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„Ich hab Angst, Papa!“ – Leidet mein Kind an einer Angststörung?

Dass Kinder Angst haben, ist normal. Aber welches Maß an Sorge gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu und wann sollten Eltern Hilfe holen?

Der neunjährige Ben (alle Namen geändert) fürchtet sich seit Beginn der Covid-Pandemie davor, allein zu seinem Freund zu laufen, obwohl dessen Haus um die Ecke liegt. Lana ist im zweiten Schuljahr und wagt nicht, in der Schule zu sprechen, weil andere Kinder sie auslachen könnten. Gian gruselt sich mit fünf Jahren davor, in seinem eigenen Zimmer zu schlafen oder nachts auf die Toilette zu gehen. Die elfjährige Julia hat so starke Angst davor, keine Luft mehr zu bekommen, dass ihre Eltern sie immer wieder von der Schule abholen.

Ängste begleiten unsere Kinder auf jedem Schritt ihrer Entwicklung. So sehr wir es ihnen wünschen würden, eine Kindheit ohne Furcht gibt es nicht. Aber warum spüren Kinder so starke Furcht? Welche Ängste sind normal in ihrer Entwicklung – und wann brauchen Kinder fachkundige Hilfe?

Warum gibt es Angst?

„Mama, warum muss es überhaupt Angst geben? Es wäre viel schöner ohne sie …“, fragte mich unsere jüngste Tochter verzweifelt, als sie sieben Jahre alt war. Als Biologin antwortete ich darauf: Wir Menschen sind eine sehr verwundbare Spezies. Uns schützen kein dicker Panzer, keine Reißzähne und keine Beine, die schneller als andere Tiere laufen können. Wir brauchen zum Überleben ein Frühwarnsystem.

Genau diese Funktion übernimmt die Angst. Unsere Sinne scannen die Umgebung permanent danach ab, ob uns etwas bedrohlich werden könnte. Dazu gehört neben körperlichen Gefahren auch das Risiko, dass wir andere falsch einschätzen oder uns selbst unangemessen verhalten, denn Menschen können nur in der Gruppe überleben. Aus diesem Grund sind soziale Ängste so ausgeprägt.

In der frühen Menschheitsgeschichte hatten vorsichtige Menschen eher die Chance zu überleben und Nachwuchs zu bekommen. Auch Kinder, deren Bindungssystem aktiviert wird von Ängsten, blieben nahe bei den schützenden Erwachsenen. So wurde die Angst tief in uns verankert.

Diese Kinderängste sind normal

Kinder durchlaufen verschiedene Ängste als Teil ihrer gesunden Entwicklung. Dazu gehören:

  • beim Säugling das Erschrecken bei lauten Geräuschen und die Angst, allein zu sein: So lebensbedrohlich, wie es früher für ein Baby gewesen wäre, schutzlos in die Nachbarshütte gelegt zu werden, fühlt sich auch heute noch das Alleingelassen-Sein an.
  • bei Babys ab 6 bis 8 Monaten das Fremdeln: Ab diesem Alter unterscheiden Kinder zwischen vertrauten Personen und Fremden, die ihnen Angst einflößen. So wird das zunehmend mobile Kind an seine schützen den Bezugspersonen gebunden.
  • ab dem Kleinkindalter die Furcht vor einer Begegnung mit Tieren wie Hunden, Schlangen, Spinnen: Als Menschen noch naturnäher lebten, hätte dies dafür gesorgt, dass Kinder sich zunächst an Erwachsenen oder älteren Kindern orientieren, bevor sie sich potenziell gefährlichen Tieren vorsichtig nähern.
  • als Kindergartenkind die Angst vor der Dunkelheit: Nachts waren Menschenkinder am sichersten in unmittelbarer Nähe ihrer Eltern und Verwandten. Hinzu kommt, dass Kinder ab diesem Alter die Fantasie entwickelt haben, sich ausmalen zu können, wie Einbrecher durchs Fenster klettern oder Monster unter dem Bett sein könnten.
  • ab dem Grundschulalter die Sorge, schulisch nicht mitzukommen oder von anderen Kindern ausgeschlossen zu werden: Den Schulkindern wird bewusst, wie wichtig es ist, die geforderte Leistung zu bringen und als Teil einer Gruppe funktionieren zu können. Auch Ängste vor Tod und Krankheit können in diesem Alter vermehrt auftauchen.

Häufige Angststörungen

Von einer Störung spricht man, wenn die Manifestationen der Angst so übersteigert sind, dass sie das alltägliche Leben der Kinder stark beeinträchtigen, schweren Stress und/oder ein längerfristiges Vermeidungsverhalten auslösen. Etwa 10 bis 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen durchleben eine Angststörung. Seit Beginn der Covid-Pandemie haben Ängste und Sorgen bei Kindern deutlich zugenommen: Im Herbst 2021 empfanden etwa 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen die Corona-Krise als „ziemlich oder äußerst belastend“, knapp 30 Prozent hatte ein Risiko für psychische Auffälligkeiten. Vor Corona waren es ca. 18 Prozent (COPSY-Studie 3). Angststörungen zeigen sich bei Kindern besonders häufig als:

Trennungsängste: Die Kinder fürchten sich davor, dass ihnen oder ihren Eltern etwas zustoßen könnte, während sie getrennt sind. Diese Störung kann auch zum Verweigern von Kindergarten oder Schule führen oder dem Ablehnen von Übernachtungen und Ausflügen ohne die Eltern.

Phobien: Wenn spezifische Situationen oder Objekte unangemessen starke Ängste auslösen, spricht man von einer Phobie. Kinder können Phobien entwickeln vor Tieren, Höhen, engen Räumen, Blut und Spritzen, Naturkatastrophen etc. Phobien treten intensiv und dauerhaft auf und hemmen das Kind in seiner Entwicklung.

Ungenügende Leistungen werden zur Katastrophe

Soziale Ängstlichkeit: Kinder mit sozialen Ängsten fürchten übermäßig, sich zu blamieren, kritisiert zu werden oder in sozialen Situationen „Fehler“ zu machen. Sie fühlen sich gehemmt, wenn sie in der Schule im Fokus stehen und wagen kaum, sich zu melden. Oft reden sie wenig und leise, vermeiden Blickkontakt und fühlen sich anderen gegenüber unterlegen.

