiner war) und ich fest, dass wir beide ähnliche Gefühle füreinander hegten. Das brachte meine Emotionen vollends zur Explosion. Spätestens hier übertrat ich die Linie der Treue. Ich schrieb Worte, die ich nicht hätte schreiben sollen. Ich las seine Worte der Bewunderung für mich und sog sie in mich auf. Dieser Mann schien mich als Mensch und Frau mehr wertzuschätzen und zu sehen als jeder andere. Das tat so gut, und ich wollte mehr davon. Ich fühlte mich auf einmal lebendig. Meine Gefühle schwemmten meinen Verstand in einer rasenden Flut davon. Ich hatte es mehr und mehr zugelassen. Aber nun fühlte ich mich unfähig, diese Flut zu stoppen.

EINFACH DURCHBRENNEN?

Der Mann fragte mich per E-Mail, was unsere Gefühle nun bedeuten würden und was ich bereit war zu tun oder zu lassen. Das war eine faire Frage. Würde ich meine Familie verlassen? Was war ich bereit für diese Beziehung aufzugeben? Gott sei Dank ernüchterte mich diese Frage. Es hatte schon Momente gegeben, da hatte ich die Flugkosten recherchiert und mir vorgestellt und geträumt, einfach durchzubrennen und ein anderes Leben in einem anderen Land an der Seite eines anderen Mannes zu führen.

Ich bin im Rückblick dankbar, dass dieser Mann einen Flug weit entfernt wohnte und nicht nur eine Autofahrt. Ich weiß nicht, wie stark ich gewesen wäre, wenn ich nur hätte hinfahren brauchen, um den Traum, den ich heimlich hegte, real werden zu lassen, und meine Kinder und meinen Mann in einen Alptraum zu stürzen.

Mit dieser Frage erwachte ich. Ich wollte nicht, dass meine Kinder ohne mich aufwachsen. Und ich wollte meinen Mann nicht verletzen. Trotzdem rang ich in den nächsten Wochen mit den Gefühlen, die ich selbst so heiß gekocht hatte, dass ich sie nicht abstellen konnte. Ich weinte um meinen Traum. Es schmerzte, ihn loszulassen. Ich entschied mit dem Kopf, mein Herz würde folgen, so hieß es in Ratgebern. Es dauerte Monate. Intensive Scham wechselte sich ab mit der Versuchung, die Worte, die mir Wert und Bedeutung gegeben hatten, in meinem Herzen zu tragen und mich daran zu erwärmen.

BEDÜRFNISSE STILLEN

Wie hatte dieser Mann mein Herz erobern können? Mein Mann und ich waren nicht in einer Krise gewesen. Wir hatten eine Ehe wie viele andere. Es war alles okay. Aber nach einigen Jahren habe ich das Gute nicht mehr gesehen. Die Herausforderungen und Erwartungen aber wurden größer. Der Alltag schlich sich ein, die Wertschätzung meines Mannes war nicht mehr so reich wie am Anfang unserer Ehe – oder ich nahm sie nicht mehr so wahr. Die Unterschiedlichkeiten waren nicht mehr reizvoll, sondern aufreibend. An das Gute hatte ich mich gewöhnt. Die Lücken in meinem Selbstwertgefühl hat mein Mann nicht (mehr) gefüllt. Und es gab Dinge, die ich mir wünschte, die einfach nicht in seinen Möglichkeiten standen. Mit all diesen Aspekten hatte ich zu dieser Zeit keinen Frieden gefunden. Und da kam ein anderer und füllte mir all diese Bedürfnisse: Wertschätzung, Bewunderung und das Abenteuer, das mir im Alltag fehlte.

