Ein Paar, zwei Perspektiven: Fotobuch

Nicht das wahre Leben

Katharina Hullen will Erinnerungen festhalten und prägen – schöne Erinnerungen.

Katharina: „Schaut doch bitte kurz noch mal alle zu mir!“ Ich versuche, einen schönen Abschlussmoment festzuhalten, nachdem ich meine Familie mehr oder weniger unauffällig den ganzen Tag umtanzt habe, um einige der schönen Szenen unseres heutigen Ausflugs digital zu verewigen. Nicht allen ist dabei zum Lächeln zumute, aber wir wissen ja, wofür wir uns hier ins Zeug legen – das alljährliche Familien-Fotobuch muss gefüllt werden!

Alle lieben diese Bücher – die Großeltern wünschen sich zu Weihnachten nichts anderes. Und es ist auch ein großartiges Geschenk: eine Galerie der Menschen, die wir lieben, eine wunderbare Dokumentation des Familienlebens, der Entwicklungen und Meilensteine eines jeden Mitglieds unserer kleinen Einheit. Ausflüge, Geburtstage, Einschulungen, Abschiede, Aufführungen. Wir können beim Betrachten in Erinnerungen schwelgen und mithilfe der schönen Baby- und Kleinkindbilder und der zugehörigen Erzählungen sogar Erlebnisse und Empfindungen prägen, die bei den Kindern ansonsten gar nicht im aktiven Bewusstsein wären.

Diese Bücher sind naturgemäß angefüllt mit den schönen Momenten, mit lächelnden, fröhlichen, ausgelassenen, stolzen, konzentrierten und glücklichen Menschen.

Ich hatte noch nie den Drang, ein Foto zu machen, wenn ich gerade am Mittagstisch ein Donnerwetter loslasse oder wenn sich zwei Streithähne buchstäblich in den Haaren liegen. Auch das Aufwischen von Erbrochenem oder das Durchsetzen einer Auszeit für ein bockiges Kind hat es bei uns noch nicht als Fotomotiv gegeben.

Ist es daher nicht eigentlich ein unehrliches und geradezu ärgerliches Produkt einer zu ehrgeizigen Mutter, die jeden Moment nur nach seiner Fotobuch-Tauglichkeit beurteilt und eben nicht das wahre Familienleben dokumentiert? Warum nicht einfach den Moment genießen und fotolos verstreichen lassen?

Einfacher wäre das, denn es steckt sehr viel Zeit und Arbeit in diesen Büchern. Und dass unser Familienleben auch viel Streit, Frust und Versagen beinhaltet, ist selbstverständlich genauso wahr wie die vielen schönen Augenblicke.

Dennoch gefällt mir der Gedanke, dass diese Bücher vor allem das Positive festhalten: Es war richtig schön! Wir haben sehr viel Gutes und Lustiges zusammen erlebt. So haben wir uns entwickelt, das konnte der oder die damals schon richtig gut und schau, was daraus geworden ist. Solche Fotoalben können helle Landmarken im Leben setzen, wenn man irgendwann mal das Gute vergisst oder niemand mehr da ist, der einen erinnert.

Ich verbuche für mich die Kritik am Fotografieren in der gleichen Kategorie, wie es meine Familie wohl nervt, wenn ich nach gewaschenen Händen und wetterangemessener Kleidung frage. Mütter nerven dann eben. Tja.

 

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

Das Lächeln gefriert

Hauke Hullen möchte den Moment genießen – ohne Fotobuchgedanken.

Hauke: Familienfeier im Garten: Die ganze Verwandtschaft ist da, unsere Kinder baden in Geselligkeit und herzlicher Aufmerksamkeit, als unser 6-Jähriger stolz seiner Cousine Jule den aktuellen Wackelzahn präsentiert. „Komm, den hol ich dir raus“, verspricht die 24-Jährige. Man muss dazu wissen: Jule ist nebenberuflich Zahnfee. Wann immer sie uns besucht, verlieren unsere Kinder einen Milchzahn. Es bahnte sich also ein spektakuläres Ereignis an, da unterbricht die beste Ehefrau von allen: „Moment, die Kamera!“

Es folgt eine hektische Suche nach dem richtigen Handy, dem richtigen Winkel und dem richtigen Bildmodus: Porträt, Panorama oder doch lieber ein Video? Vielleicht in Slow Motion? Am Ende gibt es alles auf einmal, weil inzwischen die gesamte Sippe ihre Handys im Anschlag hat, um dutzendfach zu dokumentieren, wie die zupackende Cousine eine weitere Lücke in der Kauleiste unserer Kinder hinterlässt. So geht das ständig. Bei jeder sich nicht bietenden Gelegenheit ist Katharina dem Zwang erlegen, alles fotografisch festhalten zu müssen – für das legendäre Fotobuch, was stets für die Großeltern und für uns unterm Weihnachtsbaum liegt.

Am schlimmsten ist es, wenn sie ein neues Handy mit neuen Kamerafunktionen hat. Dann gleicht jeder Sonntagsspaziergang einer Hetzjagd, bei der Mann und Mäuse vor der wildgewordenen Knipserin flüchten. In diesen Zeiten entstehen besonders viele menschenleere Landschaftsaufnahmen, bei denen man mit etwas Glück dann doch ein paar Familienmitglieder entdeckt, die sich entnervt hinter den Bäumen verstecken.

Denn die Fotos rauben zwar nicht uns die Seele, aber dem Moment. Wenn Kathi das pralle Leben festhalten will, tut sie exakt das: Das Leben und alle Personen erstarren, das Gelächter hört auf, das Lächeln gefriert zur Grimasse – und all die Leichtigkeit ist weg.

Warum kann man nicht einfach den Augenblick genießen, ohne ständig an die fotogene Verwertbarkeit denken zu müssen? Und warum müssen immer wieder künstlich Aktionen gestartet werden, nur damit schöne Fotobuch-Motive entstehen? Das Fotobuch entwickelt sich zu unserem analogen Instagram-Channel, zu einer Puderzucker-Version unseres Lebens!

Besonders sinnfrei dabei: die Selfie-Seuche. Ganze Urlaubsalben, die nur aus den immer gleichen zwei Visagen bestehen. Immerhin bestraft die Kamera diese Selbstbezogenheit mit übergroßen Nasen, weshalb man diese Bilder nachher auch keinem mehr zeigen mag. Informativ sind die Fotos eh nicht: Man weiß zwar, man war da, sieht aber nicht, wo.

Klar, die Kinder schauen sich gern die Bilder von früher an. Sie glauben dann sogar, sich an diese Kindheit erinnern zu können – dabei weiß die Wissenschaft längst, dass man mit Fotos Erinnerungen in den Köpfen säen kann. Könnte sich Kathi auf diese Weise nicht viel Arbeit ersparen, indem sie einfach ein paar hübsche Motive aus dem Internet kopiert? Hier, unser Hawaii-Urlaub, und da, da warst du Fallschirmspringen! Dann könnten wir endlich in Ruhe unser Leben leben.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Politik

Große Politik am Küchentisch

Katharina Hullen findet den in Lockdownzeiten eingeführten Familienrat großartig.

Katharina: Politik ist, wenn sich Menschen streiten. Insofern gibt es in unserer Familie jede Menge Anlässe für Politik. Die spannende Frage ist: Auf welche Weise wird gestritten? Und: Sind Kinder überhaupt ernst zu nehmende Verhandlungspartner bei der Suche nach tragfähigen Lösungen? Da haben uns die Lockdownzeiten mindestens eine gute Sache gebracht: den Familienrat. Ehrlich, liebe Leserin, lieber Leser, ihr würdet staunen, wie viel Struktur und neue Kompetenzen so ein Rat in das Familienleben bringen kann. Nach zwei Jahren verstehe ich zuweilen Herbert Grönemeyers Forderung nach „Kinder an die Macht!“. Kinder finden erstaunlich schnell Kompromisse und Auswege aus Konflikten. Wir führten den Rat ein, um uns allen eine Struktur – eine Art Stundenplan – zu geben, nach der wir uns richten konnten. Wir wollten nicht gänzlich im Schlafanzug, vereinzelt oder im Streit miteinander vor irgendwelchen Endgeräten verlottern. Am Ende ist dieser Rat nun viel mehr als das geworden. Hier werden nicht mehr nur Wochenpläne geschrieben, sondern eigene Meinungen, Wünsche und Pläne vorgebracht, debattiert und ausprobiert. Auch Konflikte oder Dinge, die nicht so toll laufen, können hier angesprochen und gemeinsam angegangen werden. Wir alle haben gelernt, die berechtigten Interessen der anderen wahrzunehmen und uns bemüht, ein Familienleben zu gestalten, in dem diese Interessen möglichst ernst genommen werden. In einem Sieben-Personen-Haushalt wird es immer eine schwierige Herausforderung bleiben, Freiräume für die Einzelnen herauszuholen. Allein das Bewusstsein für die Wünsche der anderen, weil man schon mal zugehört hat, hat unser Miteinander verändert. Gehört zu haben, was die Eltern besonders belastet, führte zu zusätzlichen freiwilligen Tischdienstzeiten unserer großen Mädels, zu unaufgeforderten Spielzeiten mit den kleinen Brüdern oder dazu, dass Kleidung nicht so schnell in der Wäsche landet. Auch die Verteilung der sonstigen Aufgaben wird immer mal wieder neu verhandelt und organisiert – so lernen wir alle direkt zwei Dinge: vernünftige Absprachen funktionieren und das Leben ist kein Ponyhof. Und natürlich hatten die Mädels auch schnell raus: Je kooperativer das Familienleben, umso offener sind wir für Ideen, wie ihr Engagement belohnt werden könnte. Auch bei großen Entscheidungen wird gemeinsam diskutiert. Geht es im Sommer ans Meer oder in die Berge, in ein Ferienhaus oder eine Jugendherberge? Prompt werden Listen mit den Vor- und Nachteilen erstellt und kunstvoll ausgeschmückt, die Auswahl immer weiter eingegrenzt und schließlich entschieden. Unser Familienleben ist keinesfalls konfliktfrei, aber wir haben uns und unseren Kindern ein politisches Forum geschaffen. Es ist beeindruckend: Bei wichtigen Themen schaffen es auch ganz kleine Kinder, wie große Politikerinnen und Politiker zu agieren.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

Haarspaltereien im grossen Krieg

Hauke Hullen sieht kindische Muster in der Weltpolitik.