Prüfungs- und Leistungsängste: Kinder und Jugendliche fürchten sich davor, den Ansprüchen von anderen oder sich selbst nicht zu genügen. Oft zeigen sie ein rigides Lernverhalten, das mit Gedanken einhergeht wie: „Ich muss alles wissen!“, und interpretieren ungenügende Leistungen als Katastrophe. Viele zweifeln ihre eigene Leistungsfähigkeit stark an und glauben, dass Lernen allen anderen leichter fällt.

Generalisierte Angststörung: Bei dieser Störung wirken Kinder dauerhaft ernst und betrübt, leiden unter geringem Selbstwertgefühl und ausgeprägten Sorgen in vielen Lebensbereichen. Sie grübeln oft darüber nach, ob sie nicht einen Fehler gemacht haben, in der Schule nicht gut genug sind oder nicht genügend Freunde haben. Weitere Symptome können Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Erschöpfung, Reizbarkeit und Konzentrationsprobleme sein.

Bei Angststörung unbedingt Hilfe holen!

Als Eltern sollten wir bei ersten Hinweisen auf eine Angststörung unbedingt handeln und mit unseren Kindern eine erfahrene Fachperson aufsuchen. Ohne Behandlung kann es zu einem chronischen Verlauf kommen, bei dem das Leben des Kindes immer stärker von Ängsten dominiert und eingeschränkt wird oder weitere Ängste und Depressionen hinzukommen.

Angststörungen sind gut behandelbar, wobei die Erfolgschancen umso höher sind, je früher mit einer Behandlung begonnen wird. Es gibt unterschiedliche Therapie-Ansätze gegen Ängste, die unseren Kindern effektiv helfen. Dabei hat sich vor allem die kognitive Verhaltenstherapie als wirksam erwiesen.

Wie helfe ich meinem Kind bei Angst?

Kindern hilft es, wenn sie ihre Ängste besser kennenlernen. Das gelingt, wenn sie offen über die Angst sprechen, ihr sogar eine Stimme und Gestalt verleihen, sie malen und beschreiben dürfen. Es gibt viele Kinderbücher, wie das Sach- und Mitmach-Buch „Huch, die Angst ist da!“, die zum Reflektieren einladen. Sie können sehr wertvoll sein, um ins Gespräch zu kommen und sich mit den Ängsten in der Familie auszusöhnen. Auch Lieder und Gebete sind hilfreich.

So lernen unsere Kinder: Die Angst besucht jeden von uns manchmal. Wenn wir sie annehmen, kann sie uns wie ein freundliches Wesen warnen und helfen, gut auf uns aufzupassen. Manchmal übertreibt unsere Angst aber auch und veranstaltet ein großes Kopfkino. Dann können wir lernen, sie weniger ernst zu nehmen, vielleicht sogar über sie zu schmunzeln.

Als Erwachsene begleiten

Wenn Befürchtungen zu einem riesigen, bedrohlichen Angstmonster anwachsen, gibt es viele Wege, sie wieder zu einem hilfreichen Begleiter zu zähmen: Atem- und Entspannungs-Übungen helfen Kindern bei akuten Angstwellen. Sicher gebunden und begleitet durch Erwachsene können sie erfahren, wie man für angsteinflößende Situationen einen Plan machen und sich ihnen in kleinen Schritten nähern kann.

So merken die Kinder: „Zusammen mit meinen Eltern konnte ich mich meiner Angst stellen und sie aushalten. Jetzt ist mein Angstmonster schon ein Stückchen kleiner geworden, mein Mut und mein Selbstvertrauen sind größer!“

So bringen Bens Eltern ihn nur noch bis zur Straßenecke, ab dort läuft er zu seinem Freund allein. Lana bespricht ihre Sorgen mit einem Kinderpsychologen und schafft es in der Schule schon, in einer Kleingruppe zu sprechen. Gian schläft jetzt in seinem Zimmer bei offener Tür ein, darf aber nachts ins Elternschlafzimmer schleichen und sich dort auf eine Matratze legen. Und Julia lernt bei der Atemtherapeutin, wieder tief durchzuatmen und sich auf ihren Körper zu verlassen. Auf ein Leben mit einer schützenden, hilfreichen Angst sind sie gut vorbereitet.

Ulrike Légé arbeitet als freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Basel. Zusammen mit Fabian Grolimund hat sie das Buch „Huch, die Angst ist da!“ (Hogrefe) geschrieben – es eignet sich für Kinder von 6 bis 11. 

Facharzt: „Psychische Belastungen bei Jugendlichen sind durch die Lockdowns gestiegen“

Vor allem Depressionen und Angststörungen treten bei Jugendlichen durch die Corona-Pandemie verstärkt auf. Von einer „verlorenen Generation“ will Professor Paul Plener im Interview aber nicht sprechen.

Was sind die häufigsten psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Die Liste wird angeführt von den Angststörungen in verschiedenen Formen. Gerade im Jugendalter nehmen soziale Ängste deutlich zu, was damit zu tun hat, dass das Orientieren im Raum der gleichaltrigen sozialen Kontakte eine hohe Wertigkeit hat. Außerdem sind es im Jugendalter auch affektive Erkrankungen, Depressionen zum Beispiel. Wir sehen auch vermehrt Erkrankungen mit Substanzkonsum. Prinzipiell ist das Jugendalter aufgrund der vielen Umbauvorgänge im Gehirn eine Altersperiode, in der sich viele psychische Erkrankungen zum ersten Mal manifestieren.

Was sind Ursachen für diese Erkrankungen?

Es gibt relativ unspezifische Risikofaktoren, von denen wir wissen, dass sie das Risiko von verschiedenen psychischen Erkrankungen beeinflussen, zum Beispiel der sozioökonomische Status, also das Aufwachsen unter finanziell schwächeren Bedingungen. Auch Misshandlungs-, Missbrauchs- und Vernachlässigungserlebnisse erhöhen bei vielen psychischen Krankheiten das Risiko. Es gibt auch einen Einfluss genetischer Faktoren. Der ist, je nach Krankheit, geringer oder deutlicher ausgeprägt. Und natürlich ist nicht zu leugnen, dass es viele Erkrankungen gibt, bei denen es einen starken soziokulturellen Einfluss gibt, etwa bei den Essstörungen, wo das zwar nicht als alleinige Ursache zu nehmen ist, er aber trotzdem auch immer mitprägt.

Wer ist schuld?

Die meisten Eltern fühlen sich schuldig, wenn ihr Kind an einer psychischen Erkrankung leidet. Zu Recht?