Ich merkte damals, dass ich die Krise in mir nicht alleine in den Griff bekam. Und so habe ich mir eine Beraterin gesucht. Ein Prozess des Aufarbeitens begann. Wichtig war für mich, als die Beraterin sagte, dass all meine Bedürfnisse, die eine Rolle für meine Gefühle gespielt hatten, echt und gut seien; der Knackpunkt war aber, dass ich für die Erfüllung der Bedürfnisse keinen anderen Mann brauchte. Ich hatte tatsächlich gedacht, meine Bedürfnisse seien das Problem. Und wenn ich den anderen Mann aus meinem Leben bannte, müsste ich für immer auf die Erfüllung verzichten. Aber ich habe gelernt, dass ich diese Bedürfnisse auch selbst in die Hand nehmen kann.

Und auch für mein Selbstwertgefühl bin ich verantwortlich. Letztlich ist mein Selbstwert in Gottes Hand, weder meinem Mann noch einem anderen sollte ich meinen Wert in die Hand legen. Es war ein guter Anfang, das zu verstehen. Auch für meine Sehnsucht nach Abenteuer oder Abwechslung bin ich selbst verantwortlich. Dieses Bedürfnis hatte ich vorher gar nicht so wahrgenommen. Ich musste Wege finden, diese Bedürfnisse, die ich in mir entdeckt hatte, ernst zu nehmen, aber andere Lösungen zu finden, um sie zu stillen. Ich musste mir selbst vergeben und wieder mit mir ins Reine kommen. Und natürlich war es nötig, alles mit meinem Mann aufzuarbeiten.

„Ich habe gelernt, für meine Bedürfnisse selbst zu sorgen.“

VERGEBUNG UND NEUANFANG

Ich bin dankbar, dass mein Mann bereit war, mir zu vergeben. Er hat sich getraut, mir wieder zu vertrauen. Wir haben einen Weg aus der Krise gefunden und an unserer Ehe gearbeitet. Wir akzeptieren heute im Großen und Ganzen die Schwächen und die Stärken des anderen. Wir können unsere Unterschiedlichkeit besprechen und sehen sie meist nicht als bedrohlich, sondern als bereichernd. Es war ein langer Weg, der noch durch mehr Herausforderungen führte. Heute genießen wir eine stabile und glückliche Ehe. Das ist nicht selbstverständlich.

Außerdem habe ich gelernt (und bin noch dabei), für meine Bedürfnisse selbst zu sorgen. Manchmal gelingt es mir zum Beispiel, ein Abenteuer in mein Leben einzubauen, etwas Neues auszuprobieren und etwas zu wagen, was ich noch nie gemacht habe. Das ist wichtig für mich, und ich nehme mir die Energie, die ich brauche, um es umzusetzen. Manchmal habe ich aber auch einfach Frieden über einem ganz normalen Familienalltag und komme auch gut ohne weitere Abenteuer aus.

Was andere Männer anbetrifft, bin ich mehr auf der Hut: Wenn ich zum Beispiel ein warmes Kompliment von einem anderen Mann bekomme, gehe ich anders damit um. Ich freue mich, und das darf ich auch. Aber ich lasse es nicht nachhallen oder hänge meinen Wert daran. Ich versuche auch nicht den Kontakt zu intensivieren, um mehr davon zu bekommen. Letztlich weiß ich, dass kein Mann alle meine Bedürfnisse (für die ich sowieso selbst verantwortlich bin) stillen würde, selbst wenn einer mal reizvoll erscheint. Dann hat er Lücken eben woanders. Es hilft, das mit dem Verstand zu wissen.

„Ich kann sagen, dass ich meine Gefühle im Griff habe, solange sie noch tröpfeln.“

GEFÜHLE IM GRIFF

Ich weiß heute auch, dass ich meine Gefühle kontrollieren kann und dass es am einfachsten ist, wenn ich Gefühle für andere gleich im Keim in Angriff nehme. Ob ich heute gegen die Flut besser ankommen würde, kann ich nicht mal sagen. Aber ich kann sagen, dass ich meine Gefühle im Griff habe, solange sie noch tröpfeln. Und ich lasse sie nicht zum Strom werden.