Hauke: Debatten am Küchentisch im Vergleich zur Weltpolitik? Nach ein paar Jahren Beobachtung komme
ich zu dem Schluss: Alles der gleiche Kindergarten! Die politischen Kompetenzen gleichen sich hier wie dort. Dass Kinder nur beschränkt Einsicht in übergeordnete Zusammenhänge haben, ist nachvollziehbar. An ihrem „Ich! Will! Aber!“ zerstäubt jedes Argument. Doch als Eltern hoffen wir, dass durch gute Erziehung das Menschlein heranreift und irgendwann vernünftigere Entscheidungen treffen kann. Vor allem, wenn solche Individuen an der Spitze von Staaten stehen. Dort sollten doch Profis arbeiten, deren rationales Handeln am Allgemeinwohl ausgerichtet ist. Der Ukraine-Krieg zeigt, dass es nicht so ist. Absonderliche Ausreden werden konstruiert, um die Einnahme des Bruderstaates zu rechtfertigen, letztlich ein einziges wütendes „Ich! Will! Aber!“. Ja, mag sein, dass die Bauklötze einst Kind A gehört haben. Doch im Laufe der Zeit änderten sich die Eigentumsverhältnisse – mit dem Einverständnis von eben diesem Kind. Darum darf man nun auch nicht einfach zurückfordern, was man einst besessen oder verschenkt hat. Wie heißt es? „Geschenkt ist geschenkt, und wieder holen ist gestohlen!“ Auch einige Ausreden scheinen jeder Erziehung zu trotzen, zum Beispiel: „Das war ich nicht!“ Süßigkeiten leer? Das war ich nicht! Zimmer unordentlich? Das war ich nicht! Krim erobert? Das war ich nicht! Hatte Putin 2014 doch tatsächlich seine Soldaten ohne Hoheitszeichen auf die Halbinsel geschickt und verneint, dass die Truppen aus Russland stammten. So wie ein Kind sich die Augen zuhält und hofft, nicht mehr gesehen zu werden. Der kleine Bruder vom „Das war ich nicht!“ ist „Das war der andere!“, mit dem die Verantwortung gerne in einer Täter-Opfer-Umkehr verschoben wird. Im familiären Kontext gipfelt das im leicht durchschaubaren „Der hat zuerst zurückgehauen!“ – und so werde ich auch misstrauisch, wenn russische Seiten behaupten, dass all die Krankenhäuser, Wohnblocks und Schulen von den Ukrainern selbst zerbombt worden seien. Was für ein skurriler Krieg, wo der Angegriffene das Werk der Selbstvernichtung selber übernimmt! Apropos „Krieg“ oder „militärische Spezialoperation“: Auch das ist Eltern von Streithammeln wohlvertraut, dieses haarspalterische Abstreiten von Sachverhalten, weil die Titulierung vielleicht nicht exakt passt. Erst wird abgestritten, dem anderen vors Schienbein getreten zu haben – um hinterher einzuräumen, man habe das Knie getroffen. Kinder, ehrlich: Tritt ist Tritt, Bein ist Bein, Krieg ist Krieg! Und schließlich: Sobald Kind A etwas vorschlägt, ist Kind B dagegen, einfach weil der Vorschlag von Kind A stammt. Ich finde es durchaus berechtigt, auch diskutable Vorschläge abzulehnen, wenn diese von verabscheuungswürdigen Organisationen geäußert werden, denen der Vorschlag nur als Tarnung dient, um in der Gesellschaft salonfähig zu werden. Mit Rechtsextremen demonstriert man nicht, auch wenn diese nur die Abschaffung der Maskenpflicht fordern! Nun ist aber Kind A nicht per se verabscheuungswürdig, und auch die Mächte im UN-Sicherheitsrat sollten es eigentlich schaffen, sachorientiert miteinander zu arbeiten. Eigentlich. Es ist frustrierend: Bei wichtigen Themen schaffen es auch ganz große Politiker, wie kleine Kinder zu agieren.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Zwischen Geborgenheit und Abenteuer

Was ist überhaupt aufregender Sex? Christa und Dr. med. Wilf Gasser machen Paaren Mut, diese Frage für sich zu klären. Denn nur wenn beide wissen, was sie suchen, haben sie auch die Chance, fündig zu werden.

Sex mag uns als eine körperliche Angelegenheit erscheinen, aber entscheidend ist das, was sich im Kopf abspielt. Erfahrungsgemäß reden Paare zu wenig darüber, was hier abgeht – obwohl schon das offene Gespräch über Sex in der Paarbeziehung erotische Spannung aufbauen könnte. Doch was wünsche ich mir eigentlich? Mancher Austausch scheitert schon daran, dass die Ehepartner das selbst nicht so genau wissen. Vielleicht wussten sie es einmal, aber die Beziehung hat sich verändert und das Leben findet unter anderen Bedingungen statt. Deshalb hier ein paar gedankliche Leitplanken, die helfen, den eigenen Wünschen und Sehnsüchten auf die Spur zu kommen.

DAS SEXUELLE VERLANGEN ZWISCHEN „HOME“ UND „ABENTEUER“

Das sexuelle Verlangen umfasst zwei fast widersprüchliche Pole. Auf der einen Seite suchen wir Vertrautheit, Verlässlichkeit, Sicherheit, Annahme und Bindung. Auf der anderen Seite wollen wir Aufregung, Kick, Gewagtes und Neues. Bei vielen Menschen liegt das sexuelle Verlangen eher auf der einen oder anderen Seite, oder es kippt im Verlauf der Zeit auf eine der beiden Seiten. Und sicher spielt in dieser Frage auch unser Geschlecht eine Rolle sowie Veränderungen, die sich mit zunehmendem Alter ergeben.

Wir Männer haben vielleicht testosteron-bedingt eher den Wunsch nach einem intensiven, raschen Erregungsaufbau und einem ausgeprägten Kick. Der Abenteuer-Pol liegt uns naturgemäß recht nahe. In unseren Träumen spielen oft auch sexuelle Spielarten wie Oralsex und diverse Stellungen eine Rolle, und bereits die Gedanken daran können Erregungsgefühle auslösen. Unser Verlangen ist stark auf den Orgasmus ausgerichtet. Eine sexuelle Begegnung ohne Höhepunkt ist für die meisten Männer undenkbar. Was aber keinesfalls heißt, dass der „Home“-Aspekt für uns nicht auch für eine langfristig erfüllende sexuelle Beziehung wichtig wäre.

Wir Frauen verbinden Sex gerne mit „Home“ – einem Ort, an dem wir uns wohl und sicher fühlen. Wir können es genießen, wenn die sexuelle Begegnung zu einer Wellness-Erfahrung wird. Vertrautheit, Zuwendung und Liebe öffnen uns für die Möglichkeit einer sexuellen Begegnung. Vielleicht sogar für die Möglichkeit von Abenteuer. Aber nicht selten sind unsere Männer irritiert, weil wir Frauen nicht mit gleicher Begeisterung Abenteuer-Ideen einbringen oder weil es für uns nicht immer so einfach ist, uns auf ihre Wünsche einzulassen.

SEX MAL ANDERS ODER GANZ VERTRAUT

In den Träumen von Abenteuern hat alles Platz, was auf dem Boden einer vertrauensvollen Beziehung entsteht, und unter Wahrung von Würde und Achtung des Gegenübers ausgelebt oder humorvoll auch als untaugliche Idee verworfen werden kann. Ein erotisches Gespräch zum Beispiel oder das gemeinsame spielerische Entdecken von Dingen, die bisher nicht zum Repertoire gehörten. Statt Sex immer zum Abschluss des Tages kurz vor Mitternacht, warum nicht mal zu ganz anderen Zeiten? Oder mal ein Ortswechsel vom Bett auf das Sofa oder auf den Küchentisch? Oder mal ein Schäferstündchen in der Natur?

„Home“ heißt dagegen: Wir pflegen Vertrautes, wir schaffen eine Atmosphäre, in der sich beide wohl und sicher fühlen. Wir geben dem Raum, was uns guttut und uns zueinander bringt.

Erotische Spannung braucht langfristig unbedingt beide Pole: Home und Abenteuer. Es muss nicht immer ein Gleichgewicht herrschen, aber wenn wir auf der einen oder anderen Seite ein andauerndes Übergewicht haben und das Thema immer auch mit realen oder vielleicht nur vermeintlichen Vorwürfen verbunden ist, führt dies meist bald zum Verlust des Interesses an sexuellen Begegnungen. Zumindest bei demjenigen Partner, dessen Bedürfnisse zu wenig Beachtung finden …

Deshalb unser Tipp: Sprecht als Paar über die Illustration unten. Zuerst über den großen Bogen, in welchen langfristig gelingende Sexualität eingebettet ist. Hier sind die Stichworte dazu:

Verbindlichkeit: Maximale Intimität braucht maximale Verbindlichkeit
Exklusivität/Treue: Was sind eure Vorstellungen und Maßstäbe?
Balance von Geben und Nehmen, Schenken und Empfangen
Wie geht es unserem „Wir-Gefühl“? Wie erlebe ich Verbundenheit in der Sexualität?
Lasst euch dann auf das Spannungsfeld von Home und Abenteuer ein. Dabei ist es hilfreich, wenn beide zunächst mal für sich überlegen: Welche Punkte in der Illustration sind mir besonders wichtig? Man kann die Stichwörter auch auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten.

