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Als Ruth das Sorgerecht für ihren Sohn verliert, bricht für sie eine Welt zusammen

Ruth Krüger* und ihr Mann trennen sich, als ihr Sohn Pascal* vier Jahre alt ist. Beim Kampf ums Sorgerecht herrscht Krieg.

Als die Ehe von Ruth Krüger* [Alle Namen geändert] und ihrem Mann zerbrach, waren beide zu jeweils 75 Prozent berufstätig. Allerdings war es überwiegend die Mutter, die sich um Pascal kümmerte: ihn zur Kita brachte und abholte, mit ihm zum Kinderarzt ging … Für Ruth war deshalb klar, dass ihr Sohn nach der Trennung bei ihr leben würde. Doch kurz nach der Trennung kündigte sein Vater an, „bis aufs Blut“ dafür zu kämpfen, dass sein Sohn bei ihm wohnt. Nach einem halben Jahr beantragte er das alleinige Sorgerecht für Pascal. Das Jugendamt stellte aber fest: Beide Eltern sind erziehungsfähig. Wo sollte das Kind also hin?

Pascals großer Wunsch: Beim Vater leben

Die Sache nahm eine unerwartete Wendung, als der vierjährige Pascal äußerte, er wolle mit der Familienrichterin sprechen. Daraufhin lud sie ihn und seinen Vater zum Gespräch ein. Darin stellte sie Pascal die Frage: „Wenn eine gute Fee kommen würde, was wären deine drei Wünsche?“ Pascal antwortete: „Den Weltfrieden, dass ich immer Computer spielen kann und dass ich bei meinem Vater leben kann.“ Damit war die Sache für die Richterin klar. Zu dieser Zeit – kurz nach der Kindschaftsrechtsreform 1998 – gab es gerade den Trend, beim Sorgerecht auch den Willen von kleinen Kindern zu berücksichtigen. Deshalb entschied die Richterin, dass Pascal für vier Wochen hauptsächlich bei seinem Vater leben sollte. Danach könne noch einmal neu entschieden werden.

„Doch im Grunde war das Thema damit entschieden“, erinnert sich Ruth Krüger. „Es wurden Tatsachen geschaffen.“ Als die vier Wochen um waren, war es kurz vor Weihnachten. Die Richterin schlug vor, dass Pascal bis zur endgültigen Entscheidung bei seinem Vater bleiben sollte. Ruth Krüger willigte schweren Herzens ein. Es fiel ihr nicht leicht, Pascal nur einen Nachmittag mit Übernachtung pro Woche und alle 14 Tage am Wochenende zu sehen.

Sohn leidet unter dem Sorgerecht-Verfahren

Dass Pascal sich damals dafür entschieden hat, bei seinem Papa zu wohnen, erklärt sich Ruth Krüger damit, dass er sich der Tragweite seiner Entscheidung nicht bewusst war. Immerhin war er erst vier. „Er dachte, mit der Entscheidung, bei seinem Papa zu leben, hätte er mehr Zeit mit ihm. Und die Zeit, die er mit mir hätte, würde so bleiben. Er konnte das nicht absehen, dass viele Sachen, die er mit mir hatte, wegfallen würden.“

Gegen die Entscheidung des Gerichts hätte Ruth Krüger Einspruch erheben können. Aber das wollte sie nicht: „Ich habe gesehen, wie sehr mein Sohn unter dem Verfahren gelitten hat. Ich habe darauf verzichtet, um ihn zu schonen.“ Gut ging es ihr damit nicht: „Mein Kind hat mir gefehlt“, bekennt sie.

