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Tor zur Freiheit?

Wenn die Kinder ausziehen, eröffnen sich neue Freiräume für die Eltern? Ja und nein, meint Birgit Weiß. Tatsächlich verändert sich ihre Rolle als Mutter und Ehefrau.

Als ich vor zwei Jahren eine ehemalige Schulfreundin traf, die das Führen ihres „Hotels Mama“ so gründlich satthatte, dass sie es ihren zwei erwachsenen Töchtern nahelegte, doch endlich auszuziehen, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, ob ich das eigentlich noch alles will. Denn im Grunde war ich noch mitten im Thema. Unsere Kinder waren 18, 22 und 24 und wohnten alle noch zu Hause. Die älteste Tochter und der Sohn studierten, die Jüngste ging noch zur Schule. Bei meiner ehemaligen Schulfreundin merkte ich jedenfalls ganz deutlich, dass ihre Seele extrem nach Freiheit lechzte. Dass sie nicht mehr länger bereit war, für erwachsene Kinder zu kochen, zu putzen und zu waschen, sondern dass sie nun endlich auch etwas von dem ihr „noch übriggebliebenen Leben“ für sich in Anspruch nehmen wollte.

WENIG ZEIT ZU ZWEIT

Einerseits konnte ich sie verstehen, andererseits empfand ich nicht genauso. Das Führen meines „kleinen Familienunternehmens“ betrachtete ich immer als wertvolle Aufgabe. Auch wenn ich mich um das Familienmanagement weitgehend allein kümmern musste, da mein Mann aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit nicht viel Zeit hat. Glücklicherweise befindet sich sein Büro aber in unserem Haus, sodass wir uns dennoch in einigen Bereichen ergänzen können. Ich kümmere mich zum Beispiel um die Buchführung, während er mir bei körperlich schweren Arbeiten in Haus und Garten hilft, sofern keins der Kinder da ist, das mit anpacken kann. Seine Selbstständigkeit brachte uns trotz allem aber auch schon immer den klaren Vorteil, dass wir als Familie alle zusammen am Esstisch sitzen konnten. Da allerdings bestimmten die Kinder weitgehend die Gesprächsthemen.

Unsere gemeinsamen Zeiten als Ehepaar dagegen hielten sich eher in Grenzen. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir uns einen regelmäßigen Ausgeh-Samstag freischaufeln konnten, an dem wir zum Schwimmen und anschließend zum Essen gehen. Aber selbst da ereilte uns beim Verlassen des Hauses so manches Mal noch die schnelle Frage: „Könnt ihr mir etwas mitbringen?“, und das haben wir dann auch meistens gemacht. Man kann die Kinder eben doch nicht ganz ausklammern, auch wenn man sich gerade mal etwas für sich gönnt.

FAMILIENZEIT GENIESSEN

Dass sich das auch jetzt, wo die Kinder erwachsen sind, nicht maßgeblich geändert hat, mag dem einen oder anderen übertrieben erscheinen, liegt aber vermutlich zumindest bei mir an dem Umstand, dass ich als Kind durch die Scheidung meiner Eltern, den frühen Tod des Vaters und die Alkoholkrankheit meiner Mutter kein normales Familienleben hatte. Deshalb schätze ich die Gemeinschaft mit meinem Mann und den Kindern umso mehr und bin bereit, eigene Wünsche zurückzustecken. Was natürlich trotz allem nicht heißt, dass ich mir nicht auch an manchem Tag ein freies Haus gewünscht hätte. Oder zumindest ein Plätzchen, an dem man nicht gestört werden kann. Mein Traum war immer ein eigenes Arbeitszimmer innerhalb der Wohnung, in dem ich die Buchführung sowie Schreibarbeiten in Ruhe erledigen kann, ohne dabei allzu weit von Herd und Waschmaschine entfernt zu sein. Da es sich aber aus Platzmangel nicht einrichten ließ, arbeite ich weitgehend im Wohnzimmer, und dort ist es eben äußert schwierig mit der Ruhe. Nicht zuletzt deshalb, weil die Kinder während ihrer Schul- und Studierzeiten sehr viel zu Hause und damit auch immer irgendwie um mich herum waren. Aber: Kann man als Mutter überhaupt erwarten, ungestört zu sein, solange die Kinder im Haus sind? Müssen nicht erst alle ausziehen, damit man sich auch einmal auf seine eigenen Angelegenheiten konzentrieren kann?

NAHTLOS IN DIE OMAPHASE?

Wenn ich mich im Bekanntenkreis umsehe, so kann ich feststellen, dass auch der Auszug der Kinder durchaus nicht immer das Tor zur Freiheit öffnet. Da begegnen mir beim Einkaufen Frauen meines Alters, die bereits mit ihren Enkelkindern unterwegs sind. Bei denen die Mutterphase nahtlos in die Omaphase übergegangen ist. Oftmals versorgen sie ihre Enkelkinder stundenweise, damit ihre Töchter oder Schwiegertöchter arbeiten können. Auch wenn einige von ihnen dies durchaus gern so handhaben, kann ich mir das im Moment noch nicht vorstellen. Ich würde mir zwischen Mutterphase und Omaphase doch einige Zeit Leerlauf wünschen, um mich wieder auf eigene Interessen besinnen zu können. Denn obgleich ich immer noch gern Mama bin, mache ich mir Gedanken darüber, was ich mit dem Leben „danach“ noch so anfangen könnte. Ein Besuchsdienst für ältere Menschen, den ich bereits im kleinen Rahmen begonnen habe, läge mir da zum Beispiel am Herzen. Ich empfinde den Kontakt zu älteren Menschen als Ausgleich, da sowohl Eltern als auch Schwiegereltern bereits verstorben sind und wir folglich keinen von ihnen mehr besuchen können.