Dass diese Auseinandersetzung mit euren Erwartungen und Enttäuschungen euch möglicherweise auch sehr persönlich in Frage stellt, ist völlig normal! Sie ist aber die Voraussetzung für eine wachsende Intimität.

DAS PROBLEM MIT DEM TRÄUMEN

Es ist toll, wenn ihr über eure Wünsche und Träume ins Gespräch kommt. Gleichzeitig möchten wir euch davor warnen, sie zum Nonplusultra zu machen. Träume sind schön und sehr oft die Triebfeder für menschliches Handeln und für großartige Leistungen. Der Mensch ist ein mit Vorstellungskraft und Fantasie begabtes Wesen, und dies kommt nirgends so zum Tragen wie in der Sexualität. Schwierig wird es allerdings, wenn eure Träume und Vorstellungen gewissermaßen zum einzigen Maßstab werden. Was ihr in der Realität erlebt, ist dann nie wirklich gut genug. Wenn ihr zum Beispiel den gemeinsamen Orgasmus als das ultimative Beispiel von gutem Sex betrachtet, seid ihr jedes Mal enttäuscht, wenn ihr es wieder nicht schafft, obwohl ihr eigentlich für so vieles dankbar sein könntet.

Beim Thema Sex träumen manche lieber von der unerreichbaren sprichwörtlichen Taube auf dem Dach, statt die weniger spektakuläre Realität zu genießen. Die Enttäuschung ist damit vorprogrammiert. Und daraus entsteht dann leicht eine Schuldzuweisung an den Partner oder die Partnerin. Man klagt an oder fühlt sich angeklagt. Beides ist ein Lustkiller!

GOTT ALS COACH?

Versucht euer Gespräch über Home und Abenteuer damit abzuschließen, dass ihr je einen Punkt für mögliches Wachstum definiert. Und falls ihr mit Jesus bekannt seid und das gemeinsame Gebet möglich ist, dann empfehlen wir euch analog zum christlichen Tischgebet ein regelmäßiges „Bett-Gebet“. In unseren schwierigen Lern-Jahren (wohl nicht ganz zufällig auch die Kleinkind-Jahre …) haben wir recht treu vor intimen Begegnungen gebetet und Gott als Coach in unser Schlafzimmer eingeladen. Zugegeben, es war gewöhnungsbedürftig, ihn zum Thema „aufregender Sex“ so persönlich ins Spiel zu bringen!

Ich (Wilf) erlebte es als befreiend, im Gebet um eine leidenschaftliche und eine die Herzen verbindende sexuelle Begegnung zu bitten. Ich empfand als Mann auch eine gewisse Furcht vor der egoistischen und gierigen Seite der Sexualität. Unser „Bett-Gebet“ hat mir geholfen, mich mit meiner männlichen Triebkraft und hormonbedingten Leidenschaft zu versöhnen.

WOHER DIE „AUFREGUNG“?

Wenn ihr nachhaltig aufregenden Sex sucht, spielt es eine Rolle, aus welcher Quelle sich eure Träume nähren. Generell können wir Menschen uns darauf konditionieren, Erregung durch Reize wie zum Beispiel pornografische Bilder, Fetische oder bestimmte Handlungen zu suchen. Diese Reize sind zwar wirksam und führen zumindest einseitig zu einer gewissen Erregung. Aber sie sind ohne jeglichen Bezug zu einer realen Person, beziehungsweise die andere Person ist austauschbar.

Die gute Nachricht ist, dass wir lernen können, unseren Träumen eine Ausrichtung auf einen anderen liebevollen Menschen zu geben. Wir können uns angewöhnen und können es einüben, unsere „sexuelle Aufregung“ aus einer realen Beziehung heraus zu suchen. Wir können lernen, uns ohne Lust und ohne jegliche Erregung auf eine sexuelle Begegnung einzulassen. Und müssen dann aber wissen – beziehungsweise müssen es vielleicht auch erst lernen –, wie wir erotische Brücken bauen und so Erregung aufbauen können. Eine kleine Übung kann dabei helfen (siehe Tipp).

Wir laden euch ein, miteinander im Gespräch zu bleiben und euch einander unvoreingenommen zu begegnen. Selbst wenn das manchmal nicht ganz einfach ist – langfristig könnt ihr nur gewinnen!

 

TIPP: NACKTHEITS-ÜBUNG

Eine kleine und beliebig wiederholbare Übung kann euch helfen, euch auf eine partnerschaftliche Sexualität auszurichten. Sie kann aber auch eine Einstiegshilfe sein, wenn ihr euch für eine sexuelle Begegnung entschieden habt, aber noch keine Spur von erotischen Gefühlen vorhanden ist. Diese unscheinbare und auf den ersten Blick wenig aufregende Übung kann sich wie ein kleiner Spatz in der Hand zur Taube wandeln. Probiert die Übung doch mal aus und sprecht darüber, wie es euch dabei ergeht. Und sollte euch die Übung fast zu einfach scheinen, probiert es trotzdem! Ihr könnt nur gewinnen.

1. Schritt: Nackt nebeneinander liegen: Was macht das mit mir?
Beide Partner ziehen sich im warmen Zimmer nackt aus und machen es sich nebeneinander bequem, ohne sich zu berühren. Nun schließt eure Augen und entspannt euch. Nehmt euch für diesen ersten Schritt mindestens 10 Minuten Zeit. Beide horchen in sich hinein. Was macht das mit mir? Wie fühle ich mich? Wie fühlt sich die eigene Nacktheit an? Fühle ich mich wohl in meiner Haut? Wie fühlt sich die Nacktheit des Partners, der Partnerin an? Welche Gefühle löst dies bei mir aus?

2. Schritt: Einander berühren
Legt Arme und/oder Beine über- oder ineinander, aber ohne, dass ihr euch aktiv streichelt oder stimuliert. Nehmt euch dafür wieder 5-10 Minuten Zeit. Was macht dies mit mir? Wie fühlt es sich an? Fühle ich mich wohl dabei?
Austausch: Was habe ich am meisten genossen? Was war schwierig?

 

Christa und Dr. med. Wilf Gasser sind seit 1983 verheiratet. Sie haben drei erwachsene Kinder und acht Enkel und wohnen in einer kleinen Gemeinschaft in der Nähe Berns. Sie arbeiten als Sexualtherapeuten und bieten Seminare für Paare an: www.wachsende-intimität.ch. Der Artikel basiert auf einem Kapitel aus ihrem Buch „Der Traum vom guten Sex – Druck und Freiheit in der sexuellen Begegnung“.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Sinnlose Angebote

Im Wald baden

Katharina Hullen sucht zusammen mit ihrem Mann nach einem passenden Paar-Event und entdeckt allerhand Skurriles.

Katharina: Katharina: Kürzlich bekamen wir einen Erlebnisgutschein geschenkt. Nun stehen der beste Ehemann von allen und ich vor der Qual der Wahl, aus tausenden Erlebnissen das – ja, was genau soll es sein? – aufregendste, romantischste, erholsamste, außergewöhnlichste Event für einen besonderen Tag zu zweit herauszusuchen. Keine leichte Aufgabe, aber auf jeden Fall eine sehr unterhaltsame, denn neben all den Stadtführungen, Kochkursen und Funsport-Aktivitäten findet man allerlei skurrile Dinge, bei denen man sich fragt, warum Menschen dafür Geld ausgeben! So kann man sich für nur 29,90 Euro für 3 Minuten bei -150 Grad Celsius in einer Kältekammer einschließen lassen – was für ein Spaß, vor allem für mich, die schon bei 24 Grad plus fröstelt! Aber vielleicht ist es ja auch ein Schnäppchen – immerhin ist eine Tasse grüner Tee inklusive. Wer das gleiche Geld aus einem anderen Fenster werfen möchte, verschenkt ein Kinderhoroskop zur Geburt. Dort werden der Sternenstand am Tag der Geburt und die Auswirkungen auf Charakterzüge und Schicksal ausgewertet, vorhergesagt und in einer mehrseitigen Mappe zur Verfügung gestellt. Aha! Nein, vielleicht doch etwas Gemeinschaftsförderndes für die Paarbeziehung? Zum Beispiel Holzrücken: Da zieht man alte Baumstämme mithilfe von Pferden aus unwegsamem Waldgelände heraus. Für nur 84,90 Euro dürft ihr den ganzen Tag in schönster Natur dem Waldbesitzer seine schwere Arbeit abnehmen. Großartig! Wer zwar gerne im Wald sein möchte, aber dabei lieber nicht schuften will, bucht einfach 2,5 Stunden Waldbaden. Dort kann man mithilfe von diversen Achtsamkeitsübungen für 49,90 Euro die Ruhe des Waldes genießen. In Gruppen von bis zu 14 Personen. Und zwar in einem Waldgebiet in der Großstadt Essen, irgendwo zwischen A40 und A52. Und hier noch Empfehlungen für Tierliebhaber: Wem der Spaziergang in schöner Kulisse mit dem eigenen Partner nicht reicht, nimmt sich einfach wahlweise Alpaka, Rentier oder Esel mit. Was für eine wunderbare Vorstellung, wie Hauke vier Stunden lang mit einem Alpaka an der Leine durch Duisburg trottet! Wem das zu sportlich ist, dem sei das Husky-Knuddeln ans Herz gelegt: Für knapp 30 Euro darf man 2 Stunden lang einen Hund streicheln.
Interesse? Dann hätten wir auch selber noch ein paar Ideen: Wie wäre es mit meditativem Wäschefalten im Hause Hullen, pro Stunde für nur 19,90 Euro? Oder ihr puzzelt mit unserem 8-jährigen Autisten 4 Stunden lang das gleiche Puzzle? Alternativ könnten wir auch das große „Abenteuer Prozentrechnung (7. Klasse)“ anbieten (das Abfragen der Englisch-Vokabeln ist optional zubuchbar) für nur 49,90 Euro. Gibt auch eine Tasse Tee dazu! Ach ja, dieser Gutschein zeigt wunderbar, wie kreativ der Mensch werden kann, um Dinge an den Mann und die Frau zu bringen. Uns hat er eine schöne und lustige Paarzeit beschert – und zwar bereits beim Aussuchen des Erlebnisses. zeAls wir ihn einlösen wollten, war er schon abgelaufen.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

Rehrücken-Shampoo für gefestigte Persönlichkeiten

Hauke Hullen kämpft mit Haushaltshelfern, die nicht helfen, und badet in Bolognese.