Es gibt dazu eine indianische Geschichte: Ein alter Cherokee-Indianer unterhielt sich mit seinem Enkel. „Großvater“, fragte der Junge, „sind wir Menschen gut oder böse?“ – „Das kommt darauf an“, erwiderte der alte Mann. „Jeder von uns beherbergt zwei Wölfe in seinem Herzen. Der eine ist der Wolf der Gier und des Hasses. Der andere ist der Wolf der Liebe und des Mitgefühls.“ – „Und welcher Wolf ist stärker?“, wollte der Junge nun wissen. „Der, den du fütterst“, sagte der Großvater.

Derartige emotionale Entgleisungen sind mir nicht wieder passiert. Denn ich füttere den bösen Wolf nicht mehr.

*Die Autorin möchte anonym bleiben.

 

Liebe lässt sich nicht erzwingen

Wenn die 16-jährige Tochter das Elternhaus verlässt, reißt sie ein tiefes Loch …

Wir haben vor knapp zwei Jahren von heute auf morgen den Kontakt zu unserer ältesten Tochter verloren. Sie hatte aus verschiedenen Gründen immer mehr Zeit außerhalb unserer Familie verbracht. Bedingt durch mehrere schwere gesundheitliche Ereignisse in unserer Familie hatten wir nicht genug registriert, dass sie sich auch emotional von uns distanziert hatte. Die Auslöser waren sehr unterschiedliche Auffassungen zu Themen wie Freiheit, Sexualität und Glaube. Ohne dass wir es geahnt haben, hat unsere Tochter sich entschieden, auszuziehen und den Kontakt zu beenden.

In den ersten Wochen standen wir völlig unter Schock. Ich konnte kaum schlafen. Ich habe alles hinterfragt, ständig lief das Kopfkino auf und ab. Ich habe versucht, für die anderen Kinder zu funktionieren. Abends saß ich oft im Zimmer unserer Tochter und habe laut geweint. Ich schrie zu Gott, dass ich diesen Schmerz, diese Ohnmacht, diese Sehnsucht und dieses Ausgeliefertsein nicht aushalte. Es waren Stunden der Verzweiflung, der Wut, des Zerbruchs. Und dazwischen immer wieder die Bilder aus glücklichen Zeiten, die im ganzen Haus an den Wänden hängen …

ZERREISSPROBE
Ich kann Gott nur von Herzen danken, dass er mir seine Engel in Form von anderen Christen geschickt hat. Sie hatten offene Ohren zum Zuhören und beteten für uns. Und es waren oft nicht die Worte, sondern das Händedrücken oder die Umarmungen, die uns großen Trost gespendet haben.

Wir haben natürlich versucht, unsere Tochter zurückzugewinnen. Ein großes Problem war, dass mein Mann und ich sehr unterschiedliche Sichtweisen hatten. Ich bin eher der geradlinige Sturkopf, er der kompromissbereite Grenzenöffner. Was sich bisher ergänzt hatte, wurde nun zur Zerreißprobe. In diesem Punkt mussten wir viel lernen, hatten Kämpfe und Tiefschläge zu tragen und wissen heute, dass wir auch die kleinsten Entscheidungen nur gemeinsam treffen.

Ein großes Gefühl war auch die Hilflosigkeit, nichts tun zu können. Ich bin der Typ von Frau, die immer alles im Griff zu haben scheint. Hier war es an der Zeit einzugestehen, dass nichts mehr läuft und ich nur Gott alles vor die Füße werfen kann. Trotz unseres Kampfes bleibt am Ende nur eine Einsicht: Liebe, Dankbarkeit und Zugehörigkeit lassen sich nicht erzwingen. Trotz ihres minderjährigen Alters und obwohl wir nicht wissen und wussten, welchen Einflüssen sie ausgesetzt ist, blieb als einzig vernünftige Wahl, unsere Tochter loszulassen.

