Glückliche Tiere statt Algenpulver: So arbeitet der Landmetzger
Thorsten Gerlach ist der letzte von ursprünglich sechs Metzgern in seiner Region. Täglich kämpft er gegen EU-Richtlinien und Billigfleisch aus Wurstfabriken.
Von Rüdiger Jope
Es ist 6:03 Uhr. Ich steuere das Auto durch die Nebelschwaden im Oberbergischen Land. Der Nachrichtensprecher erklärt, dass in Deutschland jedes fünfte geborene Schwein nicht einmal den Schlachthof erreiche. Deren Haltung mache sie so krank, dass Millionen Tiere frühzeitig notgetötet werden. Ursache dafür seien auch Billigpreise im Handel. Wenige Minuten später parke ich im gefühlten dunklen Nichts vor einem Schaufenster mit der Aufschrift „Landmetzgerei Gerlach“. Im Hinterhof klopfe ich an eine silberne Stahltür. Sie öffnet sich. Im gleißenden Licht posiert kurzärmlig mit Schürze und einem Messer in der Hand Metzgermeister Thorsten Gerlach. Ich trete in einen bis oben hin weiß gekachelten Raum. An Stahlhaken hängen ein großes Stück Rotwild und ein Wildschwein. Letzterem steckt – wie mir der Meister später erklärt – als Zeichen der Ehrfurcht und Dankbarkeit vor dem Leben noch ein Tannenzweig als letzter Biss im Maul.
Unglaublich fingerfertig
Gerlach schwingt präzise die Klinge. Mit etwas Abstand schaue ich stumm der unglaublichen Fingerfertigkeit des 40-Jährigen zu. Innerhalb von wenigen Minuten hat er den Tieren das Fell über die Ohren gezogen. Kollege Ingo rollt das rohe Fleisch am Deckenhaken zum Zerteilen in den Nachbarraum. Thorsten greift zum Dampfstrahler. Nicht zum letzten Mal verschwinde ich an diesem Tag in einer Wassernebelwolke. Mich fröstelt. An einer Kaffeetasse wärme ich meine Finger. Thorsten steckt seine linke 4,5-Finger-Hand in eine Art Kettenhemdhandschuh. Mit chirurgisch genauen und flinken Schnitten wird auf einem Brett das Rotwild zerteilt.
Wurst nach alter Väter Sitte
„Wie wird man Metzger?“, frage ich. Gerlach lacht und sagt: „Eigentlich wollte ich Gärtner werden. Doch meine Eltern sagten: ‚Nein! Du wirst Metzger! Schwein gegessen wird immer!‘“ Als Zehnjähriger fegt er beim Fleischer auf der anderen Straßenseite den Hof, hilft beim Schlachten, lässt sich in das Geheimnis der Wurstmacherei einführen. Thorsten bleibt unbeirrt dran. Der abwertenden Aussage eines Lehrers in der 8. Klasse, dass man für diesen Beruf nur „blöd, stark und wasserdicht“ sein müsse, setzt er Qualität, Wissen, Technologie und Tradition entgegen. „Wir machen hier noch Wurst nach alter Väter Sitte.“ Ich sehe, rieche und schmecke an diesem Tag: Landmetzgersein ist nichts für Hohlköpfe. „Qualitätswurst hat etwas mit Bildung zu tun“, schiebt er beim Wurstteigkneten energisch nach und bedauert, dass sein Beruf total verkannt sei.
Wurstmachen ist Kopfkino
Inzwischen ist er am „Kuchenbacken“. In eine motorisierte Schüssel, den Kutter, kippt er grobe Brocken Fleisch vom Rind und Schwein. Dazu fügt er Eisbrocken. Diese verhindern das Gerinnen des Eiweißes, halten die Temperatur niedrig und sorgen für weniger Wasser in der Wurst. Während der Kutter vor sich hin lärmt, eile ich dem Metzger nach in den Nachbarraum. Es riecht nach Paprika, Salz und Pfeffer. Thorsten stellt mit der Waage die richtige Gewürzmischung für die Fleischwurst zusammen. Ein Rezeptbuch sehe ich nicht. Er grinst und sagt: „Betriebsgeheimnis. Wurstmachen ist Kopfkino!“ Die Mischungsverhältnisse für seine mehr als 130 Sorten Wurst hat er im Kopf. Gurgelnd und schmatzend verschlingt der Kutter die Aromen. Thorsten schiebt mit seinen kräftigen Armen die wabbelnde cremige Masse, die inzwischen mehr nach Pudding als nach Fleisch aussieht, vom Rand in die Mitte der Maschine. Die Messer hacken gierig nach. Anschließend landet ein Teil des Bräts in Formen. „Das gibt Fleischkäse.“ Den größeren Teil jongliert er freihändig einmal quer durch den Raum in den Trichter der Wurstfüllmaschine.