Hauke: Was für ein Jammer! Da ist der Mensch als Krone der Schöpfung mit göttlicher Kreativität gesegnet – und was macht er daraus? Er erfindet Dinge, die kein Mensch braucht. So blockiert seit Jahren ein Zwiebelschneider wertvollen Platz in der Küchenschublade. Dieses Ding, mit dem man in wenigen Sekunden eine Zwiebel würfeln kann, um sich danach eine Viertelstunde lang mit der Reinigung abzumühen. Sein dümmerer Bruder ist der Bananenschneider: eine Schere, die mit nur einem Schnitt direkt sechs Scheiben abtrennt. Was man davon hat? Ein weiteres schwer zu reinigendes Utensil, aber dafür auch eine respektable Zeitersparnis im niedrigen einstelligen Sekundenbereich. Und kennen Sie den Butterstempel? Einfach die Schablone leicht auf die Butter drücken, und schon zeigen feine Linien an, wie groß eine 20-Gramm-Portion ist. Wie haben die Leute bloß früher gewusst, wie viel Butter sie für ein Brötchen brauchen? Da wäre außerdem die Plastikdose für exakt eine Kiwi. Wann kommt die Dose für ein Paar Kirschen oder eine Erdbeere? Frühstücksboxen für Bananen gibt’s schon, gelb und gebogen. Was die Box nicht weiß: Die Norm-Bananen aus dem Supermarkt sind fast gar nicht mehr krumm, passen also gar nicht hinein. Wohl dem, der jetzt einen Bananenschneider hat!
Während hier unsere Intelligenz subtil beleidigt wird, geht es an anderer Stelle offensiver zu: Kaum sitze ich am Frühstückstisch, schreit mich mein Müsli an: „Feige Nuss!“ Der Honig nimmt mich nicht ernst und will mir seine Herkunft nicht verraten: Er komme „aus EU-Ländern und Nicht-EU-Ländern“. Warum schreibt man nicht direkt „Honig von irgendwo“? Oder: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“? Immerhin, der Käse ist ehrlich und sagt mir, wer und woran ich bin: „mittelalt“. Auch das Bad ist voll mit unnützen und missverständlichen Produkten: Wonach werde ich riechen, wenn ich das Shampoo „Frohe Weihnachten!“ benutzt habe? Nach Bratapfel oder Rehrücken? Das Duschgel meiner kleinen Söhne heißt „Wilde Tiere“. Wollte ich diesen Geruch nicht eigentlich loswerden? Auch das Duschgel von „Puma“ macht mich misstrauisch. Darum greife ich lieber zum nicht ganz so exotischen Badezusatz „Thymian & Oregano“ – um den Rest des Tages ein Odeur zu verbreiten, als hätte ich in Bolognese-Sauce gebadet. Was aber gewiss erträglicher ist als die gewagte Kombination des Axe-Duschgels „sneakers & cookies“. Turnschuh & Keks, ernsthaft? Schon der Drogerie-Einkauf erfordert eine gefestigte Persönlichkeit, legen diese Produkte doch den Finger in jede Wunde: „Fettiges Haar! Spröde Haut! Trockene Haare!“ Angeblich sollen die Shampoos umso besser sein, je mehr Beleidigungen draufstehen. Ein Wunder, dass sich so etwas verkauft. Aber schon der Ökonom Jean-Baptiste Say wusste: Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage – offenbar auch, wenn das Produkt weitgehend sinnfrei ist. Apple warb einst mit „Wenn du kein iPhone hast, dann hast du kein iPhone“, eine Kinder-Spielkartenserie mit dem Slogan „Sammel sie alle!“ – kaufe etwas, damit du es hast. Der Besitz als reiner Selbstzweck – manchmal ist die Krone der Schöpfung ganz schön dämlich.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Glückwunschkarten

Wertschätzung brauchen wir alle

Katharina Hullen steckt viel Zeit in Geburtstagskarten. Leider wird sie häufig trotzdem nicht rechtzeitig fertig.

Katharina: Heute sind unsere Zwillinge zum Geburtstag ihrer Freundin eingeladen. Das Geschenk ist besorgt und hübsch verpackt. Ich frage die Mädchen, ob sie Karten zu ihrem Geschenk geschrieben haben. Und es ist wie jedes Mal: Die eine Tochter zückt ein effektvoll gebasteltes Karten-Kunstwerk voller Pop-up-Elemente und Geheimfächer, wohingegen die andere motzig in ihrem Zimmer verschwindet, um noch schnell auf ein nacktes DIN A4-Blatt ein paar Glückwünsche zu kritzeln. Sticker drauf, fertig! Sie pfeffert ihr Werk neben das Geschenk mit den Worten: „Echt, Mama, kein Mensch schreibt mehr Karten! Die will auch keiner lesen und am Ende werden sie eh weggeworfen!“ Offenkundig scheint es eine Typfrage zu sein, ob man seinen Mitmenschen wenigstens zu bestimmten Anlässen auch ein paar nette Worte schreiben will. Aber ist es nicht so, dass jeder gern persönliche Karten bekommt? Ein paar Zeilen voll ehrlicher Wertschätzung und guter Wünsche? Ein Bildmotiv passend gewählt, eine liebevolle Bastelei, ein besonderer Umschlag? Alles doch Zeichen für: Ich habe an dich gedacht! Zwar wird es so ein Papier natürlich nicht gleich in den Nachlass des Beschenkten schaffen, doch ich hoffe, dass es ihm wenigstens für diesen Moment das Herz erwärmt. Wie sagte Mark Twain? „Von einem guten Kompliment kann ich zwei Monate leben.“ Doch das Problem ist: Um wirklich bedeutsame und tiefergehende Worte zu finden, braucht es leider auch viel mehr Zeit. Wie soll man es bloß schaffen, all die guten Wünsche, all die gemeinsamen Erfahrungen, all die Sympathie in wenigen Sätzen auf ein kleines Kärtchen zu quetschen? Oft schon habe ich stundenlang an den richtigen Formulierungen gefeilt – und dann die Karte doch in Haukes Hände gegeben. Einfach, weil wir jetzt wirklich losmussten. Und weil Hauke, obwohl er ein Beziehungsmuffel ist, ironischerweise dann doch die witzigsten Karten schreibt. Zwar nicht besonders tiefgründig, aber eben sehr unterhaltsam. Diese Texte fließen ihm einfach so aus der Feder – was für eine Gabe! Der Beschenkte hat immer ein Lächeln auf den Lippen! Und schmeißt die Karte dann nachher weg.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

Ein Jahr älter – na und?

Hauke Hullen findet das Tamtam, das um Geburtstage gemacht wird, völlig überzogen.

Hauke: Ich muss zugeben: Ich gratuliere nicht gerne. Vor allem nicht schriftlich. Und mündlich eigentlich auch nicht. Irgendwie erschließt sich mir der Sinn dieses Rituals nicht: Wofür soll ich gratulieren? Dass jemand es geschafft hat, ein Jahr älter zu werden? In der Regel war dazu keine besondere Leistung nötig – älter werden wir von ganz allein, das kann jeder bestätigen, der sich wie ich beim Schuhezubinden jedes Mal überlegt, was man bei der Gelegenheit noch alles erledigen könnte, wenn man schon mal da unten ist.

