Eine Kindheit ohne Liebe und Geborgenheit kann dazu führen, dass ein Mensch gebrochen durchs Leben geht. John McGurk hat eine solche Kindheit hinter sich. Doch er läuft hoffnungsvoll durchs Leben und engagiert sich für Kinder, die ähnliche Erfahrungen machen. Ines Schobert hat den gebürtigen Schotten besucht.
Es ist ein frühsommerlicher Nachmittag Ende Mai. Ich bin mit John McGurk in Osnabrück verabredet. Er hat mich zum Interview zu sich und seiner Frau nach Hause eingeladen. Gedanklich bin ich noch mitten in der Lebensgeschichte meines Interview-Gegenübers. Ich habe seine Biografie gelesen. Seine Geschichte hat mich völlig gepackt und berührt.
ARMUT UND GEWALT
John McGurk ist Anfang der sechziger Jahre in Schottland aufgewachsen, südlich von Glasgow. Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte er mit seinen fünf Geschwistern und seinen Eltern. Wie in vielen Familien dieses Stadtteils war das Leben der McGurks geprägt von Gewalt, Armut, Arbeitslosigkeit, Alkohol und hoher Frustration. Sein Vater hielt sich die meiste Zeit im Pub auf. Seine Mutter war damit beschäftigt, etwas Essbares aufzutreiben. Sie kümmerte sich nicht oft um die Kinder. Ihr Mann schlug sie – auch in Anwesenheit der Kinder.
Vor diesem Hintergrund stelle ich mir vor, dass John wohl eher in einer fiesen Ecke von Osnabrück wohnt. Ich schäme mich meiner Vorurteile und erwische mich bei dem Gedanken, dass gleich ein Mann vor mir stehen wird, der bestimmt ganz mitgenommen vom Leben ist. Doch ich werde eines Besseren belehrt. Ich parke vor dem Haus der Familie McGurk, einem Einfamilienhaus mit Garten und netter Nachbarschaft. Als ich klingele, öffnet mir ein attraktiver, fröhlicher und sehr herzlicher John. Ich werde an den schön dekorierten Esstisch gebeten, auf dem Johns Unterlagen verstreut sind: Laptop, Fotos, Briefe, Lupe … Utensilien für das, was ihn zurzeit beschäftigt: seine Geschichte zu teilen!
DIE HÖLLE AUF ERDEN
Und diese Geschichte teilt er nun mit mir. Er berichtet von der traurigen Kindheit in seinem Elternhaus: „Ich verlor den Glauben an das Gute und den Glauben an mich selbst.“ Als die Situation zu Hause eskaliert, ergreift Johns Mutter die Flucht und verlässt ihre Familie. Der Vater ist mit der Versorgung der Kinder überfordert und so werden sie auf verschiedene Kinderheime verteilt.
Doch im Kinderheim ergeht es John nicht besser. Er wird schikaniert und vom Heimleiter misshandelt. „Es war die Hölle auf Erden“, sagt John rückblickend. Und auf seine gesamte Kindheit bezogen stellt er fest: „Ich kann mich an keinen einzigen Moment erinnern, an dem ich mich geborgen fühlte oder wirklich nachhaltig glücklich war.“ Trotzdem hat John es – anders als die meisten seiner Geschwister – geschafft, einen Weg heraus aus Armut, Alkoholismus, Gewalt und Beziehungsunfähigkeit zu finden und ein hoffnungsvoller und engagierter Mensch zu werden.
Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war seine Entscheidung, zur schottischen Armee zu gehen. Die Grundausbildung fand in Edinburgh statt. Hier entdeckte er bei sich die Begeisterung für den Sport. Er arbeitete hart an sich, um immer der Erste zu sein. Außerdem wurde er als bester Soldat ausgezeichnet. „Hier bekam ich echte Aufmerksamkeit“, erinnert er sich. „Der Tag war strukturiert und ich wurde gefordert.“ John verpflichtete sich als Berufssoldat. Er bekam das Angebot, mit seinem Regiment nach Deutschland zu gehen und sagte zu. So landete er in Osnabrück. „Ich setzte große Hoffnung in den Neustart auf dem Kontinent. Endlich konnte ich meine Vergangenheit hinter mir lassen.“
GÖTTLICHES WUNDER
John erzählt mir lange von seiner Zeit in Osnabrück. Von Rückschlägen, Einsamkeit, schicksalhaften Begegnungen, Träumen und von Erfahrungen mit Gott. Mir wird klar, dass die Antwort auf die Frage, wie sich John von seiner Vergangenheit befreien konnte, hier zu finden ist. Es hat etwas damit zu tun, dass er den Glauben an Gott entdeckte. Dass er seine Frau Katja kennenlernte. Und dass er einen unglaublich starken Willen hat. So konnte er eine Lebenswende erleben, die an ein göttliches Wunder grenzt! Er konnte einen inneren Heilungsprozess erfahren, der alles menschliche Ermessen übersteigt.
Herzlichkeit, Wärme und Authentizität ist in unserem Gespräch und im ganzen Haus spürbar. Während wir reden, kommt die Schwiegertochter zu Besuch. John und Katja kümmern sich rührend um ihr Enkelkind, das an diesem Abend bei ihnen übernachtet. Katja berichtet, dass es John immer ein Anliegen war, ihren Kindern und nun auch den Enkelkindern mit viel Liebe, Humor und Wohlwollen zu begegnen.