Wenn man als Familie betroffen ist, hat man ja oft das Gefühl, es trifft nur einen selbst. Und das ist oft begleitet von dem Stigma, dass es gegenüber psychischen Krankheiten gibt, dass man da als Eltern etwas falsch gemacht hätte. Es gibt natürlich Erkrankungen, bei denen Eltern die Verantwortung übernehmen müssen. Wenn es zum Beispiel zu einem Rosenkrieg in Folge einer Trennung gekommen ist, bei dem die Kinder massiv in Mitleidenschaft gezogen wurden, oder bei Vernachlässigungs- oder Misshandlungserlebnissen. Da können sich die Eltern nicht aus der Verantwortung nehmen, sondern nur versuchen, sich anders zu verhalten. Aber gerade bei genetischen Ursachen oder bei Erkrankungen, die damit zu tun haben, was im Gleichaltrigen-Umfeld passiert, zum Beispiel Mobbing –was ein massiver Risikofaktor für psychische Erkrankungen ist –, haben Eltern in der Ursache erst einmal wenig damit zu tun.

Eltern von Jugendlichen haben oft das Problem, dass sie sich, anders als bei jüngeren Kindern, nicht so gut mit anderen Eltern über die psychische Erkrankung ihres Kindes austauschen können, weil die Jugendlichen das nicht wollen. Wie können Eltern damit umgehen?

Ich denke, dass sich generell Eltern nur mit anderen Eltern austauschen sollten, wenn das mit den Kindern oder Jugendlichen abgesprochen ist. Es wäre angebracht, dass man das vor den Jugendlichen transparent macht und auch die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit thematisiert. Oder die eigene Belastung, die sich ergibt. Eltern können sagen: „Ich habe damit ein Problem und es ist mir wichtig, einen Austausch darüber zu haben.“ Ich finde es auch legitim, wenn die Jugendlichen nicht wollen, dass ihre Eltern im Familienkreis beispielsweise über ihre Essstörung sprechen. Aber es gibt ja auch professionelle Hilfe, an die man sich wenden kann, Familienberatungsstellen und ähnliches. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, die Jugendliche akzeptieren können, weil es da eine Schweigepflicht gibt. Wichtig ist, die eigene Betroffenheit zu thematisieren und zu sagen, dass man selbst ratsuchend ist.

Wann sollte ich mir Hilfe von außen holen?

Wann sollten Eltern für ihren Jugendlichen professionelle Hilfe holen bzw. ihr erwachsenes Kind dazu motivieren?

Ich glaube, dass zunächst einmal viele Familien eigene Lösungen suchen. Und das ist auch prinzipiell gut so, dass man überlegt: Was kann ich aus dem eigenen System für Ressourcen aktivieren? Das müssen ja nicht nur die Eltern sein, das können auch Tanten, Onkel, Großeltern sein, die vielleicht gerade in einer Entwicklungsphase, in der Jugendliche mehr Konflikte mit den Eltern haben, einen besseren Zugang haben. Aber wenn man sieht, dass diese familiären Ressourcen erschöpft sind oder dass die Situation, die der Jugendliche hat, zur Belastung für die Familie wird, dann ist auch der Punkt gekommen, wo ich aus meiner Sicht sage: Da braucht es Hilfe von außen. Natürlich auch, wenn es ganz akut ist, wenn Gedanken geäußert werden, nicht mehr leben zu wollen. Da braucht es sofort eine Abklärung von außen.

Welche Auswirkungen haben die Lockdowns aufgrund der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Es gibt mittlerweile eine relativ gute Datenlage – weltweit, aber auch aus den deutschsprachigen Ländern. Vor allem bei diesen längeren Lockdown-Bedingungen, die wir gegen Ende des letzten, Anfang diesen Jahres hatten und noch haben, sehen wir, dass es zu einer deutlichen Belastung der Jugendlichen kommt. Studien zeigen, dass die Rate der psychischen Belastungen gestiegen ist. Wir haben eine Studie unter mehreren tausend österreichischen Jugendlichen gemacht, in der wir zeigen konnten, dass mehr als die Hälfte der Befragten über mittelgradige bis schwergradige depressive Symptome berichten und etwa die Hälfte über Angststörungen. Das ist eine Auswirkung, die wir weltweit sehen. Und da ist die Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen auch weltweit diejenige, die am stärksten belastet zu sein scheint.

Manche sprechen schon von einer „verlorenen“ Generation.

Das ist ein Begriff, den ich für unzulässig halte. Der kommt ein bisschen aus dieser Idee heraus: „Die haben ja alle nur zu Hause herumgesessen, und es ist nichts passiert.“ Das vermag ich so nicht zu sehen. Denn auch wenn bei den klassischen Lerninhalten weniger passiert ist, so ist doch im Lernen einiges weitergegangen. Viele Jugendliche haben fundamentale Lernerfahrungen gemacht, was digitales Lernen angeht, aber auch, was das Thema Selbstorganisation und Strukturierung angeht. Diese Themen stehen zwar nicht im Lehrplan, aber trotzdem gab es in diesem Jahr einen immensen Lernzuwachs auf vielen anderen Ebenen.

Wie kann ich Angsstörung und Depression erkennen?

Sie haben gerade gesagt, dass vor allem Depressionen und Angststörungen im Lockdown häufiger zu beobachten sind. Wie können Eltern denn erkennen, dass das ein ernstzunehmendes Problem ist?

Es geht immer um das Erkennen von Veränderungen. Das Kernkriterium der Angststörung ist, dass – oft mit großer Anstrengung – Situationen vermieden werden, vor denen die Betroffenen Angst haben, auch wenn man davor eigentlich keine Angst haben muss. Das klassische Beispiel ist die Spinnenphobie: Die Spinne wird einen nicht töten. Trotzdem verlassen Menschen beim Anblick einer Spinne panisch den Raum, wenn sie eine Spinnenphobie haben. Es wird ein Verhalten vermieden oder es kommt zu einem irrationalen Verhalten, weil wir eine Stresskaskade lostreten, die unserem Körper innewohnt. Eigentlich ist diese Reaktion für Situationen gedacht, die tatsächlich bedrohlich sind. Aber hier werden Situationen, die objektiv nicht bedrohlich sind, vom Körper und von der Psyche als bedrohlich wahrgenommen.