Nein – Anerkennung fürs Überleben verdienen nur diejenigen, die unter prekären Bedingungen aufwachsen, weil vielleicht im Stadtteil Gewalt grassiert, im Land eine Hungersnot wütet oder die Eltern Volksmusik hören. Logischerweise sollte man daher eher der Mutter des Jubilars zum Jahrestag ihrer Niederkunft gratulieren – war sie doch die einzige, die an dem Tag etwas Produktives gemacht hat. Die beste Ehefrau von allen will trotzdem, dass ich Leuten zu ihrem Geburtstag beglückwünsche, weil es darum gehe, dem anderen seine tiefe Wertschätzung zu zeigen. Wirklich? Einmal im Jahr? Und ausgerechnet an diesem einen Tag? Immerhin mag man seine Freunde und Bekannten ja meistens durchaus langfristiger als nur 24 Stunden, da müsste man ja eigentlich täglich oder wenigstens im Wochentakt ein paar warme Worte wechseln, oder? Außerdem gibt es auch Menschen, mit denen mich gar nicht so wahnsinnig viel verbindet. Sie teilen sich nur dank einer Laune der Natur den gleichen Lebensraum mit mir in Firma, Verein oder Kirche. Doch statt sich konsequenterweise neutral zu verhalten, muss man sich auch dort eine Gratulation abringen, vor allem, weil das Geburtstagskind den Weg zum Kuchenbuffet versperrt. Auch der Empfänger interessiert sich doch nicht wirklich für die wohlgesetzten und tiefsinnigen Sentenzen, die wir mit Herzblut auf die Karte gezirkelt haben. Für meine Kinder ist das Kartenlesen eine lästige Pflicht vor dem Auspacken, dessen einziger Sinn darin besteht, die Spannung auf das Geschenk zu erhöhen. Wozu also der ganze Stress? Am nervigsten sind Chatgruppen auf WhatsApp & Co. Irgendwer sammelt immer ein Fleißkärtchen und schickt um kurz nach Mitternacht den ersten Glückwunsch auf die Reise. Danach pingt und brummt es, bis der Akku leer ist. Irgendwann sieht man sich genötigt, sich den zahlreichen Vorrednern anzuschließen. Man möchte ja nicht wie ein gefühlskalter Idiot erscheinen, weil man als Einziger nicht gratuliert. Vor ein paar Wochen hatte ich übrigens selbst Geburtstag. Viele haben mir gratuliert. Hat mich sehr gefreut.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Herz versus Kopf

„Wichtigeres als Schule“

Katharina Hullen weiß, wie die Freunde ihrer Kinder heißen. Wo Bhutan liegt, findet sie nicht so essenziell.

Katharina:

Mark Twain sagte einmal: „Für mich gibt es Wichtigeres im Leben als die Schule.“ Nach monatelangem Homeschooling mit fünf Kindern weiß ich gar nicht, ob ich diesem Satz zustimmen oder widersprechen soll. Insbesondere, da Bildung für die Lehrer-Dynastie Hullen seit Generationen Elternsache ist. Es ist ein Wunder, dass sie mich ungebildetes Wesen überhaupt in ihren Kreis aufgenommen haben, denn wie sich zeigt, bin ich dem Homeschooling schon rein inhaltlich nicht mehr gewachsen. Was für ein Segen, dass es den klugen Lehrer-Papa gibt, der in allen Fächern aushelfen kann, wenn’s mal nicht läuft. Wie wichtig doch Schule und Lehrer sind!
Dennoch kann ich auch Haukes Schüler verstehen, die nicht interessiert, wo Bhutan auf der Weltkarte zu finden ist oder wie sich ein Parlament zusammensetzt. Ich suchte in meiner Schulzeit auf der Landkarte nur die Länder heraus, aus denen Freunde stammten. So wusste ich genau, wo Sri Lanka lag, bei Österreich konnte ich nur raten. Mein Vater ist parteipolitisch engagiert, und zu Hause wurde immer viel diskutiert und gestritten. Ich schaltete bei diesen Debatten immer automatisch ab, was leider auch zu großen Wissenslücken führte. Als ich Hauke kennenlernte, wusste ich daher nicht einmal, was eine „Opposition“ ist. Peinlich. Bei einem der ersten Treffen bei meinen Schwiegereltern in spe wurde beim Kaffeetrinken über die physikalischen Abläufe beim Abbrennen einer Kerze philosophiert. Eine mir bis dahin völlig fremde Gesprächskultur. Und mitreden konnte ich auch nicht. Warum gab es für den belesensten Ehemann von allen und das naive Landei doch noch ein Happy End? Nun, mir waren diese Bildungslücken peinlich. So kaufte ich mir eine große Weltkarte, hängte sie über mein Bett und studierte sie. Ich las in der Zeitung nicht mehr nur den Panorama-Teil und ersetzte einige Serien durch Dokumentationen. Bildung lässt sich also aufholen.
Aber noch viel entscheidender für das Happy End war dieses „Wichtigere im Leben“, das Mark Twain vermutlich meint. Der andere, der bessere Teil von mir, der super zuhören, mitdenken, praktische Lösungen finden, mitfühlen, spontan reagieren und sich jede Menge Zeit für mein Gegenüber nehmen kann. Was hilft das Zahlen-Daten-Fakten-Wissen, wenn man nicht erkennt, wie es den Menschen um einen herum geht? Was nützt Bildung, wenn ich nicht fühlen kann, was jetzt wichtig ist?
Unsere Kinder wachsen in einem Haushalt auf, wo Wissen und Bildung durch Schule, Eltern, Großeltern und der Sendung mit der Maus quasi rund um die Uhr vermittelt wird. Sie erleben den klugen Papa, den man alles zur großen weiten Welt fragen kann, und eine kluge Mama, die weiß, wie die Freunde ihrer Kinder heißen, worüber sie lachen und weinen, die spielt, bastelt, Anteil nimmt und ihnen hilft beim Finden kreativer Ideen. So manche dieser guten Gespräche mit den Kindern gehen an meinem gebildeten Hauke vorbei, obwohl er mit am Tisch sitzt – weil er gerade Zeitung liest!
Ich bin sehr dankbar über unsere Mischung – denn so können unsere Kinder gebildete und einfühlsame Menschen werden. Gott sei Dank!

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

„Weil Liebe nie zerbricht“

Hauke Hullen ist entsetzt, wenn ein Schüler London in Ostchina verortet. Wie gut, dass sein 5-Jähriger die Umrisse von Deutschland kennt.

Hauke:

Beim Abendbrot entspinnt sich ein Gespräch übers Sodbrennen. Da beginnt die 14-Jährige zu dozieren: Die Speiseröhre sei mit einer Schutzschicht ausgekleidet, diese werde jedoch von der Magensäure zerstört, wenn sie aus dem Magen hochsteigt. Anschließend geht es mit Einzelheiten zur Phosphorsäure weiter. Woher sie das alles weiß? Aus dem Chemie-Unterricht. Vor lauter stolzer Glückseligkeit kann ich kaum in mein Brot beißen. Doch es wird noch besser: Wenige Minuten später rupft unser 5-Jähriger den Schinken von seinem Brötchen. Der Knirps hält triumphierend den Fleischlappen in die Runde und ruft: „Das sieht ja aus wie Deutschland!“ Tatsächlich: Durch ein paar Bisswunden entstellt hat der Aufschnitt eine Form angenommen, in der man mit ein bisschen gutem Willen die Umrisse Deutschlands erkennen kann. Nun, ich will das nicht überbewerten, doch dass der jüngste Spross meiner Lenden unsere Landesgrenzen in Rindersaftschinken mit Pfefferkruste wiederfindet … Sicherheitshalber kontrolliere ich, ob das Telefon frei ist, falls das Nobelpreis-Komitee anruft. Denn in der Schule sehe ich oft das Gegenteil: Jugendliche, die erschreckend wenig von der Welt da draußen wissen. Während meinem Dreikäsehoch Aufschnitt reicht, um Deutschland zu identifizieren, kenne ich Oberstufenschüler, die die Bundesrepublik selbst auf einer Weltkarte nicht finden. Angehende Abiturienten, die Kronjuwelen unseres Bildungssystems, welche in Bälde studieren und die Geschicke unseres Landes lenken werden, aber nicht wissen, wo London liegt und irgendwann auf die Ostküste Chinas tippen, weil es dort offensichtlich viele große Städte gibt. Da wird das „Land“ (!) Afrika in Südamerika vermutet, die Entfernung zum Mond auf 80 Kilometer geschätzt und in einem Referat die Eröffnung eines NS-Konzentrationslagers im Jahre 1994 verortet. Das habe so im Internet gestanden. Wer gerade Bundespräsident ist, wissen auch nur 25 Prozent meines Leistungskurses Sozialwissenschaften. Und wenn Sie mal richtig schlechte Laune kriegen wollen, dann fragen Sie einen Teenager, was 15 Prozent von 200 Euro sind. Nun, es ist wohlfeil, sich über Wissenslücken von Jugendlichen lustig zu machen. Aber hier geht es nicht um Unterrichtswissen, sondern um Allgemeinbildung, die jedem zufliegt, der mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht. Wie will man diese Welt verstehen, wenn man nichts von ihr weiß? Wie will man Absurditäten erkennen, wenn kein Orientierungswissen vorhanden ist? Trotz 500 Jahren Aufklärung halten viele Menschen YouTube-Videos für seriöser als den wissenschaftlichen Konsens, vertrauen auf homöopathische Placebo-Medizin und lassen sich willfährig von allerlei Geschwurbel infizieren.

Da tut Bildung not! Darum hatten die beste Ehefrau von allen und ich direkt eine Weltkarte übers Ehebett gehängt. Mit einem Zeigestock ging es dann auf abendliche Weltreise, damit man weiß, wo die Freiheit am Hindukusch verteidigt wurde, wo Nordkorea die USA mit Raketen bedroht oder wo im Nahen Osten die Kulturen aufeinanderstoßen. Und damit man mitreden kann, wenn der 5-Jährige in der Wurst fündig wird.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Wir sind eins!

Es gibt nichts Schöneres, als wenn zwei Menschen ganz in ihrer Liebe zueinander aufgehen? Doch, das gibt es, denn symbiotische Beziehungen sind nicht der Idealzustand. Irgendwann fehlt nämlich das Gegenüber. Von Christina Glasow

Musst du heute wirklich zum Sport? Lass uns doch lieber einen gemütlichen Abend zusammen auf dem Sofa verbringen.“ Den Satz hört Laura nicht zum ersten Mal von Marc. Sie bekommt ein komisches Gefühl in der Magengegend. Ja, sie möchte zum Sport! Dort trifft sie ihre Freundin und fühlt sich fit. Sie weiß aber, wenn sie jetzt geht, kann es sein, dass sich Marc ihr gegenüber morgen den ganzen Tag kühl verhält. Wahrscheinlich wird er ihr vorhalten, dass ihr der Sport wichtiger sei als die Beziehung.