EU-Regelungsirrsinn regt auf
Auf dem Stahltisch daneben steht ein Eimer mit gewässertem Naturdarm. Gekonnt schiebt Thorsten den hauchdünnen und hochelastischen Darm auf den Auslass. Per Fuß betätigt er einen Hebel. Die Wurstmasse schießt in die Hülle. Flink bindet er jeweils die Enden zu. Gleichmäßig reiht er eine Wurst an die andere. Die 28 Exemplare landen danach in einem Kessel bei 71 Grad. Jede Stunde muss er nun die gemessene Kerntemperatur in einem Heft dokumentieren. Meine Wozu-Frage kommentiert er knurrend mit einer abwinkenden Handbewegung: „Die EU-Verwaltung muss ja auch noch beschäftigt werden.“ Zwischen Schweigepausen, Wasserdampf und hektischen Telefonaten schlägt mir eine gehörige Portion Frust entgegen. Es ist ein scheinbarer Irrsinn. Statt stärker die Wurstfabriken zu maßregeln, zu kontrollieren, statt die Tiertransporte über tausende von Kilometern zu unterbinden, trägt man mit EU-Verwaltungsvorschriften die Nachhaltigkeit der Ortsmetzgereien zu Grabe.
Tierarzt statt Schlachter
Von ursprünglich sechs Metzgern im Umkreis von zehn Kilometern ist Gerlach der Letzte seiner Art. So darf der Landwirt, der sein Tier zum Schlachten bringt, nicht mehr den Schlachtraum betreten. „Was für ein Unsinn. Der ist Tag und Nacht mit dem Vieh zusammen, trägt die gleichen Keime wie sein Tier.“ Brach sich früher eine Kuh im Stall oder auf der Weide ein Bein, wurde der Metzger gerufen und machte dem Leid vor Ort ein Ende. „Heute muss das Tier vom Arzt eingeschläfert werden und wandert anschließend in den Abfall“, kommentiert er den ökonomischen Schwachsinn. Süffisant schiebt er nach: „Dafür schuften dann in Wurstfabriken wie bei Wilke schlecht bezahlte Hilfskräfte 14 Stunden am Stück.“
4 Euro statt 6 Cent
Dass die Ausgebeuteten keinen Blick für Qualität und Hygiene haben, hält er für verständlich. Hier sieht er vor allem den Kunden in der Pflicht, der „als König mehr Verantwortungsbereitschaft zeigen müsse“. Doch leider verhält der sich nach jedem „Skandal nur 48 Stunden königlich. Zwei Tage nach dem Empörungseffekt packt er sich dann wieder das billige Massenfleisch, die günstigste Wurst auf den Teller.“ Ich frage nach: Ist das legal? „Ja, die arbeiten alle innerhalb der gesetzlichen Vorschriften. So ist es erlaubt, Wurst mit Algenpulver zu strecken. Da würde mich das Kilogramm Wurst in der Herstellung 6 Cent kosten. Ich nehme jedoch Schweinefleisch. Das schlägt mit 4 Euro zu Buche. Das bin ich aber meinem Gewissen und meinen Kunden schuldig!“ Einen Ausweg aus dem Dilemma „billig, billiger, am billigsten“ sieht er nur im Abbau der Subventionen in der Landwirtschaft.
Lehrling gesucht
Wieder greift er zum Wasserschlauch. Die Maschinen werden gereinigt. In das Rauschen hinein witzle ich: Eigentlich ein Job für den Lehrling, oder? Thorsten zieht die Augenbrauen hoch. Fünf Jahre ist er schon auf der Suche. Er stöhnt resigniert. „Die wissen alle um ihre Rechte, aber wenn ich denen einen Besen zum Stroh auffegen in die Hand drücke, bleiben die am nächsten Tag weg.“
Glückliche Tiere schmeckt man
Mich fröstelt. 2 Grad. Wir stehen im Kühlraum, dem Parkplatz für drei Rinderhälften. Drei Wochen hängen diese hier ab. Während der Reifung wird durch die Trocknung der pH-Wert gesenkt. Das macht das Fleisch geschmackvoll und aromatisch. Thorsten lässt mich fühlen. Das Fleisch hat eine unterschiedliche Konsistenz. Er erklärt: „Links ist eine Kuh, die habe ich als Lohnarbeit für einen Landwirt geschlachtet. Diese hätte ich nicht gekauft. Die rechte Kuhhälfte stammt von einer glücklichen Kuh. Die habe ich vor Ort ausgewählt.“ Ich hauche mir in die Hände. Doch bevor ich meine verwunderte Frage stellen kann, steckt der zweite Meister seinen Kopf in den überdimensionierten Kühlschrank: Die Wurstabfüllmaschine ist ausgefallen. Der Elektriker muss her. Thorsten greift zum Smartphone. Der Elektriker fragt nach: Ist sie nass geworden? Thorsten lacht schallend: Wir sind hier in einer Metzgerei!