Wir haben sie losgelassen im Wissen, dass sie in Gottes Hand ist, und das ist unser gewaltiger Trost. Er lässt ihre Hand niemals los. Und er kann sie tausendmal besser führen, als wir es je hätten tun können. Dadurch wuchs unsere Zuversicht. Und wir konzentrierten uns auf die Aufgaben, die Gott für uns bereithielt. Wir haben dem Groll keinen Raum in unsere Herzen gegeben, auch wenn die Traurigkeit ein Teil unseres Lebens geworden ist. Aber die Gewissheit, dass Jesus größer ist und alles zum Guten wendet, hat uns eine tiefe innere Ruhe gegeben.

WEIHNACHTSWUNDER
Ende letzten Jahres hat sich Erstaunliches getan. Nach anderthalb Jahren stand unsere Tochter kurz vor Weihnachten überraschend vor unserer Tür. Unbeschreiblich schön und zugleich fern und befremdlich. Balsam fürs Mutterherz, das sich sofort ganz weit macht, obwohl man die Gefahr der Verletzlichkeit nur zu gut kennt. Mittlerweile reagiert sie auch auf Whats-App-Nachrichten und nimmt Einladungen an. Es gäbe viel aufzuarbeiten, und wir befinden uns auf einer vorsichtigen Reise in die gemeinsame Zukunft. Wir sind gespannt, wie Jesus uns führt und klammern uns an seine Hand.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Von Opa lernen …

… möchte Sandra Geissler. Denn wie ihr Schwiegervater von seinem Leben erzählt, ist für sie vorbildhaft.

„Der Opa kommt!“, tönt ein lauter Schrei durchs Haus. Irgendeiner entdeckt ihn immer, lange bevor er auch nur in die Nähe unserer Türklingel gelangen kann. Und schon rast die gesamte Kinderschar wie eine wildgewordene Büffelherde zur Haustür. In kürzester Zeit weiß die ganze Nachbarschaft Bescheid: Der Opa kommt! Es dauert immer eine Weile, bis sich die tumultartigen Zustände wieder gelegt haben, bis jeder ausgiebig gedrückt und durch feste Klopfer auf den Rücken auf seine Vollständigkeit hin überprüft wurde. Dann erst kann sich der ersehnte Gast endlich bis ins Wohnzimmer vorarbeiten und auf seinem Stuhl verschnaufen. Meistens hat er für jeden eine Kleinigkeit dabei. Eine Handvoll Schlümpfe von 1980 vielleicht, die er irgendwo in den Tiefen seines Hauses entdeckt hat, einige alte Matchboxautos, ein paar Schokokugeln oder eine Tüte Gummibärchen zum Teilen. Mein Schwiegervater ist 88 Jahre alt, und man merkt es ihm langsam ein wenig an. Doch immer noch ist er stark wie eine alte Eiche, groß, gewaltig und ein bisschen polterig. Er lacht gern und laut, ist diskussionsfreudig und herzlich. Nur das mit dem Hören funktioniert nicht mehr richtig, was den Lärmpegel in unserem eh schon immer lauten Haus in ungeahnte Höhen treibt. Man stelle sich fünf Kinder vor, die gleichzeitig versuchen, sich einem schwerhörigen Opa verständlich zu machen …

GESCHICHTEN AUS ALTEN ZEITEN

Hat der Opa dann endlich sein Plätzchen gefunden, sein Stückchen Kuchen verzehrt, die zweite Tasse Kaffee vor sich und ein Enkelchen auf dem Schoß, dann kommt meist der Moment, den meine Kinder lieben. Der Opa fängt an zu erzählen. Von seinen Weltreisen als junger Mann, ganz ohne All Inclusive und ausgebauter Infrastruktur, von den Nächten in Heuschobern oder in freier Wildbahn, von den Abenteuern, die er mit seinen Brüdern erlebt hat, von der Liebe seiner Eltern und von seiner Zeit als junger Familienvater. Die Kinder hängen an seinen Lippen, wenn der Opa erzählt, und sie erfahren Geschichten aus fernen Ländern und alten Zeiten, von der Oma, die sie nie kennenlernen konnten, von Tagen, an denen ihr Papa ein kleiner Junge war und wieviel Blödsinn er mit seinen Brüdern angestellt hat. Oft sitze ich da und staune, wie sehr meine Kinder sich von den alten Geschichten fesseln lassen. Noch mehr aber bestaune ich diesen Mann, der mit fast neunzig Jahren so ganz im Reinen ist, mit sich und der Welt, der nicht schimpft und nicht hadert, weder mit der Vergangenheit, noch mit dem Jetzt. Nach zwei Stunden verabschiedet sich der Opa wieder und unter lautem Hupen und wildem Winken fährt er davon. Wir winken und brüllen alle hinterher. Bis zum nächsten Mal.