Bei der Depression nehmen die meisten Eltern zuerst einen sozialen Rückzug wahr. Das ist im Lockdown natürlich schwer zu erkennen, weil das Nach-draußen-Gehen ohnehin sehr stark limitiert ist. Man kann auch wahrnehmen, dass betroffene Jugendliche sich von der Familie zurückziehen, was aber natürlich auch ein tendenziell typisches Jugendverhalten ist. Aber wenn es wieder Möglichkeiten gibt, sich mit anderen zu treffen oder in die Schule zu gehen oder andere Aktivitäten auszuüben, werden diese von betroffenen Jugendlichen nicht mehr wahrgenommen. Das andere Anzeichen, das viele schildern, die an einer Depression leiden, ist ein Antriebs- oder Energieverlust. Sie schaffen es morgens nicht mehr aus dem Bett und schaffen es auch gar nicht mehr, am Distanzlernen teilzunehmen. Viele beklagen eine Konzentrationsproblematik oder Schlafstörungen. Und was wir vielfach erlebt haben im Rahmen der Corona-Pandemie, war eine komplette Entgleisung des Tag-Nacht-Rhythmus.

Wer ist der richtige Ansprechpartner?

Was können Eltern denn tun, wenn sie denken, dass ihr Jugendlicher betroffen ist?

Zuerst sollte man sagen, was man selbst wahrnimmt und das als Ich-Botschaft formulieren. Das gibt dem Jugendlichen die Möglichkeit, zu sagen: „Das ist deine Perspektive, meine schaut anders aus.“ Natürlich wäre es vermessen zu glauben, dass man als Elternteil damit immer weit kommt bei Jugendlichen. Weil sie ja in einer Entwicklungsphase sind, wo die Gleichaltrigen eine höhere Wertigkeit im Austausch haben, gerade, wenn es um Probleme geht. Wenn der Jugendliche das Gespräch blockiert, kann man überlegen, wen es im familiären System gibt, der vielleicht besser geeignet ist, ein solches Gespräch zu führen. Wer wird von dem Jugendlichen eher als Gesprächspartner angenommen? Wenn auch da nichts weitergeht, kann man sagen: „Ich habe große Sorgen, ich weiß nicht weiter. Können wir uns bitte an jemanden wenden, der Profi ist? Und wenn der sagt, es ist alles in Ordnung, dann nehme ich das zur Kenntnis und dann ist es für mich auch gut. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl und hätte gern, dass wir gemeinsam zu jemandem gehen, der sich das anschaut.“

Sie betonen in Ihrem Buch „Sie brauchen uns jetzt“, dass es wichtig ist, dass Eltern sich ihrer eigenen Werte und Gefühle bewusst sind. Warum?

Wir leben in sehr herausfordernden Zeiten. In Zeiten, die eine extreme Flexibilität und Anpassung von uns fordern. Und es fällt generell Menschen leichter, sich anzupassen, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, was ihnen wichtig ist. Wenn es darauf ankommt, mich verändern zu müssen und Entscheidungen zu treffen, geht es immer auch um Priorisierungen. Ich muss abwägen: Kann ich auf das eine verzichten oder auf das andere? Und da tun sich Leute wesentlich leichter, die folgende Fragen beantworten können: Was hat in meinem Leben eine zentrale Bedeutung? Was muss ich unbedingt aufrechterhalten, damit ich mein Leben führen kann? Wo stecke ich Anstrengungen rein, um das aufrechtzuerhalten? Und wo ist es auch okay, wenn Dinge gerade nicht sein können? Das fällt natürlich Leuten leichter, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, wo ihre Prioritäten liegen.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Prof. Dr. Paul Plener studierte Medizin und absolvierte eine Facharztausbildung für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie in Ulm. 2018 übernahm er nach leitenden Funktionen in Deutschland die Professur für Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Leitung der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien/Universitätsklinikum AKH. Er ist neben vielen weiteren Funktionen Mitglied des während der Corona-Krise eingerichteten psychosozialen Krisenstabs der Stadt Wien.

Das Interview führte FamilyNEXT-Redakteurin Bettina Wendland.

„Psychische Belastungen sind durch die Lockdowns gestiegen“

Vor allem Depressionen und Angststörungen treten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie verstärkt auf. Von einer „verlorenen Generation“ will Prof. Dr. Paul Plener aber nicht sprechen. Im FamilyNEXT-Interview erklärt er, welche psychischen Erkrankungen allgemein im Jugendalter häufig vorkommen und wie Eltern damit umgehen können.

Was sind die häufigsten psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Die Liste wird angeführt von den Angststörungen in verschiedenen Formen. Gerade im Jugendalter nehmen soziale Ängste deutlich zu, was damit zu tun hat, dass das Orientieren im Raum der gleichaltrigen sozialen Kontakte eine hohe Wertigkeit hat. Außerdem sind es im Jugendalter auch affektive Erkrankungen, Depressionen zum Beispiel. Wir sehen auch vermehrt Erkrankungen mit Sub-stanzkonsum. Prinzipiell ist das Jugendalter aufgrund der vielen Umbauvorgänge im Gehirn eine Altersperiode, in der sich viele psychische Erkrankungen zum ersten Mal manifestieren.

Was sind Ursachen für diese Erkrankungen?

Es gibt relativ unspezifische Risikofaktoren, von denen wir wissen, dass sie das Risiko von verschiedenen psychischen Erkrankungen beeinflussen, zum Beispiel der sozioökonomische Status, also das Aufwachsen unter finanziell schwächeren Bedingungen. Auch Misshandlungs-, Missbrauchs- und Vernachlässigungserlebnisse erhöhen bei vielen psychischen Krankheiten das Risiko. Es gibt auch einen Einfluss genetischer Faktoren. Der ist, je nach Krankheit, geringer oder deutlicher ausgeprägt. Und natürlich ist nicht zu leugnen, dass es viele Erkrankungen gibt, bei denen es einen starken soziokulturellen Einfluss gibt, etwa bei den Essstörungen, wo das zwar nicht als alleinige Ursache zu nehmen ist, er aber trotzdem auch immer mitprägt.

Die meisten Eltern fühlen sich schuldig, wenn ihr Kind an einer psychischen Erkrankung leidet. Zu Recht?