Den distanzierten Marc auszuhalten, fällt ihr schwer. Sie wünscht sich Harmonie. Gleichzeitig würde sie doch gerne zum Sport gehen, aber sie weiß, dass sie das mit schlechtem Gewissen tun wird. Beim letzten Mal entschuldigte sie sich schließlich dafür, dass sie dem Sport den Vorrang gegeben hatte. So richtig von Herzen kam diese Entschuldigung allerdings nicht. Seitdem ist die Stimmung zwischen ihnen wieder harmonisch – zumindest sieht das von außen so aus.

HAUPTSACHE HARMONISCH

Wenn die eigenen Bedürfnisse und Gefühle unterdrückt werden, damit die Beziehung harmonisch verlaufen kann, spricht man von symbiotischen Verhaltensmustern. Die Partner agieren nicht eigenständig, sondern in Abhängigkeit vom Verhalten des oder der anderen. Authentisches Verhalten wird unterdrückt, zum Beispiel aus Angst vor Verlust, Konflikten oder Ablehnung.

Solche Tendenzen gibt es, unterschiedlich ausgeprägt, wohl in jeder Beziehung. Das ist bis zu einem gewissen Grad und in bestimmten Situationen auch unproblematisch. Schwierig wird es, wenn einer oder beide Partner sich dabei nicht mehr wohlfühlen. Das wird wahrscheinlich irgendwann passieren, denn damit Symbiose funktioniert, bleibt nur ein sehr begrenzter Bewegungsspielraum, die Grenzen sind starr.

Doch jeder Mensch hat sein Leben lang den Drang nach Entwicklung und Entfaltung seines Potenzials. Entwicklung bedeutet Veränderung, Beweglichkeit, Flexibilität. Ein starres Beziehungssystem steht dann irgendwann im Weg. Wenn wir auf Dauer nicht sein können, nicht authentisch leben können, macht uns das unglücklich.

ERLERNTE STRATEGIEN

Aber wie kommt es eigentlich, dass wir manchmal nicht wir selbst sind? Wir alle sind geprägt von Werten und Erfahrungen, die uns in der Kindheit vermittelt wurden. Damals haben wir gelernt, welches Verhalten wir an den Tag legen sollten, damit unser Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe gestillt wird. Ein Beispiel: „Wenn ich immer lieb und brav bin, werde ich gelobt.“ Niemand will immer nur lieb und brav sein, aber als Kind waren wir von unseren Eltern abhängig. Sie waren für die Erfüllung unserer Bedürfnisse zuständig, also haben wir uns entsprechend verhalten.

Anstelle unseres authentischen „Selbst“ haben wir also eine Variante unseres „Selbst“ entfaltet, das uns die Befriedigung unserer Bedürfnisse gesichert hat. Als Erwachsene stehen wir nicht mehr in dieser Abhängigkeit. Wir können frei über unser Leben bestimmen. Doch die altbewährten Strategien sind tief in uns verwurzelt. Sie funktionieren oft auch heute noch. Aber es kann passieren, dass ihre Anwendung uns auf Dauer ausbrennen lässt. Dass wir bitter und dünnhäutig werden, dass wir es als Druck und Stress empfinden, ein Selbst zu leben, das wir gar nicht sind. So setzt der Gedanke an den nahenden Sportabend und das damit wahrscheinlich verbundene Gespräch mit Marc Laura unter Stress, sie bekommt Herzklopfen. Doch wie kann ich überhaupt wissen, wer ich bin? Lässt sich ein authentisches Leben mit einer liebevollen Beziehung verbinden oder ist dann jeder auf seinem eigenen Trip unterwegs?

„DER MENSCH WIRD AM DU ZUM ICH“

Der Schweizer Psychoanalytiker und Paartherapeut Jürg Willi vertrat die These, dass sich Menschen nicht in mitmenschlicher Unabhängigkeit entwickeln, sondern in Beziehung zu anderen Menschen. Die Intensität einer Liebesbeziehung ist einzigartig und trägt somit die größte Chance auf Entwicklung in sich. Wer sieht mich sonst so ungeschminkt und auch mal unreflektiert oder unausstehlich? Kein anderer Kontext meines Lebens bietet so viele Interaktionen und damit die Möglichkeit für Austausch, ehrliche Kritik und Feedback.

Sehr schön zusammengefasst ist das in dem Satz von Martin Buber: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Mit dem Du ist es wie mit einem Spiegel, der mir die Möglichkeit gibt, mich selbst zu sehen. Vielleicht mag ich nicht alles, was ich sehe, aber alles gehört zu mir dazu. Manches könnte ich ohne den Spiegel gar nicht erkennen.

Sofern ich einen guten Draht zu meinem Inneren habe und authentisch lebe, ist eine Beziehung also eine super Basis, auf der ich mich persönlich entwickeln kann. Lebe ich aber nicht authentisch, birgt die Intensität der Liebesbeziehung auch das Risiko, dass sich destruktive Dynamiken entwickeln, die eine persönliche Entwicklung kaum zulassen.

Trotzdem ist es ein Balanceakt, im Gleichgewicht zwischen dem Bedürfnis nach Eigenständigkeit sowie nach Beziehung und Harmonie zu leben. Differenzierung lautet hier das Zauberwort. Der Psycho- und Ehetherapeut David Schnarch formuliert es so: „Jeder wird im Laufe seiner Differenzierung eigenständiger und sogleich kooperationsfähiger.“ Differenzierung bedeutet also: in engen Beziehungen zu leben und dabei ein stabiles Selbstgefühl zu bewahren und mein Agieren nicht von den Reaktionen des Gesprächspartners abhängig zu machen.

Nur so bin ich überhaupt ein echtes Gegenüber, ein Spiegel, durch den sich wiederum meine engen Bezugspersonen weiterentwickeln können. Differenzierung ist also nicht das Gegenteil von Nähe, sondern sie ermöglicht in der Partnerschaft erst eine gesunde Version von emotionaler Nähe.

AUTHENTISCH(ER) LEBEN UND TROTZDEM ZUGEWANDT BLEIBEN

Wie sieht das praktisch aus? Zurück zu Laura und Marc. Seit der Pandemie haben sie angefangen, im Home-Office zu arbeiten. Laura sitzt am Esstisch, Marc eigentlich im Büro. Er findet die Vorstellung schön, gemeinsam zu arbeiten, also kommt er dazu und richtet seinen Arbeitsplatz neben Laura ein. So könnte man sich zwischendurch noch unterhalten und zusammen einen Kaffee trinken.

Laura spürt, wie sich ihr Magen zusammenzieht und sich ein Gefühl der Enge in ihr ausbreitet. Sie braucht Ruhe und Platz zum Arbeiten, sie arbeitet am liebsten alleine. Diese Situation fühlt sich für sie nicht gut an.

Was nun? Das wären die Tipps für Laura, und nicht nur für sie:

  • Wahrnehmen und annehmen, was gerade in mir passiert.
  • Mein Empfinden und meinen Wunsch gut kommunizieren in Form von „Ich-Botschaften“ (von mir selbst und meinem Empfinden sprechen, ohne den anderen anzuklagen). Don’t: „Du engst mich ein. Du kannst doch im Büro arbeiten.“ Do: „Ich fühle mich gerade unzufrieden und merke, wie Ärger in mir hochsteigt. Ich kann mich schlecht konzentrieren, wenn wir hier zu zweit sitzen und wünsche mir, während meiner Bürozeiten alleine zu arbeiten. Ich freue mich aber, wenn wir uns zur Kaffeepause treffen.“
  • Konflikte als Chance betrachten, den anderen besser verstehen zu lernen, statt sie um jeden Preis zu vermeiden. Das gelingt durch „aktives Zuhören“: Nacheinander beiden Sichtweisen Raum geben, bis sich beide ganz vom anderen verstanden fühlen. Dabei ist das Ziel das Verstehen und auch Aushalten von unterschiedlichen Standpunkten.
  • Trotz Unterschiedlichkeit zugewandt bleiben und im Austausch über Gefühle und Wünsche sein.
  • Nicht den anderen verändern wollen, sondern erkennen, dass ich nur mich selbst (und damit auch die Beziehungsdynamik) ändern kann. Also die Verantwortung (nur) für mein Handeln übernehmen.

Wer symbiotische Beziehungsdynamiken durchbricht, erntet nicht unbedingt Beifall. Über ihre Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen und mehr Raum einzufordern, ist Laura auch schwergefallen. Marc fühlte sich abgelehnt und ungeliebt. Das auszuhalten, war herausfordernd. Mit der Zeit erkannte er, dass sie sich nicht von ihm abgewendet hatte, sondern nur den für sie so wichtigen Freiraum beanspruchte.

Ihr Durchbrechen dieses symbiotischen Verhaltens ermöglicht auch ihm, sich weiterzuentwickeln. Er lernt, selbst mehr auf seine eigenen Bedürfnisse zu achten und entwickelt für ihn passende alternative Strategien, unabhängig von Laura. Er erlebt auch, dass Laura ihm diese nicht übel nimmt. Im Gegenteil, beide genießen es, Dinge alleine zu tun und dann auch wieder gemeinsam Zeit zu verbringen. Ganz freiwillig.