Spekulationen: „Das hat mich sehr verletzt“

Als Pascal in der Schule war, drängte sein Vater darauf, den Mama-Nachmittag plus Übernachtung aufzugeben, und setzte das auch gegen Ruth Krügers Willen gerichtlich durch. Sie litt darunter, dass es häufig als Makel angesehen wird, wenn ein Kind nach der Trennung nicht bei der Mutter lebt. „Ich bin offen damit umgegangen und habe das auf der Arbeit und in meiner Gemeinde erzählt.“ Die meisten Menschen aus ihrem Umfeld gingen gut damit um. „Aber einmal hat eine Kollegin gesagt: ‚Na, das wird schon seinen Grund haben, warum dein Sohn bei seinem Vater lebt.‘ Das hat mich sehr verletzt“, gibt Ruth Krüger zu. Und sie kritisiert: „Wenn das Kind überwiegend bei der Mutter lebt, überlegt niemand, warum das so ist. Aber wenn es beim Vater lebt, wird spekuliert, was wohl der Grund ist.“

Inzwischen ist Pascal erwachsen. Mutter und Sohn haben sich offen ausgetauscht. Und Ruth Krüger musste feststellen, dass Pascal manches anders erlebt hat als sie: „Er meint, wir beide hätten ein distanziertes Verhältnis gehabt. Das habe ich nicht so wahrgenommen. Ich habe einen Jungen abgeholt, der sich gefreut hat, dass ich ihn abhole und der unsere gemeinsame Zeit genießt. Ich hatte auch den Eindruck, dass er emotional etwas nachholen muss, weil er meine körperliche Nähe gesucht und viel mit mir gekuschelt hat. Aber er hat das anders wahrgenommen.“

Drei Monate ohne das eigene Kind

Pascal hat seiner Mutter inzwischen erzählt, dass sein Vater ihm verboten hatte, über die Mutter zu reden. Außerdem wurden Päckchen, die Ruth ihrem Sohn schickte, vom Vater schlechtgemacht. Und er verhinderte immer stärker den Kontakt zur Mutter. „Als Pascal elfeinhalb war, habe ich ihn schließlich nur noch in den Ferien bei mir gehabt. Da gab es dann auch schon mal drei Monate, in denen ich ihn gar nicht sehen konnte.“

Ruth Krüger hätte vielleicht durch weitere Verfahren vor dem Familiengericht etwas an der Situation ändern können. Aber sie wollte ihrem Sohn diesen Druck nicht zumuten. „Pascal sieht es inzwischen auch so, dass er ganz schön viel zu tragen hatte. Er hat eigentlich alles mit sich selbst abgemacht. In vielen Dingen konnte er sich mir gegenüber nicht öffnen, weil sein Vater ihm verboten hatte, Dinge aus dessen neuer Familie zu erzählen. Und auch seinem Vater gegenüber konnte Pascal sich nicht wirklich öffnen. Daran hat er heute noch zu tragen“, stellt Ruth Krüger fest.

Kontakt zum Vater abgebrochen

Heute hat sie ein gutes Verhältnis zu ihrem Sohn: „Mit erwachsenen Kindern ist es ja so, dass man sich oft lange nicht sieht. Aber wenn wir uns sehen, dann ist es sehr schön, sehr vertraut.“ Zu seinem Vater hat Pascal nur noch wenig Kontakt. Dass er sich damals dazu entschieden hat, bei seinem Vater zu leben, verursacht ihm noch heute ein schlechtes Gewissen.

Die Frage, ob sie mit ihrem Ex-Mann ein grundsätzliches Gespräch über diese ganze Situation habe führen können, verneint Ruth Krüger. „Das ist nicht möglich. Er hat den Kontakt zu mir komplett abgebrochen.“ Aber sie möchte ihre Geschichte erzählen, um anderen Eltern in Trennungssituationen deutlich zu machen: „Vergesst nie, dass ihr euer ganzes Leben lang Eltern bleibt, auch wenn ihr euch als Paar trennt! Versucht, euren Kindern gemeinsam Eltern zu sein und gemeinsam Entscheidungen für sie zu treffen. Denkt an eure Kinder und nicht an euch und euer vermeintliches Lebensglück!“

Bettina Wendland ist Redaktionsleiterin von Family und FamilyNEXT. Sie lebt mit ihrer Familie in Bochum.