Wenn man als Familie betroffen ist, hat man ja oft das Gefühl, es trifft nur einen selbst. Und das ist oft begleitet von dem Stigma, dass es gegenüber psychischen Krankheiten gibt, dass man da als Eltern etwas falsch gemacht hätte. Es gibt natürlich Erkrankungen, bei denen Eltern die Verantwortung übernehmen müssen. Wenn es zum Beispiel zu einem Rosenkrieg in Folge einer Trennung gekommen ist, bei dem die Kinder massiv in Mitleidenschaft gezogen wurden, oder bei Vernachlässigungs- oder Misshandlungserlebnissen. Da können sich die Eltern nicht aus der Verantwortung nehmen, sondern nur versuchen, sich anders zu verhalten. Aber gerade bei genetischen Ursachen oder bei Erkrankungen, die damit zu tun haben, was im Gleichaltrigen-Umfeld passiert, zum Beispiel Mobbing –was ein massiver Risikofaktor für psychische Erkrankungen ist –, haben Eltern in der Ursache erst einmal wenig damit zu tun.

Eltern von Jugendlichen haben oft das Problem, dass sie sich, anders als bei jüngeren Kindern, nicht so gut mit anderen Eltern über die psychische Erkrankung ihres Kindes austauschen können, weil die Jugendlichen das nicht wollen. Wie können Eltern damit umgehen?

Ich denke, dass sich generell Eltern nur mit anderen Eltern austauschen sollten, wenn das mit den Kindern oder Jugendlichen abgesprochen ist. Es wäre angebracht, dass man das vor den Jugendlichen transparent macht und auch die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit thematisiert. Oder die eigene Belastung, die sich ergibt. Eltern können sagen: „Ich habe damit ein Problem und es ist mir wichtig, einen Austausch darüber zu haben.“ Ich finde es auch legitim, wenn die Jugendlichen nicht wollen, dass ihre Eltern im Familienkreis beispielsweise über ihre Essstörung sprechen. Aber es gibt ja auch professionelle Hilfe, an die man sich wenden kann, Familienberatungsstellen und ähnliches. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, die Jugendliche akzeptieren können, weil es da eine Schweigepflicht gibt. Wichtig ist, die eigene Betroffenheit zu thematisieren und zu sagen, dass man selbst ratsuchend ist.

Wann sollten Eltern für ihren Jugendlichen professionelle Hilfe holen bzw. ihr erwachsenes Kind dazu motivieren?

Ich glaube, dass zunächst einmal viele Familien eigene Lösungen suchen. Und das ist auch prinzipiell gut so, dass man überlegt: Was kann ich aus dem eigenen System für Ressourcen aktivieren? Das müssen ja nicht nur die Eltern sein, das können auch Tanten, Onkel, Großeltern sein, die vielleicht gerade in einer Entwicklungsphase, in der Jugendliche mehr Konflikte mit den Eltern haben, einen besseren Zugang haben. Aber wenn man sieht, dass diese familiären Ressourcen erschöpft sind oder dass die Situation, die der Jugendliche hat, zur Belastung für die Familie wird, dann ist auch der Punkt gekommen, wo ich aus meiner Sicht sage: Da braucht es Hilfe von außen. Natürlich auch, wenn es ganz akut ist, wenn Gedanken geäußert werden, nicht mehr leben zu wollen. Da braucht es sofort eine Abklärung von außen.

Welche Auswirkungen haben die Lockdowns aufgrund der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen?

Es gibt mittlerweile eine relativ gute Datenlage – weltweit, aber auch aus den deutschsprachigen Ländern. Vor allem bei diesen längeren Lockdown-Bedingungen, die wir gegen Ende des letzten, Anfang diesen Jahres hatten und noch haben, sehen wir, dass es zu einer deutlichen Belastung der Jugendlichen kommt. Studien zeigen, dass die Rate der psychischen Belastungen gestiegen ist. Wir haben eine Studie unter mehreren tausend österreichischen Jugendlichen gemacht, in der wir zeigen konnten, dass mehr als die Hälfte der Befragten über mittelgradige bis schwergradige depressive Symptome berichten und etwa die Hälfte über Angststörungen. Das ist eine Auswirkung, die wir weltweit sehen. Und da ist die Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen auch weltweit diejenige, die am stärksten belastet zu sein scheint.

Manche sprechen schon von einer „verlorenen“ Generation.

Das ist ein Begriff, den ich für unzulässig halte. Der kommt ein bisschen aus dieser Idee heraus: „Die haben ja alle nur zu Hause herumgesessen, und es ist nichts passiert.“ Das vermag ich so nicht zu sehen. Denn auch wenn bei den klassischen Lerninhalten weniger passiert ist, so ist doch im Lernen einiges weitergegangen. Viele Jugendliche haben fundamentale Lernerfahrungen gemacht, was digitales Lernen angeht, aber auch, was das Thema Selbst- organisation und Strukturierung angeht. Diese Themen stehen zwar nicht im Lehrplan, aber trotzdem gab es in diesem Jahr einen immensen Lernzuwachs auf vielen anderen Ebenen.

Sie haben gerade gesagt, dass vor allem Depressionen und Angststörungen im Lockdown häufiger zu beobachten sind. Wie können Eltern denn erkennen, dass das ein ernstzunehmendes Problem ist?

Es geht immer um das Erkennen von Veränderungen. Das Kernkriterium der Angststörung ist, dass – oft mit großer Anstrengung – Situationen vermieden werden, vor denen die Betroffenen Angst haben, auch wenn man davor eigentlich keine Angst haben muss. Das klassische Beispiel ist die Spinnenphobie: Die Spinne wird einen nicht töten. Trotzdem verlassen Menschen beim Anblick einer Spinne panisch den Raum, wenn sie eine Spinnenphobie haben. Es wird ein Verhalten vermieden oder es kommt zu einem irrationalen Verhalten, weil wir eine Stresskaskade lostreten, die unserem Körper innewohnt. Eigentlich ist diese Reaktion für Situationen gedacht, die tatsächlich bedrohlich sind. Aber hier werden Situationen, die objektiv nicht bedrohlich sind, vom Körper und von der Psyche als bedrohlich wahrgenommen. Bei der Depression nehmen die meisten Eltern zuerst einen sozialen Rückzug wahr. Das ist im Lockdown natürlich schwer zu erkennen, weil das Nach-draußen-Gehen ohnehin sehr stark limitiert ist. Man kann auch wahrnehmen, dass betroffene Jugendliche sich von der Familie zurückziehen, was aber natürlich auch ein tendenziell typisches Jugendverhalten ist. Aber wenn es wieder Möglichkeiten gibt, sich mit anderen zu treffen oder in die Schule zu gehen oder andere Aktivitäten auszuüben, werden diese von betroffenen Jugendlichen nicht mehr wahrgenommen. Das andere Anzeichen, das viele schildern, die an einer Depression leiden, ist ein Antriebs- oder Energieverlust. Sie schaffen es morgens nicht mehr aus dem Bett und schaffen es auch gar nicht mehr, am Dis-tanzlernen teilzunehmen. Viele beklagen eine Konzentrationsproblematik oder Schlafstörungen. Und was wir vielfach erlebt haben im Rahmen der Corona-Pandemie, war eine komplette Entgleisung des Tag-Nacht-Rhythmus.