NICHT DAS SCHWERE ZÄHLT

Oft schon haben mein Mann und ich nach solchen Stunden mit dem Opa überlegt, dass dieser Mann auch eine ganz andere Geschichte seines Lebens erzählen könnte. Die Geschichte einer Kriegskindheit, vom Hunger und einem zerbombten Zuhause. Von der Granate, die ihm beim Spielen einige Finger kostete. Von den Mühen, vier nicht gerade einfache Jungs auf den rechten Lebensweg zu bringen und der großen Trauer um seine viel zu früh verstorbene Frau. Von der Einsamkeit in einem nun längst zu großen, leeren Haus, den Beschwerlichkeiten des Alters und den alten Freunden, die nicht mehr sind. Aber so erzählt er die Geschichte nicht. Er erzählt seine Geschichte anders. Es ist nicht so, als wäre das alles nicht gewesen. Er negiert das Schwere nicht, es gehört dazu und ist Teil seiner Erzählungen. Aber es ist nicht das, was zählt. Was zählt, ist das wilde, schöne Leben in all seinen Facetten. Die Freude an diesem Leben, an Familie und zehn Enkelkindern, an Reisen und an guten Erinnerungen, an ungewöhnlichen Problemlösungen und überstandenen Krisen. Er feiert dieses Leben, das vergangene und das gegenwärtige, indem er es bejaht. Und er vergrault es nicht, indem er hadert. Der Opa behält das Gute und schaut gespannt nach vorne. Denn 95 wolle er auf jeden Fall werden, sagt er.

DAS WILDE, SCHÖNE LEBEN

So möchte ich die Geschichte meines Lebens auch einmal erzählen können, wenn ich eine Oma geworden bin. Und wenn ich es recht bedenke, dann muss ich gar nicht so lange warten. Ich kann direkt damit loslegen, jeden Tag auf ein Neues. Das Leitthema meines Lebensbuches sollen nicht die schweren und traurigen Kapitel sein, auch wenn sie natürlich auch zu meiner Geschichte dazugehören. Das Leitthema soll das wilde, schöne Leben sein in all seinen Facetten, die guten Begegnungen und das Abenteuer Familie, die Liebe, die ich erfahren und schenken durfte, die Dankbarkeit für die guten Momente und das große Glück in den kleinen Dingen. So möchte ich mein Leben feiern, das mir geschenkt wurde, mit allem, was dazu gehört, jeden Tag. In diesen Wochen ist es schwer für unseren Opa. Viele seiner alten Weggefährten sterben, er kämpft mit den Lücken, die sie hinterlassen. Und entschließt sich wieder einmal bewusst für das Leben. Plant ein paar kurze Reisen, lässt die Hörgeräte neu einstellen und lädt sich bei uns zum Kaffee ein. Wir freuen uns. Denn das Leben in all seinem Reichtum zu feiern, anstatt nur seine dunklen Seiten zu lesen, ist manchmal eine Frage des eigenen Entschließens. Das ist das Erbe, das der Opa seinen Enkeln hinterlassen wird. Das ist das Erbe, das ich meinen Enkeln irgendwann schenken möchte.

Sandra Geissler lebt mit ihrer Familie in Nierstein und bloggt unter 7geisslein.wordpress.com.

Zum Dossier-Thema „Das Leben feiern“ gibt es weitere Artikel in der Family 01/2019.