Die Rinderhälfte wird an einem silbernen Haken hängend in Schwebebahnmanier in den nächsten Raum kutschiert. Den Bullen zu zerlegen, erspart Thorsten die Muckibude. Gerlach zerteilt das „glückliche Stück Vieh“. Er sieht, ob ein Tier ein gutes Leben hatte. Dafür klappert er nachmittags Höfe und Ställe in zehn Kilometern Umgebung ab. Er ist überzeugt: Nur ein glückliches Tier schmeckt! Wild aus einem Gatter in Neuseeland hält er für überflüssig. Die Regionalität gibt nur eine bestimmte Menge her. Seine Essensempfehlung lautet: „Essen Sie maximal 2–3 Mal die Woche Fleisch, dafür Qualität!“
Geschmackssymphonie für den Gaumen
Ein Gewürzvertreter steht in der Tür. Ein Anhänger mit neun Stück Rotwild zum Zerteilen in Auftragsarbeit wird entladen. Der Elektriker hat den Kurzschluss beseitigt. Der Laden braucht Nachschub an Schnitzeln. Ich fülle mir die Kaffeetasse auf, wärme meine Hände an der Keramik. Thorsten kommt mit frischen Brötchen die Treppe runter. Er angelt aus dem dampfenden Kessel eine Fleischwurst. Meine Lippen erleben eine Geschmacksexplosion. Diese wiederholt sich am Abend bei meinem Sohn: „Papa, die Wurst ist sooooo lecker!“ Handwerk macht eben den Unterschied. Dies kann ich auch beim nächsten Arbeitsgang studieren, riechen und schmecken. Aus der nun wieder brummenden Wurstfüllmaschine wabert Wildsalami. Echte Handarbeit ohne Farbstoffe, ohne künstliche Aromen, denn „es soll so schmecken, wie es ist“.
Qualitätswurst wird grau
Nebenbei erklärt mir der Meister, dass Qualitätswurst nicht farbstabil bleibt, sondern grau wird. Warmer Dampf beschlägt in einem Kessel Bergsalami. Nach dem Räuchern wird die Wurst getrocknet. Der Vorgang dauert acht Wochen. Mit Schnellbindern und Trockenmitteln ließe sich der Vorgang beschleunigen, doch dies ist nicht der Anspruch des Wurstmachers. „Wenn die Salami noch nicht reif ist, muss der Kunde auch mal drei Wochen auf ein Qualitätsprodukt warten“, erzählt der Meister und füllt nebenbei Nüsse in den wieder lärmenden Kutter. Die nächste Salami wird. Dann kosten wir die Wildbratwurst. Geschmackssymphonie, die Zweite. Zum Vegetarier wird man hier nicht.
Ruhe im Hochsitz
Dann heißt es wieder Reinigen. Akribisch. Die Feuchtigkeit kriecht mir inzwischen aus jedem Reißverschluss. Es ist bereits früher Nachmittag. Nach dem Wurstmachen verschlägt es Thorsten hinter die Theke im Laden oder er entspannt auf dem Hochsitz. Dort, im Warten auf den nächsten Bock, kommt er zu sich selbst. Er genießt diese Stille, hat das Staunen nicht verlernt. „Statt zu schießen, lasse ich auch mal eine Sau oder ein Reh einfach laufen, aus purer Freude an der Schöpfung.“ Das reizt mich zu einer letzten Frage: „Was begeistert dich an deinem Job?“ Ich schaue in ein müdes, aber strahlendes Gesicht. Wie auf den Abzug gedrückt schießt es mir entgegen: „Wenn Tiere in guten Produkten weiterleben und so gut wie nichts zurückbleibt! Ich will den Schöpfer im Umgang mit seinen Geschöpfen und ihrer Verarbeitung ehren.“