Was können Eltern denn tun, wenn sie denken, dass ihr Jugendlicher betroffen ist?

Zuerst sollte man sagen, was man selbst wahrnimmt und das als Ich-Botschaft formulieren. Das gibt dem Jugendlichen die Möglichkeit, zu sagen: „Das ist deine Perspektive, meine schaut anders aus.“ Natürlich wäre es vermessen zu glauben, dass man als Elternteil damit immer weit kommt bei Jugendlichen. Weil sie ja in einer Entwicklungsphase sind, wo die Gleichaltrigen eine höhere Wertigkeit im Austausch haben, gerade, wenn es um Probleme geht. Wenn der Jugendliche das Gespräch blockiert, kann man überlegen, wen es im familiären System gibt, der vielleicht besser geeignet ist, ein solches Gespräch zu führen. Wer wird von dem Jugendlichen eher als Gesprächspartner angenommen? Wenn auch da nichts weitergeht, kann man sagen: „Ich habe große Sorgen, ich weiß nicht weiter. Können wir uns bitte an jemanden wenden, der Profi ist? Und wenn der sagt, es ist alles in Ordnung, dann nehme ich das zur Kenntnis und dann ist es für mich auch gut. Aber ich habe ein schlechtes Gefühl und hätte gern, dass wir gemeinsam zu jemandem gehen, der sich das anschaut.“

Sie betonen in Ihrem Buch „Sie brauchen uns jetzt“, dass es wichtig ist, dass Eltern sich ihrer eigenen Werte und Gefühle bewusst sind. Warum?

Wir leben in sehr herausfordernden Zeiten. In Zeiten, die eine extreme Flexibilität und Anpassung von uns fordern. Und es fällt generell Menschen leichter, sich anzupassen, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, was ihnen wichtig ist. Wenn es darauf ankommt, mich verändern zu müssen und Entscheidungen zu treffen, geht es immer auch um Priorisierungen. Ich muss abwägen: Kann ich auf das eine verzichten oder auf das andere? Und da tun sich Leute wesentlich leichter, die folgende Fragen beantworten können: Was hat in meinem Leben eine zentrale Bedeutung? Was muss ich unbedingt aufrechterhalten, damit ich mein Leben führen kann? Wo stecke ich Anstrengungen rein, um das aufrechtzuerhalten? Und wo ist es auch okay, wenn Dinge gerade nicht sein können? Das fällt natürlich Leuten leichter, die ein Gefühl dafür entwickelt haben, wo ihre Prioritäten liegen.

Vielen Dank für das Gespräch. 

Das Interview führte FamilyNEXT-Redakteurin Bettina Wendland.

Therapeutin erklärt: Ab diesem Moment wird Ritzen bei Jugendlichen gefährlich

18 Prozent aller Jugendlichen verletzen sich einmal im Leben selbst. Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Verena Pflug erklärt, ab wann Ritzen zu einem echten Problem wird.

„In der Klasse unserer Tochter (13) ritzen sich einige Mädchen, um Frust oder andere Gefühle abzureagieren. Auch sie hat es einmal probiert, als ihr Haustier gestorben und sie verzweifelt und traurig war. Mich bedrückt dieses Verhalten sehr. Ist so etwas harmlos oder ein Warnsignal?“

Wenn die Tochter oder der Sohn sich selbst verletzt, sind viele Eltern erst einmal schockiert und fühlen sich gleichzeitig überfordert mit der Situation. Sie fragen sich, wie sie das Verhalten ihres Kindes einordnen sollen. Ist das Verhalten noch als harmlos einzustufen oder deutet es schon auf eine psychische Erkrankung hin?

Einmal ist kein Grund zur Sorge

Es gibt viele unterschiedliche Gründe für selbstverletzendes Verhalten. Nicht immer steckt eine psychische Erkrankung dahinter. Viele Jugendliche verletzen sich einmalig selbst (etwa 18 Prozent). Manche machen es aus Neugier, weil sie erfahren haben, dass der beste Freund oder die beste Freundin es schon einmal gemacht hat. Andere probieren es aus, weil es vielleicht gerade Thema in der Schulklasse oder den Medien war. Wenn selbstverletzendes Verhalten ohne suizidale Absicht, also ohne die Absicht, sich ernsthaft etwas anzutun, einmalig auftritt, ist dies noch kein Grund zur Besorgnis.

Handeln ist wichtig

Sollte das selbstverletzende Verhalten wiederholt gezeigt werden, ist es wichtig zu handeln. Betroffene Jugendliche haben oftmals Schwierigkeiten in der Emotions- und Stressregulation. In Spannungszuständen fügen sie sich Selbstverletzungen zu, um etwa mit starken aversiven Emotionen umzugehen. Wiederholtes nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten tritt auch häufiger zusammen mit anderen psychischen Störungen auf, wie zum Beispiel depressiven Störungen, Angststörungen oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Was können Eltern tun?

Eltern sollten aufmerksam werden, wenn sie Veränderungen im Verhalten ihres Kindes beobachten. Manche Jugendliche gehen zum Beispiel nicht mehr ins Schwimmbad oder tragen keine kurzärmeligen T-Shirts oder Hosen mehr, um Arme oder Beine zu verdecken, an denen die Selbstverletzungen sichtbar würden.

Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Kind. Versuchen Sie zu erfragen, wie häufig das selbstverletzende Verhalten vorkommt, wann, warum und wie sich Ihr Kind die Selbstverletzungen zufügt. Und schätzen Sie ab: Geht es Ihrem Kind so schlecht, dass es vielleicht nicht mehr leben möchte?

Wenn Ihr Kind wiederholt selbstverletzende Verhaltensweisen aufweist, nehmen Sie das Problem ernst und wenden sich am besten direkt an einen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder Kinder- und Jugendpsychiater.

Verena Pflug ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und arbeitet am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ) der Ruhr-Universität Bochum.