 

Ich gucke einfach nur Löcher in die Luft

Ein Plädoyer für die Langeweile. Von Nicole Schweiger

Auf unserer Terrasse gibt es einen besonderen Platz. Bunt gestreift und mit den Jahren von der Sonne ausgeblichen baumelt von einem Balken des Dachüberstands mein Hängesessel. Vor einigen Jahren hatte ich ihn mir zum Geburtstag gewünscht. Seitdem wird er von allen Familienmitgliedern, von großen und kleinen Gästen geliebt.

Was macht diesen Platz so besonders? Nun, es scheint, als könne man dort in eine andere Welt eintauchen. Eingekuschelt in den Stoff des Sessels schließe ich manchmal die Augen. Sanft schaukelnd lausche ich den Geräuschen um mich herum: Vögel zwitschern, Blätter rauschen, das Klangspiel klirrt im Wind. Manchmal kann man sogar die Frösche von den weiter entfernten Teichen hören. Ich fühle Wind und Sonne auf der Haut, spüre, wie mein Körper sanft hin und her geschaukelt wird. Der Alltag ist ganz weit weg. Ich bin einfach nur da. Manchmal träume ich mit offenen Augen, blicke in das Grün des Gartens und ganz oft zum Himmel hinauf. Sehe den vorbeiziehenden Wolken nach.

Kindheitserinnerungen werden wach: Auf der Wiese liegen mit einem Grashalm im Mund und Figuren in den Wolkenformationen erkennen. Besonders schön ist es auch bei Regen. Dank des Dachüberstands lausche ich geschützt und doch draußen, wie die Regentropfen herunterprasseln, sehe zu, wie die Bäume im Nachbargarten sich im Wind biegen und höre das Grollen des heranziehenden Gewitters. Herrlich! Ich genieße ohne Plan und Verpflichtungen einfach so mein Sein und Gottes Schöpfung für eine kurze oder lange Weile.

OASE IM ALLTAG

Langeweile. Warum ist dieses Wort eigentlich so negativ besetzt? Zu Unrecht, wie ich finde. Ich möchte an dieser Stelle ein Plädoyer für die Langeweile halten, für diese Oase im Alltag: Gönn dir Langeweile! Genieße sie, tanke auf! Und schaffe dir Raum und Zeit dafür. Vielleicht ist das schwierig im Moment mit Kleinkindern, Job und Verpflichtungen. Es muss ja nicht immer eine lange Weile sein. Vielleicht gibt es einen Ort, an den du dich für einen Moment zurückziehen kannst. Auch Rituale im Alltag können hilfreich sein, gerade wenn die Zeiten stressig sind und das Leben um dich tobt.
Längst ist bekannt, dass nicht mehr leistet, wer ständig arbeitet. Oft kommen uns die kreativsten Ideen und Lösungsansätze für Probleme, während wir endlich mal abschalten, nichts tun und unsere Gedanken schweifen lassen. Es gibt etliche Studien, die dieses Phänomen bestätigen. Langeweile – im richtigen Maß genossen – ist konstruktiv.

UNVERPLANTE ZEIT

Kinder sind in ihrer Entwicklung geradezu darauf angewiesen, Zeit zum Nichtstun zu haben. All die Fördermöglichkeiten, die wir unseren Sprösslingen zukommen lassen, sind gut gemeint. Sobald sie auf der Welt sind, wollen wir ihnen das Beste geben und ermöglichen. Und viele unterliegen dabei dem Trugschluss, sie täten das mit der Buchung von Musik-, Sport- und Kreativkursen. Was in einem gesunden Maß nichts Schlechtes ist. Kinder brauchen aber mindestens genauso viel Zeit, die sie unverplant mit sich selbst verbringen dürfen. Nur so, ohne Ablenkung, lernen sie, sich selbst wahrzunehmen und zu verstehen.

Kinder sind gute Lehrer für uns Erwachsene, wenn es darum geht, bewusst im Hier und Jetzt zu leben. Der kurze Weg zum Kindergarten dauert gefühlte Stunden. Es gibt überall interessante Dinge zu entdecken. Die ersten Kastanien sind vom Baum gefallen, aus der Erde schlängelt sich ein Regenwurm, auf der Baustelle steht jetzt ein Kran, die Luft riecht heute so anders. Wann immer es möglich ist, nimm dir die Zeit und staune mit deinem Kind über all das. Es wird dein Leben bereichern, und der Tag beginnt mit einem Lächeln.