John und Katja sind seit 28 Jahren ein Ehepaar. Vorher war John schon einmal verheiratet. „Ich bin einmal geschieden, es war eine kurze Episode“, berichtet er. Aus dieser Ehe stammt eines seiner drei Kinder. „Zu meinem Kind habe ich guten Kontakt. Aber zu einer Ehe war ich zu dem Zeitpunkt nicht in der Lage.“ Nachdem seine Ehe in die Brüche gegangen war, haderte er mit seinem Schicksal: „Setzt sich alles fort?“, war seine ständige Frage.
NACH VORN BLICKEN UND GUTES TUN
Gerade als es ihm besonders schlecht ging, hatte er einen Traum: „Der Himmel öffnete sich, eine Frau hielt ihre Hand über meinen Körper. ‚Gott gab dir ein großes Herz, und Gott hat Großes mit dir vor‘, sagte sie immer und immer wieder.“ Dieses Erlebnis änderte alles: „Ich hörte auf zu trinken und zu rauchen, begann regelmäßig zu essen. Und ich habe meine jetzige Frau kennengelernt. Ich habe mein Leben in den Griff bekommen durch Träume, Glauben, Sport und eine liebende Frau.“
Katja und John lebten im selben Stadtteil. Katja musste immer an Johns Wohnung vorbei. Irgendwann haben sie auf der Straße miteinander gesprochen. John lud sie auf einen Kaffee ein. Sie lernten sich näher kennen und lieben. Lange hat John Katja nicht von seiner Vergangenheit erzählt. Selbst nach 15 Jahren wusste sie immer noch nicht alles, gesteht John. Er musste sich erst einmal mit sich selbst versöhnen und mit viel Scham klarkommen. „Der Schmerz wird nie weggehen“, ist sich John sicher. Seine Strategie: wenig nachdenken, immer nach vorn blicken und Gutes tun!
LAUFEN FÜR KINDER
Gutes tun – das macht John, indem er läuft. Beim Laufen sammelt er Spenden für Kinder, die wie er schlechte Voraussetzungen fürs Leben haben – mittlerweile sind dabei über 1,5 Millionen Euro zusammengekommen. Sein Markenzeichen bei den vielen Läufen, die er schon absolviert hat, ist sein Kilt, der Schottenrock, mit dem er sich selbst an seine eigene Kindheit und Herkunft erinnert. Johns Frau und auch ihre beiden erwachsenen Kinder unterstützen ihn in seinem Engagement. Sie haben den Verein „Sportler 4 a childrens world e. V.“ gegründet, in dem sich Johns Sohn Nico einbringt. Außerdem leiten John und seine Tochter Mandy die Stiftung „Eine Zukunft für Kinder“.
Neben seinem Engagement arbeitet John im Schichtdienst in der Papierindustrie. „Oft laufe und trainiere ich noch nach der Spätschicht oder sofort nach dem Aufstehen von der Nachtschicht. Dabei fallen mir immer wieder hilfsbedürftige Menschen auf und ich komme mit ihnen ins Gespräch. Oder ich helfe Obdachlosen oder sammel Müll auf. Gott scheint meine Geschichte tatsächlich umgewandelt zu haben in ein Nach-vorne-Schauen und Gutes-Tun für andere.“
EINE TIEFE BERÜHRUNG VON GOTT
Der christliche Glaube spielt für John McGurk eine zentrale Rolle. „Seitdem ich in Osnabrück bin, habe ich etwa zwanzig Träume von Gott geschenkt bekommen. Alle diese Träume habe ich aufgeschrieben. Alle Träume haben sich erfüllt und bewahrheitet. Ich empfinde eine tiefe Berührung von Gott in meinem Herzen und Leben. Das macht mich fähig zu lieben und zu geben.“ Groll oder Wut gegenüber Gott verspürt er nicht: „Ich empfinde zutiefst, dass Gott überhaupt keine Schuld an all dem Leid in meinem und unserem Leben hat. Auch nicht an dem, was in der Welt passiert. Er kann nur lieben. Die Menschen sind schuld, und er guckt traurig zu, was auf seiner Erde passiert …“
Sich selbst und seinen Nächsten zu lieben, ist für ihn das wichtigste Gebot. „Mich selbst lieben: Damit stellt mir Gott die größte Herausforderung mitten in den Weg. Wenn man in den ersten Jahrzehnten des Lebens immer wieder eingetrichtert bekommt, dass man nichts kann und ist, dann verkümmert die Selbstliebe. Mein Selbstbewusstsein und damit auch die Liebe zu mir selbst habe ich mir erkämpft. Meinen Nächsten lieben: Das sind die vielen Kinder, die Opfer von Armut, Gewalt und Lieblosigkeit sind. Ich gehe wachsam durch die Welt auf der Suche nach Menschen, denen ich helfen kann, und auf der Suche nach Verbündeten. Und ich finde sie. Immer wieder. An den ungewöhnlichsten Orten.“
Ines Schobert lebt mit ihrer Familie in Bad Essen bei Osnabrück. Seine ausführliche Lebensgeschichte hat John McGurk in dem Buch „Aufstehen, Kilt richten, weiterkämpfen“ aufgeschrieben, das im September bei SCM Hänssler erscheint.