„Wenn ich jetzt sterbe, höre ich nie wieder Bäume rauschen“: Till erzählt von seiner Angst vor dem Tod

Till Pfaff fürchtet sich unglaublich davor zu sterben. Jahrelang helfen nur Antidepressiva in höchster Dosis. Hier erzählt er seine Geschichte.

Ich bin Till, 40 Jahre alt. Ich habe Angst vor dem Tod.

Opa schläft

Es ist der 22. September 1985. Ich bin sechs Jahre alt und gerade eingeschult worden, ein kleiner blonder Frechdachs, aufgeweckt und sensibel. Wir wohnen seit Kurzem neben Oma und Opa im alten Schweinestall ihres stillgelegten Bauernhofes. Mein lieber Opa, der mich immer mit in den Wald nimmt, auf die Pirsch mit seinen Jagdhunden, der mir die heimische Pflanzenwelt erklärt und mich bei seinen Freunden stolz präsentiert, mich liebevoll auf den Schoß nimmt, ist im Krankenhaus, weil er operiert werden muss. Nichts Schlimmes, soweit ich weiß. Ich soll mit den anderen Enkelkindern ins Zimmer meiner Schwester kommen. Meine Mutter und meine Tante wollen uns etwas erzählen. Wir sitzen auf dem Bett und hören gespannt zu: „Opa ist eingeschlafen. Er war zu schwach und hat die Operation nicht überstanden. Er ist tot.“

Es ist 2019, Weihnachten. Fünf Monate Online-Therapie liegen hinter mir. Meine Therapeutin hilft mir, mich meiner Angst vor dem Tod zu stellen. 34 Jahre voller Fragen: Wie ist der Tod? Wie fühlt es sich an, wenn ich keinen Körper mehr habe, den ich steuern kann? Geht es Opa und den anderen inzwischen verstorbenen Menschen, die ich lieb habe, gut? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Kommt die Seele durch den Sarg, wenn ich begraben werde?

Die Brust zugeschnürt

Niemand in meiner Familie oder meinem Freundeskreis kann sich vorstellen, dass ich unter Ängsten leide. Ich bin ein geselliger Typ, der gern feiert und Quatsch macht. Humor ist meine Superkraft! Das Gefühl der Machtlosigkeit überkommt mich jedoch, wenn ich allein bin.

Ich stehe als Erster auf dem Fußballplatz, bin etwa 18 Jahre alt und wärme mich auf. Plötzlich die Frage: Was, wenn ich jetzt sterbe? Ich stoße einen leisen Schrei aus, um der plötzlichen Beengung in meinem Brustkorb ein Ende zu machen. Meine Mitspieler kommen auf den Platz. Niemand merkt etwas.

Es ist 2007. Wir haben seit August eine Tochter. Meine Frau macht mich darauf aufmerksam, dass ich im Schlaf immer mehr seufzen und „jiffeln“ würde. Sie ist der erste Mensch, mit dem ich – immerhin 22 Jahre nach Opas Tod – über meine Angst spreche. Ich suche mir einen Therapeuten, der allerdings keinen Zugang zu mir findet und mich mit Beerdigungsritualen gleich in der zweiten Sitzung überfordert. Die Angst bleibt, die Therapie liegt für die nächsten Jahre brach, da mein Vertrauen in eine solche Maßnahme erloschen ist. Immerhin: Ich bekomme nun ein Antidepressivum, das die Symptome bekämpft und in der höchsten Dosierung zu helfen scheint.

Der Angst auf der Spur

Herbst 2019: Ich halte es inzwischen mit Humboldt, der gesagt hat: „Was dir Angst macht, das erforsche.“ Anna, meine Frau, und ich sind auf dem Heimweg von einem Besuch bei Freunden. Ich fasse den Mut, ihr endlich genauer zu erzählen, was mich bedrückt und ängstigt. Das hätte ich längst tun sollen. Wir sprechen darüber, wie wir uns den Tod vorstellen, wie wir bestattet werden wollen. Ein kleiner Knoten im Geflecht meiner Angst löst sich.

Ich bin Anfang 20, fahre allein mit dem Auto durch die Gegend, an einem Wald vorbei, in dem ich hin und wieder jogge. Aus dem Nichts kommt das beklemmende Gefühl, dass ich den Wald, wenn ich jetzt sterbe, nie wieder sehen, die Bäume bei Wind rauschen hören oder die Tannennadeln riechen könnte. Hilflosigkeit! Ich fahre an den Rand, schreie, flehe zu Gott. Mit Menschen teile ich meine Angst nicht. Ich will kein „Psycho“ sein!

Spätsommer 2008, das Telefon klingelt, der Pastor. Ich hätte doch eine besondere Verbindung zur Kirche, sagt er. Ob ich nicht Lust hätte, im Kirchenvorstand mitzuarbeiten, fragt er. Er hat ja einen ganz guten Draht „nach oben“, denke ich. Warum nicht, frage ich mich und sage zu. Der Einsatz in der Kirchengemeinde, die Gemeinschaft mit Menschen, die im Glauben verbunden sind, die vielen neuen Menschen in meinem Umfeld und vor allem die intensive Auseinandersetzung mit den Geschichten der Bibel geben mir Kraft. Die Angst ist noch da, aber auch eine neue Möglichkeit, mich ihr zu stellen. Ich kann im Laufe der Jahre die Dosierung meines Medikaments um die Hälfte reduzieren. Gott sei Dank!

Gespräch mit Oma

Mit meiner Mutter sitze ich im November 2019 an ihrem Wohnzimmertisch. Ich habe Fragen. Wie stelle ich die nur, ohne ihr das Gefühl zu geben, ihr Vorwürfe zu machen? Sie weiß, dass es um Opas Tod geht. Ich muss das aufräumen, Fragen loswerden. Meine Wahrnehmung der Situation 1985 scheint zu stimmen. Ich lerne, dass Oma nicht wollte, dass sich jemand – auch nicht die Kinder – vom toten Opa verabschiedet. Was, wenn sich das Bild des toten Opas an die Stelle der positiven lebendigen Erinnerungen gestellt hätte? Davor hatte sie Angst. Niemand hat das in Frage gestellt. Im Trauergottesdienst hatten Kinder damals nichts zu suchen. Tod – ein Tabuthema! Mein Angstthema!

Während meiner Therapie stoße ich auf kleine Texte, die mir Mut machen. In einem heißt es, dass man sich in einer fremden Stadt verloren fühlt. Aber wenn ich in dieser Stadt nur einen Menschen kenne, der mich an die Hand nimmt und mir die Stadt zeigt, dann bin ich nicht mehr verloren. So ist es auch mit dem Tod. Jesus wartet auf mich und nimmt mich an die Hand. Mir gefällt dieser Vergleich.