Entschleunigung tut gut. In unserer Gesellschaft geht es häufig um Optimierung, Effizienz, Wachstum. In letzter Zeit fällt mir zunehmend eine Gegenbewegung auf. „Kindergartenfrei“ statt „Krippe“, „Sabbatical“ statt „Karriere“, „der eigene Garten“ statt „Fernreisen“. Die Generation um die dreißig scheint umzudenken – „Work-Life-Balance“ wird großgeschrieben. Ich bin nicht in allem ihrer Meinung (bin ja auch vierzig+), verfolge diese Entwicklung aber positiv gespannt. Zeit für Langeweile wird wieder attraktiver.

VON GOTT ÜBERRASCHT

Zurück in meinem Hängesessel. Ich genieße es, hier die Seele baumeln zu lassen. Manchmal gucke ich einfach nur Löcher in die Luft und gehe danach erholt und gestärkt wieder in den Alltag zurück. Manchmal werde ich dabei aber auch von Gott überrascht. Vielleicht dringt er dann einfacher zu mir durch als mitten im Trubel. Jedenfalls haben sich in solchen Langeweile-Momenten schon so manche (Glaubens-)Erkenntnisse den Weg gebahnt, um die ich lange Zeit gerungen hatte. Und auch der Satz „Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe“ (Psalm 62,2) hat eine ganz neue Bedeutung gewonnen.

Nicole Schweiger

 Nicole Schweiger ist Sozial- und Montessoripädagogin und unterrichtet an einer Berufsfachschule für Kinderpflege. Sie wohnt mit ihrer Familie in Lauf a.d. Pegnitz und bloggt unter milchundhonig.jimdo.com über Familie, Pädagogik und Glaubensleben.

 

Weitere Artikel zum Thema „Langeweile“ gibt es in der Family 6/2018.

 

„Wir haben beide unseren Platz gefunden“

Patric Graf ist Hausmann, seine Frau arbeitet Vollzeit. Ein Modell, das sich für sie bewährt hat.

Als meine Frau Kerstin mit unserer heute 18 Jahre alten Tochter schwanger war, war ich für längere Zeit krankgeschrieben. Meine damalige Arbeit konnte ich nicht wieder aufnehmen. Da ich durch meine Arbeitszeiten in der Bäckerei schon von Beginn unserer Beziehung an die Haushaltstätigkeiten überwiegend übernommen hatte und auch gerne koche, kam uns die Idee, die typischen Rollen zu tauschen. Nach der Geburt unserer Tochter und dem gesetzlichen Mutterschutz arbeitete meine Frau wieder zu 100 Prozent in ihrem Beruf als Krankenschwester. Schnell merkten wir, dass ihre Arbeit im Dreischichtbetrieb viele Vorteile für uns hatte: Wir konnten zum Beispiel Kinderarzttermine so legen, dass wir gemeinsam hingehen konnten. Später, als die Kinder im Kindergarten waren, hatten wir als Eltern die Möglichkeit, ohne Kinder etwas zu unternehmen, sei es der Wocheneinkauf oder ein gemeinsames Frühstück in einem Café.

Bei unserem Sohn (15) und unserem Nesthäkchen, unserer achtjährigen Tochter, behielten wir diese Rollenverteilung bei. Seit 13 Jahren arbeite ich zusätzlich auf 450-Euro- Basis in der Systemgastronomie. Ich habe das Glück, dass ich meine Arbeitszeiten dem Dienstplan meiner Frau anpassen kann. Diese Arbeit ist für mich ein Ausgleich zum Hausmannsjob. Ich komme mit vielen Menschen aus verschiedenen Nationen in Kontakt, da unser Betrieb auf einem Autohof an der Autobahn liegt.