Dass wir aus diesem Grund aber auch niemanden mehr haben, um den wir uns in den nächsten Jahren kümmern müssten, eröffnet gleichzeitig auch einen gewissen Freiraum für die Zukunft, den andere Ehepaare unseres Alters weniger haben. Die Fürsorge für die eigenen Eltern ist da ein Riesen-Thema und kann auch mal zu einer großen Last werden, wenn man die pflegerische Betreuung übernehmen muss, so wie das bei einer guten Bekannten der Fall ist. Sie hat auch jetzt, da ihre Kinder aus dem Haus sind, keine Zeit für sich. Sie habe das Gefühl, sagt sie mir, dass das Leben an ihr vorbeizieht. Dass sie selbst alt bei der Pflege wird und dass sie es als sehr frustrierend empfindet, dass niemand etwas von ihrer Leistung, die sie da im Stillen treu und täglich erfüllt, wahrnimmt. Obwohl ich sie nicht persönlich unterstützen kann, kann ich sie mit dem Gedanken trösten, dass Gott ihre Mühe sehr wohl sieht und ihre Fürsorge in seinen Augen sehr wertvoll ist. Jesus sagt ja: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40), und genau das hat mich persönlich getröstet, als mich vor über 25 Jahren die Sorgen um meine alkoholkranke Mutter selbst an den Rand der Erschöpfung brachten. Aber auch wenn diese Zeiten lange vorbei sind und unsere Ehe in Sachen „alternde Eltern“ keine Last zu tragen hat, leiden wir im Gegensatz darunter, dass sie viel zu früh verstorben sind. Wir vermissten sie im Laufe der Jahre nicht nur bei Familienfeiern oder den ersten Schultagen unserer Kinder, sondern generell. Wir hatten keinerlei Entlastung bei der Erziehung unserer Kinder. Und diese waren oft sehr traurig darüber, keinen Opa und keine Oma zu haben.

KINDER IN DER FERNE

Und während wir unsere Eltern vermissen, vermissen andere bereits ihre erwachsenen Kinder, weil es diese sehr weit in die Ferne gezogen hat. Denn auch das gibt es ja, dass Kinder nicht nur um die Ecke ziehen, sondern plötzlich Tausende von Kilometern weit weg sind, so wie das bei einer anderen Bekannten der Fall ist, deren junge Leute Hals über Kopf ausgewandert sind. Eigentlich kannte ich sie ja nur als unzertrennliches Gespann, nahe beieinander wohnend – und nun das! Keiner hatte damit gerechnet, die betroffene Mutter am allerwenigsten! Nun sieht sie ihre Lieben nur noch über Skype, hat schreckliche Sehnsucht und wird demnächst ihre Flugangst überwinden müssen, um sie besuchen zu können.

Als Elternpaar kennen auch wir das Spannungsfeld, in dem man sich befindet, sobald die Kinder aus der unmittelbaren Nähe verschwunden sind. Einerseits möchte man sie loslassen, gönnt ihnen und auch sich selbst die neue Freiheit, andererseits macht man sich trotzdem seine Gedanken und ist folglich doch nicht so ganz frei. Aktuell fühlen wir uns immer noch mitverantwortlich, weil unsere Kinder aufgrund ihres Studiums oder ihrer Ausbildung noch nicht ganz auf eigenen Füßen stehen.

Daneben kennen wir auch das Damit-Zurechtkommen- Müssen, dass sich Dinge plötzlich ganz anders entwickeln, als man sich das so gedacht hätte. Auch wir konnten uns nicht immer gleich mit allen Entscheidungen unserer Kinder anfreunden, sind aber im Laufe der Zeit flexibler geworden. Wir haben durch eigene und durch die Erfahrungen in unserem Bekanntenkreis erkannt: Es ist nicht gut, sich in gewisse Vorstellungen über die Zukunft zu verbeißen. Viel besser ist es, sich mit den jeweiligen Gegebenheiten bestmöglich zu arrangieren und in allem das Positive zu suchen.

LOSLASSEN EINGEÜBT

Um immer wieder über den häuslichen Tellerrand hinausschauen zu können, helfen meinem Mann seine Aktivitäten als Hobby-Musiker. Mir dagegen helfen Freundschaften, mein kleiner Besuchsdienst und vor allem mein Glaube an Gott. Ich merke immer wieder, wie der Herr mir beim Vergeben hilft, neue Kraft schenkt und meinen Liebestank treu auffüllt. Was ich immer schon als Privileg erachtet habe: Ich darf meine Lieben zu jeder Zeit und egal, wo sie sich gerade befinden, im Gebet begleiten. Zu wissen, dass der allmächtige Schöpfer des Universums höchstpersönlich auf sie Acht gibt, lässt mich am Abend ruhig einschlafen, auch wenn ich nicht weiß, wie sich alles weiterentwickeln wird.

Im Moment sieht es bei uns so aus: Unser Sohn ist in ein Studentenheim gezogen, das eine Autostunde von uns entfernt ist. Die Älteste kam kürzlich von einem halbjährigen Freiwilligendienst in Israel zurück nach Hause, um ihr Studium zu beenden, und die Jüngste lebt noch zu Hause, sucht aber nach einer Wohnmöglichkeit, um näher an ihrem Ausbildungsplatz zu sein. Der Gedanke, dass wir als Ehepaar auch bald zu zweit sein könnten, macht uns keinen Kummer. Zum einen hatten wir schon zwölf gemeinsame Jahre vor den Kindern, zum anderen haben wir das Loslassen inzwischen ja ein bisschen eingeübt.

Birgit Weiß lebt mit ihrer Familie in Oberfranken.