Sprechen hilft zu leben

Als Kind habe ich nicht viele Fragen gestellt. Ab und zu mal gefragt, wo Opa jetzt ist. „Mein lieber Opa!“, hab ich immer gesagt, gefehlt hat er mir schon, vielleicht mehr als den anderen Kindern. Auffällig ist, dass ich ansonsten eher unauffällig war. Ich habe das mit mir ausgemacht, allein. Nah am Wasser gebaut war ich während meiner gesamten Kindheit. Manchmal war ich besonders albern, habe „schwierige Situationen“ mit Humor überspielt. Das Tabu, über Angst und Tod zu sprechen, war für mich – aus heutiger Sicht – immer präsent. Endlich kann ich darüber sprechen. Ich bin erleichtert.

Charlotta ist inzwischen 12 Jahre alt. Sie verbringt auf eigenen Wunsch ein halbes Jahr in Frankreich, lernt dort nicht nur eine andere Sprache kennen. Sie ist so mutig! Ich bin stolz, dass meine Tochter so stark ist. Und wenn sie mal auf ein Problem stößt – 1.500 km von zu Hause entfernt –, dann betet sie.

Oma stirbt

Ich merke, wie ich ein Stück loslassen kann. Wenn ich jetzt von einem Bus überfahren werde, dann hinterlasse ich eine selbstbewusste Tochter, die ihren Weg durchs Leben finden wird. Das haben Anna und ich gut gemacht. Ich beschließe mit meiner Therapeutin, die Dosis meines Antidepressivums zu halbieren.

10. September 2011: Oma ist tot, friedlich eingeschlafen in ihrem Geburtshaus. Sie liegt in ihrem Pflegebett, starr, mit einem Lächeln im Gesicht. In den Gottesdienst möchte Charlotta nicht mitkommen. Sie hat Uroma ja schon „Tschüs“ gesagt, als Pastor Hansen sie zu Hause ausgesegnet hat. Das war schön. Und wenn doch noch einmal die Trauer zurückkommt, lässt sie es einfach raus, stellen wir später fest. Ich bin etwas neidisch.

Kein Antidepressivum mehr

Was mir wohl geholfen hätte damals? Ein persönlicher Abschied? Der Hinweis, dass ich mich an Gott wenden darf? Die Aufmerksamkeit meiner Familie? Die Begleitung meiner Trauer durch Fachkräfte?

2020 steht vor der Tür. Seit 12 Tagen nehme ich kein Antidepressivum mehr. Verlorene Emotionen kämpfen sich – manchmal unkontrollierbar – in mein Leben zurück. Sind das Tränen? Die habe ich lange nicht auf meinen Wangen gespürt. Ich habe Menschen um mich, die mich lieben und verstehen, mir zuhören.

Ich bin Till, 40 Jahre alt. Ich bin mutig.

„Ist ritzen gefährlich?“

„In der Klasse unserer Tochter (13) ritzen sich einige Mädchen, um Frust oder andere Gefühle abzureagieren. Auch sie hat es einmal probiert, als ihr Haustier gestorben und sie verzweifelt und traurig war. Mich bedrückt dieses Verhalten sehr. Ist so etwas harmlos oder ein Warnsignal?“

Wenn die Tochter oder der Sohn sich selbst verletzt, sind viele Eltern erst einmal schockiert und fühlen sich gleichzeitig überfordert mit der Situation. Sie fragen sich, wie sie das Verhalten ihres Kindes einordnen sollen. Ist das Verhalten noch als harmlos einzustufen oder deutet es schon auf eine psychische Erkrankung hin?

WANN WIRD RITZEN ZUR GEFAHR?

Es gibt viele unterschiedliche Gründe für selbstverletzendes Verhalten. Nicht immer steckt eine psychische Erkrankung dahinter. Viele Jugendliche verletzen sich einmalig selbst (etwa 18 Prozent). Manche machen es aus Neugier, weil sie erfahren haben, dass der beste Freund oder die beste Freundin es schon einmal gemacht hat. Andere probieren es aus, weil es vielleicht gerade Thema in der Schulklasse oder den Medien war. Wenn selbstverletzendes Verhalten ohne suizidale Absicht, also ohne die Absicht, sich ernsthaft etwas anzutun, einmalig auftritt, ist dies noch kein Grund zur Besorgnis.

Sollte das selbstverletzende Verhalten wiederholt gezeigt werden, ist es wichtig zu handeln. Betroffene Jugendliche haben oftmals Schwierigkeiten in der Emotions- und Stressregulation. In Spannungszuständen fügen sie sich Selbstverletzungen zu, um etwa mit starken aversiven Emotionen umzugehen. Wiederholtes nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten tritt auch häufiger zusammen mit anderen psychischen Störungen auf, wie zum Beispiel depressiven Störungen, Angststörungen oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.

WAS KÖNNEN SIE ALS ELTERN TUN?

Eltern sollten aufmerksam werden, wenn sie Veränderungen im Verhalten ihres Kindes beobachten. Manche Jugendliche gehen zum Beispiel nicht mehr ins Schwimmbad oder tragen keine kurzärmeligen T-Shirts oder Hosen mehr, um Arme oder Beine zu verdecken, an denen die Selbstverletzungen sichtbar würden.

Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Kind. Versuchen Sie zu erfragen, wie häufig das selbstverletzende Verhalten vorkommt, wann, warum und wie sich Ihr Kind die Selbstverletzungen zufügt. Und schätzen Sie ab: Geht es Ihrem Kind so schlecht, dass es vielleicht nicht mehr leben möchte?

Wenn Ihr Kind wiederholt selbstverletzende Verhaltensweisen aufweist, nehmen Sie das Problem ernst und wenden sich am besten direkt an einen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder Kinder- und Jugendpsychiater.

Verena Pflug ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und arbeitet am Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit (FBZ) der Ruhr-Universität Bochum.
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

„Kinderängste sind kein Kinderkram!“

Wenn die Angst eines Kindes überhandnimmt, sollten Eltern abklären lassen, ob es sich um eine Angststörung handelt. Immerhin leiden zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen darunter. Verena Pflug ist Kinder- und Jugendlichen-Psychologin und leitet die KibA-Studie „Kinder bewältigen Angst“ an der Ruhr-Universität Bochum.

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