Christina Glasow arbeitet als Paarberaterin und psychologische Beraterin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Pulheim bei Köln. www.christinaglasow.de

Ein Paar, zwei Perspektiven: Musik

„ÜBER SIEBEN BRÜCKEN MUSST DU GEHEN“

Katharina Hullen musste als Kind viel Schlager hören. Ihre eigenen Kinder wollte sie für richtig gute Musik begeistern. Eigentlich.

Katharina:

Die Geschichte wiederholt sich ständig – im Großen wie im Kleinen. Katastrophen und Krisen ebenso wie Mode- und Musikgeschmack. Bei Letzterem scheint es eine wichtige Komponente für jede neue Generation zu geben: Abgrenzung! Für die Entwicklung des eigenen Geschmackes gilt: Den Eltern darf es auf keinen Fall gefallen!
Als ich ein Teenie war, fuhr ich am liebsten mit meinem Vater allein im Auto, denn obgleich er nicht meinen Lieblingsjugendsender einstellte, konnten wir uns dennoch auf den Mainstream-Sender einigen, und da lief ja immerhin aktuelle Musik. Meine Mutter hörte den lieben langen Tag Schlager auf WDR 4. Schon zum Frühstück läuteten die „Glocken von Rom“ und insgesamt gehörte der Sender zu uns wie unser „Name an der Tür“.Noch heute belegen unzählige Schlager-Liedtexte wertvolle Hirnregionen in meinem Kopf. Das wollte ich auf jeden Fall bei meinen Kindern anders machen – sie sollten sich dank mir nur für richtig gute Musik begeistern.
Doch gerade entwickelt es sich leider gar nicht wie geplant, denn unsere drei Teenies haben dank des Digitalradios ihren eigenen Lieblingssender entdeckt. Wer Tischdienst hat, hat für diese Zeit auch Radiogewalt. So wummert dreimal täglich ein Sender mit den „absoluten TOP-HITS“ durch die Wohnung. Alle fünf Kinder tanzen und singen mit, so gut es eben geht. Es wäre so schön, wenn die Musik nicht so nervig wäre!
Schwierig wird es mit den verschiedenen Musikgeschmäckern auf gemeinsamen Autofahrten. Da reicht die Spanne von WDR Maus über Mainstream, die besten Hits von heute, Bildungsradio bis zum Kuschelrocksender und ja, irgendwie ist WDR 4 auch inzwischen gar nicht mehr so schlecht. Denn mittlerweile läuft da „unsere“ Musik der 80er- und 90er-Jahre. Puh, wie alt du wirklich bist, zeigt sich an der Wahl deines Radiosenders!
Hauke hört auch sehr, sehr gerne einen Sender, der viele alte Rocknummern spielt. Wie gut, dass ich da die Mehrheit der Kinder hinter mir habe, denn das geht nun wirklich gar nicht. Ausgenommen ist da nur unser Vierjähriger, der auf der Suche nach seiner Identität Männlichkeit noch mit E-Gitarren-Solos gleichsetzt. Was irgendwie vielleicht auch für meinen Mann gilt.
So will nun jeder seinen Lieblingssender hören. Für dieses Dilemma haben wir eine Lösung gefunden. Wir spielen einfach ein Quiz mit ständigem Senderhopping und raten Titel und Künstler. So sind die Chancen gleich verteilt. Auf den neuen Digital-Sendern sind die Kinder uns weit überlegen, beim Rocksender trumpft Hauke auf, bei WDR 4 wohl ich, und beim Mainstreamradio gewinnen wir alle – damals wie heute.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

„WEIL LIEBE NIE ZERBRICHT“

Hauke Hullens musikalische Geschmacksausbildung war recht eingeschränkt. Trotzdem schwelgt er in Erinnerungen an die eigene Jugendzeit.

Hauke: Auf Drängen meiner ältesten Tochter haben wir uns zu Weihnachten einen Musik-Streamingdienst gegönnt. Seitdem warten sagenhafte 60 Millionen Songs und unzählige Neuentdeckungen auf uns. Doch was mache ich mit meinen neuen, unbegrenzten Möglichkeiten? Ich fülle meine Playlist mit den Evergreens meiner Jugendzeit. Wie beim Erstkontakt mit Google Earth: Man könnte den ganzen Planeten erkunden und zoomt sich doch nur an das eigene Haus heran.
Die Playlists haben eine ganz eigentümliche Wirkung auf mich. Man muss dazu wissen: Meine Eltern hörten keine Musik. Das Radio blieb bei Autofahrten stumm. Wir Kinder besaßen keine Abspielgeräte. Musiziert wurde zwar viel, aber keine Musik konsumiert. In der frommen Blase meines Elternhauses war ich nur von Klassik und Gemeindegesang umgeben.
Umso prägender war darum der Einfluss, den der Musikgeschmack meiner Freunde und die Hits der Oberstufenpartys auf mich hatten. Wie bei frischgeschlüpften Gänseküken bin ich seitdem festgelegt auf das, was ich direkt nach meinem (musikalischen) Erwachen kennengelernt habe, auch wenn ich es anschließend kaum mehr hörte.
Stattdessen malträtieren nun unsere Teenager unsere Ohren mit … Nun ja, was sie halt so Musik nennen. Seichtes Popzeug, mit Instrumenten und Stimmen, die allein dem Computer ihre Existenz verdanken. Und am schlimmsten ist dieser Sender, der stolz damit wirbt, nur die aktuellen Top-Hits zu spielen. Von Platz 1 bis 30. Und dann wieder von vorne. Jede Stunde. Jeden Tag.
Mit blutenden Ohren rette ich mich zu meiner Playlist. Bei jedem Song, jedem dieser musikhistorischen Kleinode flackern Assoziationen durch die Brust: ewige Sommerabende, Fahrten und Freizeiten, durchtanzte Nächte – alles Erinnerungen an den Rausch einer flirrenden, verklärten Jugendzeit!
Doch was ist das? Besteht der Text dieser stampfenden Dancefloor-Nummer aus den 80ern wirklich nur aus zwei banalen Sätzen? Und ist dieser Rocksong – jetzt, wo man den englischen Text wirklich versteht – tatsächlich so unglaublich sexistisch? Peinlich! Und hier – das ist ja der gleiche Synthesizer-Sound wie beim E-Pop-Genudel meiner Töchter! Und ein paar meiner Hits der 80er- und 90er-Jahre laufen sogar, man höre und staune, in der Dauerschleife des Folter-Senders, und zwar als Coverversion. Da wundern sich meine Mädels immer mal wieder, wenn ihr alter Herr einen Song eher erkennt als sie.
So allmählich finde ich darum einige aktuelle Songs tatsächlich auch ganz annehmbar. Und wer weiß – wenn ich sie in 20 Jahren wieder höre, werden sie mich vielleicht auch wieder zurückführen in eine turbulente, rauschhafte Zeit voller Leben.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Kochen

HÜTERIN DER TRADITION

Katharina Hullen weiß, wie bestimmte Gerichte gekocht werden müssen. Trotzdem darf sich ihre Tochter gerne ausprobieren, aber nicht unbedingt ihr Mann.

Katharina:

Unsere älteste Tochter (13) hat sich zu Weihnachten ein leeres Rezeptbuch gewünscht. „Ich möchte schon mal anfangen, all die leckeren Familienrezepte aufzuschreiben, damit ich sie später nachkochen kann!“ Ich weiß ja nicht, wie konkret ihre Auszugspläne schon sind, hoffte aber beim Lesen des Wunschzettels, dass das noch ein bisschen Zeit hat. Sei’s drum – sie bekam ein schönes Buch, hat sich sehr darüber gefreut und es auch schon mit einem knappen Dutzend Rezepten gefüllt.

Denn sie ist unsere Backfee, und wann immer sich Lust oder Frust in ihr breitmachen, wird der Vorratsschrank geplündert. Das ist wirklich wunderbar – mit 13 Jahren wäre mir das im Traum nicht eingefallen. Vermutlich hätte ich es auch gar nicht allein gedurft, da Kochen und Backen ja auch irgendwie gefährlich sind. Nicht nur das Hantieren mit heißen Töpfen, Geräten und Flüssigkeiten hielt meine Mutter davon ab, mir die Küche zu überlassen. „Wie du das Messer schon hältst!“ war ein mehrfach geäußerter Satz, bevor mir selbiges entrissen wurde, was mir die Lust am freudigen Kochlöffelschwingen kräftig vermieste. Aber auch die unterschwellige Gewissheit, das richtige Würzen und Portionieren ohnehin nicht hinzubekommen, nahm mir das Selbstvertrauen, einfach mal drauflos zu kochen oder zu backen.

Unsere Große ist das totale Gegenteil. Sie ist herrlich souverän im Umgang mit „Fehlern“ und sie wird bestimmt mal eine großartige Köchin. Beispiel: Einmal produzierte sie aus Versehen einen gigantischen Hefeteig, weil sie irrtümlich 12 Eier in den Teig geschlagen hatte. Eine falsch abgespeicherte Erinnerung an ihren letzten Pfannkuchenteig! Egal – sie borgte sich noch ein paar Kilo Mehl von Oma, und wenig später verteilte sie die Berge von köstlichen, warmen und duftenden Zimtschnecken kurzerhand in der Nachbarschaft mitsamt der netten 12-Eier-Pannengeschichte.

Hauke ist auch so ein Improvisationstalent. Wenn er Hunger hat, steht er in der Küche und zaubert aus dem, was er finden kann, irgendein leckeres Essen. Rezepte findet er eigentlich eher lästig, schließlich hat er doch selbst ganz gute Ideen, welche Zutaten er mit welchen Gewürzen zusammenstellt. Und natürlich ist es fast immer lecker. Außer …
Außer er hält sich nicht ans Familienrezept! Daran, wie es immer gekocht wird! Was Neues ausprobieren? Soll er ruhig machen! Aber die Gewürze oder die Art zu verändern, wie ein traditionelles Gericht gekocht wird? Da werde ich nervös – das ist nämlich dann falsch!

Ja, Prägung ist manchmal eine schwierige Sache! Ich freue mich, dass ich es trotzdem geschafft habe, meinen Kindern schon Freiheiten in der Küche zu lassen.
Aber Hauke? Wie der das Messer schon hält!

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

KULTURKAMPF AM HERD

Hauke Hullen improvisiert gerne und bewegt sich mit seinen Kochkünsten auf schwierigem Terrain.

Hauke: Die Küche ist der Nahe Osten unserer Wohnung. Gleich mehrere Teile der hier wohnhaften Bevölkerung haben den Anspruch, in dieser Region das Sagen zu haben. Selbst die erst vor Kurzem eingewanderte jüngere Generation macht sich hier breit und nimmt dabei leider keine Rücksicht auf die Traditionen der Alteingesessenen.

Wobei – selbst bei den Alteingesessenen prallen uralte kulturelle Unterschiede aufeinander, die immer wieder zu heftigen Konflikten führen. Obschon die Küche als Mittelpunkt des Hauses mythisch aufgeladen und damit quasi heiliger Boden ist, toben gerade hier die erbittertsten Schlachten. Kommt das Salz ins Nudelwasser, bevor es kocht – oder erst danach? Müssen Zwiebeln, die später im Eintopf verschwinden, angebraten oder gedünstet werden? Ist der Zitronensaft im Salatdressing obligatorisch oder kann man ihn auch weglassen, weil das Grünzeug sonst ungenießbar wird und der Zahnschmelz wegplatzt?
Man könnte meinen, in einer Ehe seien diese Fragen von untergeordneter Bedeutung und man findet im Zweifel sicher schnell eine Lösung. Weit gefehlt!

Liebe geht durch den Magen, und wenn dieser Liebesbeweis absichtlich und heimtückisch falsch zubereitet wird, dann kann man auch gleich die Scheidungspapiere neben den Teller legen. So deute ich zumindest die Reaktion meiner Frau, wenn ich irgendwo den Muskat vergessen habe. Denn Katharina bemüht sich nach Kräften, die uralten Schriften und Legenden, die in ihrer Familie seit Jahrtausenden von Mutter zu Tochter weitergegeben werden, aufs Gramm genau zu befolgen. Ihre Kochkunst ist eine Buchreligion – und wehe, der Göttergatte erdreistet sich einer kleinen Improvisation! Laut geäußerte Überlegungen, ob der Kuchen nicht auch mit 510 Gramm Mehl gelingt, sind Ketzerei und rufen heiligen Zorn hervor. Da in dieser Umgebung Messer, Spieße und siedendes Öl nicht weit sind, habe ich inzwischen gelernt, die verworrenen Rituale stillschweigend mitzutragen.

Trotzdem bleibt die gemeinsame Zubereitung eines Partybuffets eine Herausforderung. Doch je knisternder die Stimmung in der Küche war, umso mehr freuen wir uns dann, wenn endlich die Gäste kommen. Die feiern dann mit uns einen runden Geburtstag, und die beste Ehefrau und ich feiern, dass wir das Kochduell beide überlebt haben.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Ein Paar, zwei Perspektiven: Routine und Abwechslung

MÖGLICHST ALLES WIE GEHABT

Katharina Hullen liebt die Routine.

Katharina: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Rituale und Routinen bringen Stabilität und Ordnung ins Chaos des Lebens. Sie sind der sichere Hafen unseres Großfamilienkreuzers.
Im Alltag weiß man oft kaum zu sagen, was in einer halben Stunde los sein wird. Da schätze ich Routinen doch sehr. Zum Beispiel: Ein überschaubares Repertoire an Gerichten im Kopf zu haben, vereinfacht das Kochen im Alltag ungemein. Es gibt zwar immer dieselben 15 Gerichte, aber alle machen satt und für jeden ist mal etwas dabei!
Mehrmals die Woche die gleiche Spazierrunde mit unserem autistischen Kind drehen? Die frische Luft und Bewegung tut uns beiden gut: Win win!
Im Urlaub immer an denselben Ort fahren? Finde ich nicht schlimm, sondern entspannend. Ich weiß: Dort auf dem Bauernhof stören wir niemanden, auch wenn wir laut sind. Wir wissen genau, was uns vor Ort erwartet, und die Kinder können nicht allzu viel kaputt machen. Für alle ist es ein bisschen wie nach Hause kommen.
Hauke, mein Bester, ist da ganz anders gestrickt: Neulich kam er mit einem Gänsebraten nach Hause. Er hatte Lust, etwas Neues auszuprobieren: „Einfach mal sehen, wie das geht.“ Während ich die Steuererklärung fertig machte, steckte der beste Ehemann von allen bis zum Ellenbogen in einem Gänsetorso. Um es direkt aufzulösen – es hat nicht geklappt, der Vogel war weitestgehend vertrocknet. Die Großeltern, die ob der Fülle des bevorstehenden Fleischgenusses eingeladen worden waren, konnten nur noch ein bisschen Gänsegulasch mit uns verzehren.
Auch die Spazierrunde meidet Hauke eher. Er findet es langweilig, immer nur im eigenen Viertel herumzulaufen. Er kann nicht einfach aufstehen und losgehen – nein, er sucht sich im Internet eine neue Strecke heraus, zu der man erst hinfahren muss, um dort zu sein, wo man noch niemals zuvor gewesen ist. Oder er setzt sich mit den Jungs in die nächste S-Bahn und fährt einfach mal los. So vor einigen Monate geschehen. Er sollte spazieren gehen und zwei Stunden später bekomme ich ein Foto aufs Handy – meine drei Männer vor’m Kölner Dom! Einfach mal ein spontanes Abenteuer – käme mir niemals in den Sinn!
Auch der immer gleiche Urlaubsort macht Hauke mehr zu schaffen als mir. In diesem Jahr waren wir tatsächlich mal auf seine Initiative hin ganz woanders und wir alle mochten die Abwechslung der Aktionen sehr, wenngleich die Unterkunft viel unentspannter war.
„Der Verstand liebt die Abwechslung, das Herz die Wiederholung.“ (Esther von Kirchbach) Eine schöne Erkenntnis – denn so wollen wir Familie leben, mit Herz und Verstand!

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

 

ROUTINIERTE ABWECHSLUNG

Hauke Hullen sorgt für kleine Varianten im Alltag.

Hauke: Nach diesem Jahr kann ich jeden verstehen, der von Abwechslung die Nase voll hat. In den letzten Monaten folgten die Neuerungen in so schneller Folge, dass man schier schwindelig werden konnte: Ist Deutschland noch Fußballgroßmacht oder nach dem 0:6 gegen Spanien doch nur eine Art Brasilien? Muss ein abgewählter amerikanischer Präsident tatsächlich abdanken oder kann er sich einfach zum Regenten aus Gottesgnadentum erklären? Darf man noch ohne Maske den Müll rausbringen? Was, wenn man dort zwei Personen trifft, ist das jetzt noch erlaubt – oder war das letzte Woche?
Wie wohltuend langweilig war da doch rückblickend das Leben 2019, wo Angestellte ein ödes Büro, Kinder einen muffigen Klassenraum und Gastronomen anstrengende Arbeit hatten!
Doch natürlich ist es unfair, hier nur die negativen Seiten des Unvorhergesehenen darzustellen. Routine beruhigt, aber um diese Ruhe auch aushalten zu können, braucht man zwischendurch kleine Abwechslungen. In meinem Fall sind deren Auswüchse lächerlich, ich weiß. Mir graust es vor den Mühen eines neuen Jobs, eines Umzuges, gar in ein fernes Land – aber zwischendurch mal auf einem anderen Weg nach Hause fahren, weil man sich an der alten Strecke sattgesehen hat, das geht! Für einen Phlegmatiker ist es eben auch eine Art, neue Welten zu erkunden, wenn man das Navi auf „Autobahnen vermeiden“ stellt.
Für meine beste Ehefrau von allen ist aber schon das zu viel der Aufregung. Kleine Alltagsfluchten scheint sie nicht so nötig zu haben wie ich. Was tun? Vielleicht einen Kompromiss schließen: Wir achten darauf, dass sich in unserem Leben Routine und Abwechslung ergänzen, dann haben wir regelmäßig Abwechslung – was dann aber dazu führen würde, dass die Abwechslung zur Routine wird. Dann wäre es geradezu ausgefallen, doch wieder alles wie immer zu machen – was für ein Dilemma!
Manchmal verhilft uns eine glückliche Fügung zu einer Entscheidung: Im letzten Sommer bot uns ein Bekannter an, für sehr kleines Geld in einer sehr schönen Ferienwohnung im Allgäu Urlaub zu machen. Wir rangen nichtsdestotrotz mit uns: Reicht denn nicht der Urlaub an der Nordsee, wo unsere Sippe seit unglaublichen 55 Jahren den Sommer verbringt?
Um es kurz zu machen: Es war ein wunderbarer Urlaub. Statt endloser Felder bis zum Horizont gab es hinter jeder Kuppe neue prachtvolle Aussichten, und statt altbekannte Attraktionen abzuklappern, entdeckten wir jeden Tag etwas Unbekanntes. Was für eine gelungene Abwechslung! Das machen wir jetzt jedes Jahr so.

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.